August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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7. Auf Ehre

Graf und Gräfin waren scharmant und gnädig gegen ihn. Schon während des Essens. Dann aber besonders, als man im Arbeitszimmer des Grafen zu dritt beim Kaffee saß. Gerhards Augen leuchteten, als er mit beredten Worten die Vorzüge seiner Gesellschaft ins rechte Licht setzte, und Freundschaft, Tapferkeit und Tugend als den granitenen Unterbau ihres stolzen Gebäudes pries. Graf und Gräfin waren schließlich selbst geneigt, den Eintritt ihres einzigen Sohnes gerade in diese Gesellschaft für ein besonderes Glück zu erachten.

»Sie wissen, daß Ihren unvergeßlichen Vater und mich vorzeiten das gleiche Ordenskreuz geschmückt hat und zwar auf derselben Hochschule, die nun unser Johann beziehen soll?« fragte der Graf nicht ohne Rührung.

Gerhard wußte es.

»Und ich höre, daß die Gesellschaften so manches beseitigt haben, was einem Edelmanne nicht gefallen könnte. So machte sich früher in den Orden ein gewisses Jakobinertum breit. Es gab Leute, die alles, was Landesherr hieß, mit den unflätigsten Ausdrücken belegten.«

Gerhard beeilte sich, zu versichern, daß jeder honorige Bursche mit wahrer Andacht die Strophe des Gaudeamus singe, die den Landesherrn feiert.

Damit war das Examen beendet.

Anders aber verlief eine Unterredung unter vier Augen, zu der die greise Gräfin-Witwe den Burschen in ihr Zimmer entbot.

Diese Dame mit den guten und doch so durchdringenden Augen hatte eine unbehagliche Art, den Dingen auf den Grund zu gehen. Mit gefalteten Händen saß sie ihm 446 gegenüber und hörte seine Lobreden an. Zwischenhinein aber fuhr sie immer wieder mit irgend einer Frage, die man unmöglich aus dem Handgelenk beantworten konnte. Und als er ihr endlich den stolzen Wahlspruch der Franken – Gloria virtutis comes – übersetzte und die virtus in ihrer Doppelbedeutung als Tapferkeit und Tugend von allen Seiten funkeln ließ, machte das nicht den geringsten Eindruck auf die Greisin. Dann aber kam etwas so Feierliches, daß ihn der Gedanke daran noch lange bedrückte. Die Gräfin erhob sich, und ehe er aufspringen konnte, stand sie neben ihm, legte ihre Hände auf seine Schultern und beugte sich auf ihn herab. Er mußte ihr stille halten in unbehaglicher Nähe und blickte befangen in die klaren Augen, die über ihm leuchteten. Sie aber sprach langsam auf ihn herab: »Lieber Gerhard, ich binde Ihnen meinen Enkelsohn in Ihr Gewissen. Was ein honoriger Bursche ist, das weiß ich nicht. Kümmert mich auch weiter nicht viel. Mein Enkelsohn aber ist der Letzte unseres uralten Hauses, und ich will, daß er fromm bleibt. Alles andere macht sich dann wohl von selbst.«

Er zuckte unwillkürlich mit den Schultern. Da zog sie die Hände von ihm ab, trat zurück und sah ihn fragend an.

Er schnellte empor: »Ich weiß ja nicht – ich glaube, daß ich selber nicht fromm bin, so wie Euere hochgräfliche Exzellenz es meinen.«

Sie stand mit gefalteten Händen, blickte ihn unsäglich liebevoll an und sagte nichts andres als: »Ich binde meinen Enkelsohn in Ihr Gewissen – hören Sie? – in Ihr Gewissen.«


So fuhr er am andern Morgen in sein drittes Semester. Diesmal saß er nicht im Postwagen, sondern in den weichen Kissen des schweren gräflichen Reisewagens. Neben ihm 447 der hochaufgeschossene, schmächtige Grafensohn, der sich nicht genug tun konnte mit Fragen und helläugig den Herrlichkeiten des Studentenlebens entgegenlachte. Gerhard antwortete ihm mit der Überlegenheit des Wissenden, und seine Auskünfte waren ganz dazu geeignet, den Krassen zu hochgespannten Erwartungen aufzuregen. Der Bursche aber konnte während der ganzen Fahrt die peinliche Empfindung nicht loswerden: der ist dir nun in dein Gewissen gebunden.


