August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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2. Evangelium Matthäi 5, 23 und 24

Samstag vor Palmarum. Die braungoldenen Knospen der Kastanien hatten ihre Hüllen gesprengt und streckten grüne, flaumige Spitzen der Sonne entgegen.

Samstag vor Palmarum. Die grünen Wiesen waren gelb gesprenkelt. Nußbaum und Linde, Ahorn und Buche trauerten noch mit kahlen Zweigen; scheinbar – denn auch in ihren schwellenden Spitzen wirkte die Kraft der steigenden Sonne. Violett leuchteten die frisch aufgerissenen Felder, eintönig klangen die Rufe der Pflüger und hallten wider von den Felswänden der benachbarten Höhen. Und am Saume der Wälder, zwischen dem toten Laube von gestern, schimmerten die weißen Sterne der Anemonen. Amseln lockten in der Tiefe, und da und dort, am Feldrain und auf gelbgesprenkelten Wiesen, hockten Kinder und pflückten Blumen.

Samstag vor dem Feste der Konfirmation. Auf dem Marktplatze murmelte wie ehedem der Röhrenbrunnen, und auf dem moosgrünen Sockel stand noch immer der dicke Graf und reckte sein vergoldetes Schwert zum Himmel empor. Sein bartloses Antlitz war seitwärts nach oben gerichtet, er hob das linke Bein auf der Fußspitze, als wollte er nun allsogleich ein Tänzchen beginnen, und auf den steinernen Locken seiner mächtigen Perücke saß der Hut, schief und vergnügt.

Vor dem Portale der Kirche hielt ein Leiterwagen, hochbeladen mit jungen Fichten, und behaglich wühlten die Mäuler des Kuhgespannes im vorgeworfenen Heu.

Halbwüchsige Mädchen kamen über den Markt, da eine, dort eine; jede von ihnen trug mit beiden Händen sorgsam einen Blumenstock, und alle streiften sie umständlich ihre 209 Schuhe an den zertretenen Grabsteinen der Freitreppe ab, ehe sie flüsternd die Kirche betraten. Und auf der obersten Stufe wartete der uralte Küster und schnüffelte behaglich, wenn dann und wann der Duft von heißem Schmalz und knusperigen Küchlein aus den hohen Häusern herüber kam.

Ringsum kehrten die Mägde das Pflaster. Am Brunnen spielten die Kinder mit Schussern. Da und dort saß einer alt und wintermüde auf der Hausbank und wärmte sich im Lichte der allbarmherzigen Sonne. Zartbegrünte Sträucher lugten zwischen den Häusern über graue Gartenmauern. Amseln schluchzten in den Gärten. Finken schmetterten, Stare trieben Unfug auf lichten Zweigen, Katzen strichen an den Mauern hin und äugten lüstern empor zu den geflügelten Sängern.

Ein gelber Postwagen rumpelte im Staube der Straße heran und hielt vor dem finstern Tore der Stadt. Die müden Pferde schnauften hörbar, indes der Torschreiber durch seine Hornbrille ernsthaft die Pässe prüfte.

Ein königlicher Schreiber. Denn die Grafschaft von einstmals war aufgegangen in einem Königreich von Bonapartes Gnaden.

Das Posthorn erklang in der engen Gasse, die Räder rasselten, und die Leute kamen an Fenster und Türen.

Alt und Jung wartete vor dem Fetten Ochsen. Umständlich entstiegen Männlein und Weiblein dem gelben Bauche des Wagens, reckten und dehnten ihre steifen Glieder. Ruf und Antwort schwirrte durcheinander. Hier lagen sich zwei in den Armen, dort schleppten Kinder das Felleisen eines Gastes über den Marktplatz.

Abglanz des kommenden Festes spiegelte sich auf manch einem glatten Antlitze, und zwischen manchen Runzeln war heimlich zu lesen – Palmarum.

Drunten aber, vor dem Städtchen, hielt in Reih und Glied ein Reitertrupp. Der linde Hauch des Frühlings spielte 210 mit den Schweifen der nickenden Rosse und mit den Schweifen, die von den Helmkämmen herabhingen.

Ein Offizier ritt die Reihen entlang und schalt auf die Soldaten hinein.

Kinder hockten unter dem kahlen Birnbaum nahe dem Graben und ergötzten sich an dem Anblick der bunten Uniformen, der funkelnden Helme und wehenden Schweife.

Die Kinder verstanden nichts von den gellenden Scheltworten des Offiziers. Aber sie lachten über den beweglichen Mann auf dem flinken Pferde und über die starren Soldaten in Reih und Glied. Und ein Mägdlein begann mit feiner Stimme zu singen:

»Schimpfen, schimpfen tut nit weh –«

Und hellauf sangen die andern mit:

»Wer mich schimpft, hat Läus und Flöh.«

Es war weit hinüber vom Birnbaum zum scheltenden Franzosen, und die Stimmlein zerflatterten in der Luft. Er hätte wohl auch gar nicht recht verstanden, was die deutschen Kinder ihm zum Spotte sangen.