An diesem Tage feierte Minette von Brocken Hochzeit. Für den Frühling war das Fest bestimmt gewesen – jetzt war es Herbst geworden.

Der Vater hatte die ganze Nachbarschaft eingeladen. Auch die Gebrüder Eysen.

Nacht war's, nahezu Mitternacht, und seit dem frühen Nachmittag drehten sich die Paare in dem großen, niederen Saale unter der dunkeln Holzdecke.

Da hatte Wolfgang Eysen das große Erlebnis seiner Jugend.

Er saß ermüdet in einer Ecke, lehnte den Kopf an die Standsäule einer marmornen Venus, hatte die Arme gekreuzt und blickte hinein in den Trubel der Tanzenden.

Die Geigen sangen, die Flöten klagten, und flackernd brannten die Wachskerzen auf den Armleuchtern an den Wänden und unter den flimmernden Kristallen des Kronleuchters, der von der Mitte der Decke herabhing.

Dumpfe, schweißgesättigte, vom Geruche verwelkender Blattgewinde erfüllte Luft. Trübe brennende Kerzen, schleifende Paare, die sich drehten in trägem Wirbel.

Dort kam der lange Brocken. Er machte ein höhnisches Gesicht über dem Scheitel der vollen Brünetten, die selig zu ihm hinaufblickte und hingebend mit ihm dahinschwebte. Dort kam ein plumper Landbaron. Der hatte in seinem 448 Arme eine schlanke Schwarze mit schmalem, schöngeschnittenem Gesicht und dunklen Augen. Ihre weiße Stirne leuchtete, das zarte Rot ihrer Wangen, das tiefe Rot ihrer Lippen lachte, und ihre großen Augen blickten in weite Ferne.

Alle kamen sie an ihm vorüber, und alle sah er deutlich – die Großen und die Kleinen, die Schlanken und die Dicken, wie sie sich langsam drehten unter blinzelnden Lichtern, unter welkenden Blättergewinden.

Und ringsumher an den Wänden saßen die Mütter; scheinbar tonlos bewegten sich ihre Lippen.

Leiser wurde die Musik, leiser das tanzende Schleifen der Schritte. Im schweren Dunste drehten sich die Menschenleiber, drehten sich langsam im Knäuel.

Er saß regungslos.

Einer von den Tänzern rief ihm ein Scherzwort zu. Er hörte es wie aus weiter Ferne, hörte, aber verstand nicht.

Er sah nur noch das schlanke, schwarze Geschöpf, dessen hohe, weiße Stirne zu ihm herüber leuchtete, dessen dunkle Augen traumverloren ins Leere blickten, das jugendschöne Weib, das in wundervollem Gleichmaße der Bewegung über den Fußboden schwebte.

Da veränderte sich ihr Antlitz.

Er durchlebte Jahre in wenigen Sekunden. Er wollte sich erheben, er wollte abschütteln, was über ihn kam. Er konnte nicht. Er mußte sitzen und schauen, schauen in den schweren Dunst, in den flimmernden, atemraubenden Dunst.

Es war ihm, als lösten sich tanzende Paare, eines nach dem andern, aus dem Knäuel; und er sah doch nur die Eine, die Dunkle, die langsam herankam. Jetzt war sie ganz nahe, und schaudernd sah er die feine Nase scharf hervorwachsen zwischen schlaffen, fahlen Wangen, über einem faltigen Mund.

Dünn und fern klang die Musik, und als er mit 449 Anstrengung die Augen von der Einen wegwandte, da sah er, daß allüberall nur Alte tanzten in den gelichteten Reihen.

Einige müde Paare nach einer wehmütigen Melodie.

Sein Blick irrte hinüber zu den Bänken an den Wänden. Die Bänke waren leer.

Eines nach dem andern erloschen die Lichter.

Fünf Paare tanzten noch. Nein – keine Paare mehr. Die Paare von vorhin waren längst schon zerrissen.

Und dort drehte sich einsam eine hagere Frau mit schneeweißem Scheitel, deren Wangen vorhin geleuchtet hatten im Rote der Jugend.

Er wandte mühsam den Kopf und sah die letzten Musikanten – ihrer drei. Da legte der erste die Geige weg und ging hinaus, dann legte der zweite die Flöte weg und folgte ihm nach. Nur ein Geiger stand noch, ein uralter Mann, mit langem, weißem, wallendem Haar, der spielte einsam weiter – ein dünnes, klagendes Lied.

Die Kerzen an den Wänden waren erloschen, nur die Kerzen des Kronleuchters glühten noch durch den Dunst. Drei Tänzerinnen drehten sich in der Mitte des Saales.

Hörbar, in klingenden Tropfen, rann das Kerzenwachs auf den spiegelnden Boden. Dünn und hoch klang die Geige.

Stärker und stärker fielen die heißen Tropfen und übertönten die Geige.

Es war, als tropfte langsam, sichtbar und hörbar und unentrinnbar die Zeit auf die tanzenden Alten.

Aber nein – was war das nur gewesen? Er hatte wohl mit offenen Augen geschlafen, mit wachen Sinnen geträumt? Seine gekreuzten Arme lösten sich, er hob das Haupt von der Säule der Venus.

Sein Haupt war schwer und schmerzte ihn.

Wie vorher blinkten die Lichter durch den Dunst, der aufstieg aus den tanzenden Leibern; die Geigen sangen, die 450 Pfeifen quiekten, und auf den Bänken saßen die Mütter und bewegten rastlos die Lippen.

Drüben unter dem Kronleuchter stand die Schöne; ihre roten Lippen lächelten, ihre weiße Stirne leuchtete, ihre dunklen Augen blickten in weite Ferne.

Die Musik verklang, die Paare schritten plaudernd und lachend und nickend im Kreise unter den Lichtern.

Ihm aber graute. Er stand auf. Er kam sich vor wie einer, der auf den untersten Grund des Lebens hinabgeblickt hatte.

Und mit solchen Gedanken im Herzen fuhr er in sein fünftes Semester.

*

Warm leuchtete die Herbstsonne vom wolkenlosen Himmel. Der alte Baum vor den Fenstern der stillen Studierstube war mit Früchten beladen, und von Zeit zu Zeit pochte ein reifer Apfel leise und lockend im Hauche der Frühluft ans Fenster. In tadelloser Weiße glänzte der Fußboden, enggedrängt standen ringsum auf hohen, schlichten Gestellen die Bücher. Wer es aber noch nicht wußte, welche Massen von Büchern und Papier man auf drei Tischplatten und zehn Stühle zu legen vermag, der mußte sich hierher in die Stube des Theologieprofessors Ephraim Gotthold begeben, da ward er's inne.

Es sah aus, als wäre der Herr dieser Bude eben erst mit Sack und Pack eingezogen, und der Überfluß seiner Bücherschätze warte, daß er ihn etwa in einem Nebenraum auf besonderen Gestellen verstaue. Und er hauste nun doch schon seit einem halben Menschenalter in diesem Gelasse. Wenn ihn aber einer seiner Besucher verwundert fragte, ob er denn in solchem Wirrwarr von Büchern, Heften, Skripten und Zetteln noch irgend etwas zu finden vermöge, dann antwortete er mit kindlicher Heiterkeit: Er sei dazu sehr wohl 451 imstande; nur dürfe niemals eine fremde Hand die nur ihm bekannte Ordnung der fünfzehnjährigen, gleichsam organisch gewachsenen Schichten stören. Und als fremd bezeichnete er sogar die kleine Hand seiner lieben Frau.