Französische Reiter waren's; die übten vor dem deutschen Städtlein im Angesichte der Grafenburg. Soldaten des Kaisers der Franzosen.

Samstag vor Palmarum. Und man trug die duftenden Fichtenbäumchen und die Blumenstöcke in die dunkle, winterkühle Kirche und schmückte den Altar und die Säulen. Auf den sonnigen Dächern gurrten die Tauben, und hoch oben im Kirchturm begann eine Glocke mit tiefer Stimme zu singen: Palmarum, Palmarum.

*

Über den Graben des Bergschlosses führte wie ehedem eine Brücke. Aber es war nicht mehr die Zugbrücke von damals, die alte mit den verrosteten Ketten, sondern eine feste Brücke, aus Steinen gemauert.

211 Im offenen Torwege, zwischen den finstern Flankentürmen, standen zwei Knaben, ein schmächtiger, blonder, und ein großer, dunkler.

»Wollen wir wieder hineingehen?« fragte der Ältere.

»Entschuldige, Hanskarl, ich muß noch auf Gerhard Frey warten.«

»Gerhard Frey? Wer ist das?«

»Nur ein Bürgerlicher,« sagte der Grafensohn in entschuldigendem Tone. »Er ist seit einem Jahre auswärts auf dem Gymnasium. Aber wir sind zusammen unterrichtet worden und werden morgen zusammen konfirmiert. Gelt, sei halt recht freundlich gegen ihn – er – er kann ja nichts dafür. Seine Mutter war übrigens eine Geborene.«

»Also ein Bastard. Ei, wenn mir der Bastard gefällt – warum nicht?«

»Er ist gewiß kein Bastard, er ist der Sohn unseres Doktors, ich bitte dich! Aber sieh, da kommt er auch schon.«

Und eilig ging das Grafenkind dem andern entgegen.

»Lieber Gerhard, wir haben heute früh Besuch bekommen,« flüsterte er. »So eine Art Vetter. Brocken heißt er.«

»Von dem hast du mir ja noch nie erzählt?«

Altklug raunte das Gräflein: »Ich hab' ihn noch gar nicht lange, den Vetter. Weißt, es war zwischen unseren Familien nicht alles so recht in Ordnung. Aber jetzt sind das vergangene Dinge. Die Brocken führen ja auch unsern Namen gar nimmer und sind nur Barone. Da muß man doppelt freundlich mit ihnen sein. Denn es ist doch recht traurig für die armen Verwandten.«

Gerhard lachte hell auf: »Wie freundlich mußt du dann erst mit mir sein – ich bin ja nicht einmal ein Baron.«

Der Grafensohn war ganz rot geworden. Dann brachte er stotternd heraus: »Ich bitte dich, Gerhard, ich meine, wenn man Graf sein könnte und ist nur Baron –«

212 Gerhard lachte noch immer. »Ja dann ist das allerdings zum Zahnwehkriegen.«

»Also gelt, sei recht freundlich mit ihm. Er ist ja auch zwei Jahre älter als du.«

»Wenn er mir gefällt – warum nicht?« kam die sorglose Antwort zurück. »Übrigens, kannst du dir denken, weshalb ich komme, Johann?«

»Warum denn?«

Halb lachend, halb ernsthaft rief Gerhard: »Wir werden doch morgen konfirmiert, und du weißt, ich habe dich manchmal geprügelt –«

»Du bist ja auch älter und viel stärker als ich,« meinte Graf Johann entschuldigend.

»Umso schlimmer. Ich habe dich aber auch oft einen Schafskopf geheißen –.«

»Das hab' ich dir wahrhaftig nicht nachgetragen,« sagte der Grafensohn und schlug treuherzig in die dargebotene Hand ein.

»Na, dann ist mir's lieb, Johann. Denn du weißt ja –!«

»Matthäi fünf!« rief der andere und nickte verständnisvoll. »Aber du mußt mir fein auch alles verzeihen – gelt?«

»Wo steht's geschrieben?« forschte Gerhard.

»Im fünften Kapitel, mehr weiß ich auch nicht.«

»Na ja, deswegen bin ich also gekommen.«

»Vergib auch du alles Böse, was ich dir angetan habe, Gerhard.«

»Du hast mir nie 'was Böses angetan.«

»O doch, Gerhard, in Gedanken. Ich bin nämlich sehr adelsstolz.«

»Das Vergnügen lass' ich dir, Johann.«


Sie standen voreinander, der Doktorssohn und Hanskarl Freiherr von Brocken, und neben ihnen stand der schmächtige 213 Grafensohn und blickte fast ängstlich von einem zum andern, ob sie auch freundlich miteinander wären.

Brocken hielt das Haupt sehr hoch und bemühte sich, von oben herunter zu fragen: »Sie werden morgen konfirmiert?«

Gerhard hob das Kinn womöglich noch höher und stieß sein Ja heraus.

Ein paar Augenblicke sahen sie einander fast feindlich ins Gesicht. Wortlos tat Gerhard dem Baron zu wissen: Dich mag ich nicht. Und wortlos gab dieser zurück: Ganz meine Empfindung.

Brocken wandte sich ab. »Johann, was bedeutet das eingemeißelte Kreuz in dem Stein hier?«

Der Grafensohn war froh, daß er etwas sagen konnte, und begann eifrig zu erklären. Gerhard stand abseits von den beiden, kreuzte die Arme und hörte gelangweilt zu. Die alte Sage von dem Mordkreuz, die wußte er doch schon lange.

»Fünfhundert Jahre ist's her?« sagte Brocken lachend. »Was die Leute doch dumm gewesen sind vor fünfhundert Jahren. Wegen des Erbes? Ei, das kann ich verstehen. Aber welch ein Narr, der seinen Bruder da im offenen Torweg ersticht!«

Der dunkle Knabe hatte seine Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, das hübsche Gesicht war verzerrt. »Warum hat er ihn nicht trunken gemacht und ihm dann das Blut eines bestimmten Fisches in die Adern gespritzt? Wozu das Aufsehen?«

»Fischblut?« Der Grafensohn machte ganz entsetzte Augen. »Wozu denn?«

»Jawohl Fischblut, aber es muß von einem ganz bestimmten Fische sein; dann frißt es das Menschenblut, und der Mensch ist verloren.«

Der Grafensohn faltete die Hände. »Ist das dein Ernst, Hanskarl?«

214 Da schüttelte sich der andere, lachte übers ganze Gesicht und sagte in herzlichem Tone: »Du armer Kerl, jetzt hab' ich dich wohl gar noch erschreckt?«

Johann atmete auf: »So 'was Schreckliches hab' ich halt nie noch gehört.«


Gerhard kam vom Schlosse zurück. Er trat aus der engen Kirchgasse und ging am Brunnen vorbei quer über den Platz. Langsam stieg er die Freitreppe empor.

Er trat in den Hausflur. Es war still im Hause. Hinten im Garten aber sang eine Amsel ihr bewegliches Lied.

Er sprang nun hinauf über die breiten, blinkweißen Treppen und öffnete seine Stube. Er nahm seine alte Bibel vom Bücherbrett und legte sie auf das grüne Arbeitstischlein am offenen Fenster. Im Wasserglase neben dem Tintenfasse stand ein Frühlingsstrauß: Silberweiße Weidenkätzchen, braune Haselnußblüten, blaue Leberblumen.

Er saß vor dem geschlossenen Buche und blickte mit leeren Augen über Buch und Blumenstrauß auf die knospenden Bäume des Gartens.

Endlich murmelte er seufzend: »Matthäi fünf.« Hastig schlug er das Buch auf, daß die vergilbten Blätter die Haselnußblüten streiften. Und goldener Blütenstaub fiel zwischen die Blätter der Bibel hinein. Mit ein paar Griffen hatte er das Kapitel und las murmelnd: ›Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas gegen dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor und versöhne dich mit deinem Bruder.‹

›Na ja!‹ Er sprang auf, griff nach seiner Mütze und sah nun aus, als wollte er kopfüber ins kalte Wasser springen. Und er ging die Treppe hinunter, zu handeln nach der Vorschrift des fünften Kapitels im Evangelium Matthäi.

215 Zunächst war es aber kein Bruder, sondern eine Schwester aus der Gemeinde, der sein Besuch galt. Er hatte nicht weit zu gehen, nur um die Ecke in die Bachgasse, drei Häuser weit. Doch er brauchte lange Zeit, bis er vor ihre Haustüre kam. Im Geschwindschritt ging er vorbei die Gasse hinunter, gab sich einen Ruck, machte Kehrt und ging langsam zurück, wieder bis zur Haustüre und dann im Geschwindschritt hinaus auf den Marktplatz. Mit scheuen Blicken sah er sich um. Aber es waren nur wenige Menschen unterwegs. Weit drüben an der offenen Kirchentüre hielt noch immer das Gespann. Die Kühe hatten sich gelegt und kauten behaglich. Mit einem Ruck wandte sich Gerhard, ging zurück in die Gasse bis an die geschnitzte Türe und zog den Messinggriff der Klingel. Ein tiefer Glockenton klang aus dem Hause, und mit leisem Krachen öffnete sich die schwere Türe. Vieles kam ihm in den Sinn, als er die breite Treppe emporstieg. Es war ihm, als ginge die Frau, die er Mutter nannte, neben ihm und spräche eifrig auf ihn herab. Und jetzt mußte sie doch das Taschentuch nehmen und noch einmal im dämmerigen Stiegenhaus über sein Gesicht wischen –. Aber nein, er war heute ganz allein.

Er stand droben, und es war ihm, als röche es nach Weihnachtsbaum und Weihnachtsäpfeln, nach Lebkuchen und Honig – aber nein, es war ja nicht Weihnachten, es war Samstag vor Palmarum, und draußen strichen die Katzen und äugten empor nach singenden Vögeln. Er verzog das Gesicht und schüttelte sich. Nein, alles war anders, und auch küssen würde sie ihn nicht mehr, die gute, alte Tante Baronin, küssen mit ihren feuchten, kühlen Lippen, vor denen er sich einst immer so gefürchtet hatte, trotz Weihnachtsäpfeln und Lebkuchen.

Er klopfte an der weißlackierten Türe und betrat das hohe Gemach.

216 Sie saß am Fenster und stickte. Nun wandte sie das feine, schmale Gesicht und fragte: »Wer ist's?«

Er machte seine schönste Verbeugung und sagte mit trockener Stimme: »Der Gerhard, Frau Tante.«

Da stand sie auf und kam näher, hob das Glas an die kurzsichtigen Augen und ließ es wieder sinken. Ihr seidenes Kleid rauschte, als ginge sie zum Hofball, sie wiegte sich in den Hüften, als träte sie an zum zierlichen Menuett. Ganz nahe kam sie heran. Er aber trat zurück.

»Une visite rare. Aber bitte, Mon cher ami, prenez place.«

Mit anmutiger Handbewegung wies sie auf einen hochlehnigen Stuhl und schwebte selber zu dem seidenbezogenen, goldbronzierten Ruhebette.

Er saß ihr gegenüber, hielt seine Mütze krampfhaft in den Fäusten und sprach kein Wort.

»Und warum kommt mein lieber, junger Freund?«

»Wegen Matthäi fünf, dreiundzwanzig und vierundzwanzig.«

»Wegen Matthäi fünf? Aber was steht denn dort, lieber Gerhard?«

Er sagte die ganze Stelle auf. Dann blickte er wieder vor sich hin.

Sie schüttelte das gepuderte Haupt. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ei freilich, mon cher, du hast Gewissensbisse, weil du nun schon ein halbes Jahr nicht bei mir gewesen bist.«

Er schüttelte auch das Haupt und sagte sehr bestimmt: »Nein.«

»Es reut dich also nicht?«

»Kein bissel reut's mich.«

»Ja, warum dann also?«

Er stand auf und griff in eine der Hosentaschen, die sich über seinen Schenkeln bauschten. Zuerst zog er sein 217 Taschentuch heraus, dann kam ein Klappmesser, eine Rolle Bindfaden, ein kleiner Maßstab und endlich ein ledernes Beutelchen. Er hielt nun alles in beiden Händen, wurde rot und sah hilfesuchend auf den schönen Tischteppich. Dann, kurz entschlossen, legte er die ganze Herrlichkeit mit Ausnahme des Beutels auf einen Stuhl, zog den Beutel an den Riemen auseinander und legte ein Geldstück auf den Tisch vor die alte Dame.

»Hier!« sagte er und begann seine Schätze umständlich in die Tasche zurückzupacken.

»Aber, mon cher ami, was soll das?«

»Wegen Matthäi fünf,« sagte er halb trotzig, halb kläglich.

»Dreiundzwanzig und vierundzwanzig,« ergänzte sie lächelnd. »Nur ist's mir halt immer noch nicht ganz klar.«

»Muß ich Ihnen das alles haarklein erzählen?« platzte er heraus.

»Wenn ich's verstehen soll, dann wird nichts anderes übrig bleiben, mon cher

»Ich dächt' halt, Sie nehmen die vierundzwanzig Kreuzer und sagen, daß Sie mir alles verzeihen, und ich mach', daß ich weiter komm'.«

»Dann nimm du nur auch das Geld wieder mit.«

»Aber so viel ist's gewiß wert gewesen.«

»Wert gewesen – was denn?«

»Nu die Pfeffernüss' und der Marzipan und die Lebkuchen, die ich Weihnachten vor zwei Jahren von Ihnen drei Stunden weit hab' tragen sollen und hab' doch unterwegs so Hunger gekriegt und hab' ganz gewiß um vierundzwanzig Kreuzer gegessen und nur noch ganz wenige Lebkuchen zu Ihrer Freundin gebracht.«

Sie schlug die Hände zusammen, lachte und schüttelte sich. »Damals, wie du mit dem Grafen Johann gewandert bist?«

218 »Mir haben Sie's zu besorgen gegeben und nicht dem Johann.« Er sah trotzig aus und blickte an ihr vorüber.

»Ist das nun auch der Mühe wert?« Sie lachte noch immer.

»Wenn's mich aber doch so sehr gedrückt hat all die Zeit her?«

»Daß du seit einem halben Jahr nicht mehr zu mir gekommen bist, gelt, das hat dich eigentlich gedrückt und hergetrieben?«

»Das genaschte Zuckerzeug hat mich gedrückt und hergetrieben.«

»Ei, du bist aber doch ein ganz bewußt unhöflicher Bub!« Sie sah nun streng auf ihn herüber.

»Ich muß doch sagen, was mich gedrückt hat?«

»Gerhard, gelt, morgen wirst du konfirmiert?«

»Deswegen bin ich doch da! Sonst hätt's vielleicht noch Zeit gehabt.«

Wieder schlug sie die Hände zusammen, blickte zur Decke empor und schüttelte das Haupt.

»Unverbesserlich!«.

Sie saßen wortlos voreinander, und er begann sich zu wundern.

»Ich vermute, daß du sobald nicht mehr zu mir kommen wirst,« meinte sie endlich.

Er schwieg.

»Deshalb heißt's die Gelegenheit ergreifen und dir eine Regel fürs ganze Leben mitgeben. Also merke dir: Daß du das Backwerk aufgegessen hast –«

»Nicht ganz – etliche Lebkuchen waren noch übrig.«

»– also, bis auf etliche Lebkuchen aufgegessen hast, das war ein dummer Streich, und es ist kleinlich, daß du das jetzt noch hervorkramst.« Sie faltete die Hände und spitzte die Lippen. »Streiche, Eseleien, Jugendsünden, das alles 219 vergeben wir Frauen dem starken Geschlecht – aber als Todsünde rechnen wir ihm an jede Unhöflichkeit.«

Er blickte ihr forschend ins Gesicht, als müßte er sogleich ergründen, ob das ihr Ernst sei.

»Jede Unhöflichkeit,« wiederholte sie. »Und so hättest du vorhin sofort auf meine Wendung eingehen, hättest das andere fallen lassen und deine Unhöflichkeit bedauern sollen.«

»Wenn ich sie aber nicht bedauert habe?« erkundigte er sich.

»Dann hättest du dir wenigstens den Anschein geben müssen.«

»Ja, dann hätte ich aber doch geheuchelt und gelogen?«

»Gelogen!« Wieder schlug sie die Hände zusammen. »Wer wird so grobe Wörter gebrauchen, Wörter von der Straße! Eine gewisse Glätte im gesellschaftlichen Verkehr ist doch keine Heuchelei, keine Lüge! Glätte ist Wohltat. Hörst du?«

Er saß und ließ die Blicke verzweiflungsvoll umherwandern, als wäre er ein gefangener Falke und säße auf dem Stänglein im Käfig. Endlich kam ihm ein erlösendes Wort, und hastig brachte er's heraus: »Das ist mir zu hoch.«

»Weiter, mon cher!« Nun lächelte sie gar süß. »Wenn die Unhöflichkeit ein todeswürdiges Verbrechen ist, dann ist es auch ein schweres Vergehen, in Gesellschaft allzulange bei einem Thema zu bleiben.«

»Man muß aber doch alles fein zu Ende besprechen?« getraute er sich einzuwerfen.

»Zu Ende besprechen? Fi donc! In guter Gesellschaft muß gar nichts zu Ende besprochen werden. Aber damit wenigstens wir jetzt zu Ende kommen, mon cher, da nimm deinen Vierundzwanziger und« – sie zog einen Ring vom Finger – »das Kleinod hier, das ich längst für diesen Tag bestimmt hatte.«

Sie erhob sich und kam um den Tisch herum. Da stand auch er auf und wich zurück.

220 »Und weil doch für alles in der Welt Sühne sein muß« – sie schwebte rauschend an ihn heran, breitete die Arme aus und hob sich auf den Fußspitzen – »so gib mir heute den letzten Kinderkuß, Gerhard!«

Angstvoll wich er noch weiter zurück. »Warum denn?«

»Zur Sühne für all deine Unhöflichkeit –!« Sie verbesserte sich mit spitzen Lippen: »Nein, zur Sühne für das Zuckerzeug, Gerhard.«

Noch weiter wich er zurück und stieß angstvoll heraus: »Aber dafür hab' ich ja doch schon den Vierundzwanziger bezahlt!«

Lächelnd hob sie den Finger: »Matthäi fünf!«

Da wandte er sich, riß die Türe auf und rief mit halberstickter Stimme: »Davon steht nichts im Evangelium Matthäi, kein Wort.«

Und in großen Sätzen sprang er die Treppe hinunter und ließ den Vierundzwanziger und den goldenen Ring und einen üblen Leumund bei seiner mütterlichen Freundin zurück.

Er machte geschwinde Schritte und schielte zuweilen über die Schulter, als käme sie mit leisem Rauschen hinterdrein geschwebt und wollte sich den letzten Kinderkuß von ihm holen.

Bis unters Bachtor lief er. Dort machte er Kehrt. Matthäi fünf befahl ihm noch einen zweiten schweren Gang. Und diesmal war's wirklich ein Bruder. –

Konrektor Knorzius stand im grünen Schlafrocke an seinem Pulte, und sein steifes Zöpflein hing würdig über den roten Halskragen hinab. Graue Wolken stiegen zugweise aus dem großen Kopfe seiner Pfeife durch das lange Rohr und quollen stoßweise aus dem zahnluckigen Munde, brandeten gegen die Wände und gegen die Fensterscheiben, legten sich als dichte Schwaden unter die niedrige Decke, fielen lautlos herab auf die Möbel und kämpften siegreich gegen das 221 goldene Licht des Nachmittags. Das Stiegenhaus widerhallte vom Kreischen der Bürste, und die Treppen troffen von Wasser. Wie auf einer seligen, wolkenverhüllten Insel hauste der Schulmann in seinem Museum.

Es pochte, und auf seinen herrischen Ruf kam der Knabe herein.

Der Alte sah von seinem Buche auf; eingehüllt in den Qualm stand die Gestalt an der Türe.

»Generis masculini oder feminini?« rief Knorzius von seinem Pult herüber.

»Generis masculini, domine conrector reverendissime,« kam die Antwort zurück.

Und nun begann die Unterhaltung durch den Nebel: »Quid tibi vis und warum ist man gekommen?«

»Wegen Matthäi fünf, Vers dreiundzwanzig und vierundzwanzig.«

»Man drücke sich schärfer aus, lateinisch oder deutsch.«

»Herr Konrektor, ich bin der Gerhard Frey und –«

»Man hat ihn längst erkannt.«

»– und werde morgen konfirmiert.«

»Man ist meiner Schule entwachsen und hält sich procul penatibus auf fremdem gymnasio auf – warum kommt man noch zu mir?«

»Herr Konrektor – ich – Matthäi fünf – ich hab' 'was auf dem Gewissen.«

»So lasse man hören!«

»Vor zwei Jahren im Dezember, Sie werden's ja selber kaum mehr wissen –«

»Das Gedächtnis des Lehrers ist gut, man täusche sich nicht.«

»Da hat man Ihnen ein Zwetschgenmännle auf den Katheder gepflanzt.«

Der alte Herr hob einen Flügel seines Schlafrockes, zerteilte mit kraftvollen Schlägen den Rauch und kam langsam herüber.

222 Der Knabe wäre auch hier gerne zurückgewichen; aber es ging nicht, er stand schon hart an der Türe.

»Man setze sein Bekenntnis fort!«

»Das Zwetschgenmännle hab' ich Ihnen auf den Katheder gepflanzt; aber es ist mir heute sehr leid, und ich tät's ganz gewiß nimmer.«

Der alte Herr stand nun dicht vor ihm. In der Linken hielt er die Pfeife und paffte dicke Rauchwolken, in der Rechten hielt er den Schlafrockzipfel und zerteilte noch immer den Rauch. »Also man hat mir, dem würdigen Lehrer, eine schwarze Mißgestalt aus gedörrten, an einem, den göttlichen Bau des menschlichen Leibes kläglich nachahmenden Drahtgestelle aufgereihten Zwetschgen auf den Katheder gestellt? O, ich erinnere mich noch sehr wohl. Und man bekennt sich zu diesem Attentate? Weiter im Text!«

»Ich bitte Sie um Verzeihung, es ist mir leid, Herr Konrektor.«

»Man bekenne weiter! Denn jener Nachmittag war ausgezeichnet vor vielen andern durch die Frechheit der Schüler.«

»Ich begreife das alles heute gar nicht mehr,« fuhr der Knabe treuherzig fort. »Ich war halt doch noch sehr jung und –«

»Man bleibe bei der Sache! Es ist damals noch ein weiteres Attentat verübt worden.«

Der Knabe seufzte ein wenig. »Ich – habe – auch mit – Schrot geschleudert.«

Der Alte paffte wütend. »Jawohl, man hat mich auch mit Schrot angeschossen. Und weiß man, wohin –?«

Er ließ den Rockzipfel fallen und fuhr mit spitzem Zeigefinger an seine Nase. »Hierher hat man den würdigen Lehrer geschossen. Und, wenn es zu fragen erlaubt ist, womit hat man das Geschoß zu schleudern sich erfrecht?«

»Wir hatten am Tag zuvor einen Gansbraten gegessen, und ich hatte mir den Springer –«

223 »Springer, was ist Springer?«

»Das Halsbein, Herr Konrektor. Man schabt es ab und macht eine Katapulte daraus.«

Aufmerksam horchte der alte Herr und vergaß für kurze Zeit das Paffen. »Und wie wird solches bewerkstelligt?«

Der Knabe verlor die Scheu und erklärte, wie man die beiden Enden des Springers durch eine Sehne verbinde, in diese Sehne das Wurflöffelchen eindrehe und –.

Die Wißbegierde des Alten war befriedigt, er sog wieder kräftig an seinem Rohre und rief zwischendrein zornig: »Dann also – hat man – seinen würdigen – Lehrer auf die – Nase geschossen!«

»Herr Konrektor, es ist mir gewiß recht schwer geworden, Ihnen das alles zu beichten, und ich bitte Sie herzlich –«

»Geschossen. Und dann hat man sich im Jahreszeugnis ein lobenswürdiges Betragen bestätigen lassen und hat sich ins Fäustchen gelacht – he?«

»Nein, es hat mich immer gedrückt, obwohl wir ja damals alle, durch die Bank, geprügelt worden sind.«

»Ins Fäustchen gelacht und ist also zum Heuchler« – der alte Herr paffte mächtig – »und zum Duckmäuser geworden.«

»Herr Konrektor, zum Heuchler bin ich noch niemals geworden und werd's auch nie.«

»Und jetzt kommt man und sagt's dem alten Lehrer ins Gesicht. Dann aber geht man hin und prahlt damit vor seinen saubern Freunden – eigenhändig hab' ich's dem Alten unter die Nase gerieben, und nichts hat er mir tun können.«

Der Knabe war blutrot geworden. »Aber Herr Konrektor, ich werde doch morgen konfirmiert, und meine Schläge habe ich damals auch schon redlich gekriegt – und ich bitte ja nur um Verzeihung.«

224 »Jawohl, daß man noch weiter prahlen könnte: Den Konrektor hättet ihr sehen sollen, weich ist er geworden wie ein Handtuch, und die Pfote hat er mir geschüttelt und nichts hat er gesagt, als – Jugendtorheiten. Ei, man ist doch ein frecher Junge, und nur schade, daß der alte, gute Lehrer das alles heute erst merkt.« Er hob drohend die Faust: »Mag der blaue Himmel wissen, was man dem würdigen Lehrer noch alles angetan hat in jenem Jahre!«

»Ich werde morgen konfirmiert, Herr Konrektor, und ich sage Ihnen, ich bin mir weiter nichts bewußt.«

»Und nun lügt er mich auch noch an!« kreischte der Alte.

Da griff der Knabe nach rückwärts, packte die Klinke und riß die Türe auf. Wortlos entwich er.


Er hatte sich's viel einfacher vorgestellt. Aber es ist wirklich nicht so einfach, mit den Menschen zu handeln nach Matthäi fünf, Vers dreiundzwanzig und vierundzwanzig. –

Als er das Giebelzimmer betrat, saß der Bruder vor dem Tischlein und las in dem Bibelbuche.

Ernsthaft erwiderte er den Gruß des Knaben, schloß das Buch und klemmte sorgsam die Messingspangen ein. Er stand auf, trat wuchtig vor Gerhard, legte die Hände schwer auf seine Schultern und sah ihm tief in die Augen: »Bist du denn auch bereit, Kleiner?«

»Ich hoffe.« Der Knabe vermied die Augen des andern und schaute über dessen Schultern hinaus auf die lichtgrünen Bäume des Gartens.

»Ich hoffe –?« Der Student wandte sich ab und trat ans Fenster. »Ja stehst du denn auch ganz fest in deinem Glauben?«

»Die Zweifel kommen und gehen und kommen wieder, Karl.«

Der Große stampfte. »Kennst du den Reim – Zweifel – Teufel?«

225 »Aber wie kann ich den Zweifeln wehren? Sie sind da und lassen sich nicht verscheuchen« – er lachte – »wie die Spatzen vom Kirschbaum.«

Der Große stampfte wieder. »Keine Späße in so ernsten Dingen! Du mußt die Zweifel töten. Und fest mußt du glauben, kein Tüttelchen darfst du wegdenken vom ganzen Kredo, dann erst kannst du würdig zum heiligen Mahle gehen. Hat man dir das nicht gesagt?«

Gerhard setzte sich an das Tischlein und blickte auf seine gefalteten Hände. »Hast du niemals gezweifelt, Karl?« Er hob die Augen groß und klar zum Bruder empor.

Der Student seufzte und wandte sich ans Fenster. »Hätte ich solche Angst um dich, wenn ich unser trotzig Fleisch und Blut nicht kennete? Aber weißt du was? Wir wollen heute abend vor dem Schlafengehen noch recht heftig miteinander beten.«

Der Knabe schwieg zunächst. Dann sagte er: »Wenn ich bete, dann bete ich lieber leise und ganz allein.«

»So bete, Gerhard. Aber bete mit Ernst. Ich könnte dir einen nennen, wenn der so recht ernsthaft betet, dann windet er sich zuletzt auf dem Fußboden und ringt die Hände und beißt sich die Lippen blutig, speit dem Teufel das Blut entgegen und betet, betet, betet, ob er nicht endlich den Himmel mit seinem Schreien zerreiße.«

»So habe ich noch nie gebetet.« Der Knabe schüttelte heftig den Kopf. »Aber sag an, zerreißt er den Himmel auch wirklich mit seinem Gebete?«

»Ja, wenn man das wüßte! Oft freilich ist es ihm zu Mute, als stünde der Himmel offen, und geblendet schließt er die Augen. Dann aber ist wieder alles finster wie die höllische Nacht.«

»Du armer Bruder!«

»Ich?« Der Student fuhr herum. »Wer sagt dir, daß ich das bin?«

226 »Ich habe dich schon so beten hören, Karl.«

»Dann bedrohe ich dich, sage niemand etwas von dem Geheimnis meiner Seele, das du erlauscht hast.«

»Wofür hältst du mich denn eigentlich?« fuhr der Kleine auf.

»Für Fleisch und Blut.« Der Große wandte sich wieder ans Fenster.

»Sag an, Karl,« begann der Gymnasiast nach einer Weile schüchtern, »wie oft bist du nun auf Mensur gestanden?«

»Achtmal in drei Semestern,« antwortete der Student. »Aber warum das?«

»Ich verstehe nicht, wie du so streng glauben und so feurig beten und so furchtbar raufen kannst.«

Der Große schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er in feierlichem Tone: »Wenn ich meine eigene Ehre auf der Mensur suchte, wäre ich gerichtet. Aber dreimal habe ich Gottesleugner und Flucher vor die Klinge gefordert, zweimal bin ich von solchen gefordert worden, die ich wegen ihres liederlichen Wandels getadelt hatte, und dreimal bin ich losgegangen, weil einer den Leibhaftigen und seine Taten gelobt hatte.«

»Den Leibhaftigen und seine Taten?« Der Gymnasiast machte große Augen. »Aber Bruder, gibt's denn so verworfene Studenten?«

»Wenn ich den Leibhaftigen nenne, so ist's natürlich der eine, dessen Namen ich nur dann zwischen die Zähne brächte, wenn ich ihn zu zerreißen vermöchte.«

»Der Bonaparte, ich hab's!« rief Gerhard und klatschte in die Hände.

»Schweig und nenne den Namen nicht, wenn ich dabei bin!« Karl stampfte und hielt sich die Ohren zu. »Also weißt du, warum ich achtmal auf Mensur gestanden bin. Und ich betrachte es als eine besondere Gnade Gottes, daß ich noch 227 keinen ernsthaft verwundet habe, obwohl ich immer aufs Herz stoße.«

»Wäre es nicht vielleicht besser –?« Der Knabe hielt inne.

»Was?«

»Besser, du stießest nicht aufs Herz? Dann bedürftest du bei deinen Händeln wohl nicht der besonderen Gnade Gottes,« vollendete Gerhard schüchtern.

»Und wäre ein Heuchler und Komödiant,« sagte der Student mit harter Betonung. »Aber das sind die schwersten Kämpfe nicht.« Er lachte verächtlich. »Wehe dem, der nicht Tag und Nacht gegen sich selbst auf der Mensur steht! Und wie schwach ist man doch gegen das eigene Fleisch und Blut. Nicht im gewöhnlichen Sinne, nein, im höheren Sinne, Kleiner.«

»Du tust und denkst überhaupt nichts im gewöhnlichen Sinne,« sagte Gerhard und blickte fast scheu auf den Bruder hinüber.

»Ein Sohn des alten Frey muß sich seine Ziele höher stecken als viele andere Menschen,« bemerkte der Student. Dann ging er an das Tischlein, nahm ein Paket, löste die Papierhülle und sagte feierlich: »Du mußt nun auch immer ernster werden und mußt dir deshalb vor allem fortan Rechenschaft über deine Handlungen und Empfindungen ablegen. Und siehe, dazu habe ich dir dieses Buch in Leder binden lassen.«

»Ein Tagebuch!« Der Knabe griff mit beiden Händen nach dem Geschenke. »Und so schön, mit unserm eingepreßten Wappen. O Bruder, wie bist du so gut.«

Er schlug das Buch auf und las halblaut die Inschrift des ersten Blattes: »Fromm, tapfer und wahr!«

»Ich danke dir.«

»Fromm, tapfer und wahr! Danach strebe du mit allen deinen Kräften, Gerhard,« sagte der Student und begann auf und ab zu gehen. Er hatte die Hände geballt und hielt 228 die Arme steif ab, als wollte er eine Last fortschieben. »Tapfer – das ist nicht schwer, das versteht sich von selbst für einen Sohn vom alten Frey. Wahr – das ist schon nicht so leicht; aber da schau dir nur immer den Vater an. Fromm – das ist das Schwere; denn –.« Er blieb neben dem Bruder stehen und flüsterte: »– da haben wir keinen Mann zum Vorbild, sondern nur eine Frau.«

Er begann wieder auf und ab zu gehen. Nach einer Weile rief er schmerzlich: »Und weißt du, woher all unser Elend kommt? Von der Gottlosigkeit. Weil wir Deutschen uns von Gott abgekehrt haben, sind uns die Fremden zu Herren gesetzt, klirren die Feinde in unsern Gassen, drücken uns die Eroberer an die Wände. Weil wir nichts mehr wissen wollen von der ewigen Heimat und den Himmel auf Erden suchen, ist unsere irdische Heimat zum Tanzplatz des Teufels geworden.« Er knirschte mit den Zähnen, er schüttelte die Fäuste. »Den mußt du hassen, sag' ich dir, den Teufel, der aufgestiegen ist aus dem Pfuhl der Hölle, zu knechten die freien Völker, hassen von ganzer Seele, von ganzem Gemüte, im Wachen, im Schlafen, bis zu seinem oder zu deinem letzten Atemzug – Amen.«

»Aber darf denn der Christ einen Menschen so grimmig hassen?« fragte Gerhard.

»Ich sage dir ja, er ist kein Mensch, er ist der Leibhaftige – also darfst, also mußt du ihn hassen; denn das ist ein Gebot der Religion.«

Noch einmal kam der Student nahe heran und blickte dem Bruder traurig in die Augen: »Willst du nicht doch heute abend mit mir beten? Ich hatte mir's schon so schön ausgedacht.«

Der Knabe schluckte heftig: »Alles, nur das nicht – vergib mir.«

»Wie du willst. Ich bin der Letzte, der dich zum Beten zwingt.« 229

 


 


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