Zu arbeiten pflegte er an einem Tische, der inmitten der großen Stube, weit genug von den Fenstern entfernt stand. Denn vor Zugluft graute ihm über die Maßen. Mit Unbehagen beobachtete er schon eine offene Schranktüre, ein offenes Fenster verursachte ihm Angstgefühle.

In seinem Allerheiligsten hätte er ja keine Zugluft zu fürchten gehabt; denn dort blieben auch zur Sommerszeit die Doppelfenster eingehängt, und ihre Fugen waren mit Streifen starken Papiers verklebt. Aber trotzdem – gut ist gut, besser ist besser: der Arbeitstisch hatte seinen Platz inmitten der Stube.

Freilich, es roch seltsam in dieser Werkstatt deutscher Wissenschaft. Ja, böse Studenten behaupteten, bei Professor Gotthold rieche es genau wie bei Linus Geier, dem Trödler, der gegenüber in einem engen, ebenerdigen Raume alte Bücher, Kleider und Fechtzeug verkaufte, während daneben, in einem andern Stübchen, sein Weib Käse und Butter feilhielt.

Professor Gotthold saß an diesem sonnigen Morgen über sein Skriptum gebeugt. Aber es war nichts von ihm zu sehen als die Ellbogen, ein Teil des gekrümmten Rückens und dessen Verlängerung nach hinten. Auf dem Tische, vorne, zur Rechten und zur Linken, waren die allerwichtigsten Bücher und Schriften aufgestapelt, das Handwerkszeug, dessen er jederzeit bedurfte. Und so schrieb und dachte und schrieb Gotthold wie all die Jahre her mit eingedrücktem Bauch, mit zusammengezogenen Schultern, gleichsam zur Hälfte eingekrochen in eine – zum Glück noch oben offene – Höhle von Büchern und Schriften, drei Schuh hoch.

452 Allkräftige Natur, die du dem Staubgeborenen fast unbegrenztes Anpassungsvermögen als bestes Erbteil ins Leben mitgegeben hast. Er haust in hohen Breiten, wo über froststarrender Erde und unabsehbaren Gletschern monatelang die Sonne nicht aufgeht, und leichten Fußes wandelt er unter ihren sengenden Strahlen im Sande an Afrikas Küste – hier wie dort sich freuend des Lebens. Er horstet auf hochgelegener Alm zwischen melodisch bimmelndem Herdenvieh und trinkt eine Luft, in der das Edelweiß mit silbernen Sternchen zum tiefblauen Himmel emporlugt. Und derselbige Mensch atmet als deutscher Professor, lebenslänglich eingesperrt in eine Höhle von Büchern – und freut sich doch auch seines Lebens, fast daß er jodelte vor Vergnügen gleich einem Senn.

Von sechs Uhr bis elf Uhr vormittags herrschte wochaus, wochein die Stille einer ägyptischen Grabkammer in Gottholds Studierstube. Heute aber war Dies, war kollegienfreier Samstag, und ungehindert konnte er bis zum Mittagessen studieren – wenn eben kein Hindernis eintrat.

Aber es kam eines.

Zwischen acht und neun Uhr öffnete sich leise die Türe, und seine liebe Frau trat herein. Das wunderte ihn sehr, und mit rückwärts lauschenden Ohren schrieb er weiter.

Nach einiger Zeit geduldigen Wartens hustete sie.

Unwirsch knisterte seine Feder zur Antwort übers Papier.

»Männle!«

Mit jahrelang geübter Behutsamkeit, anzusehen wie ein großer Krebs, der auf seine natürliche Weise aus dem Uferloche ins Wasser zurückkriecht, zog der Professor seinen Kopf aus der Bücherhöhle und wandte sich der Türe zu. »Rede, dein Knecht höret.«

Seine zierliche Gestalt war in einen wattierten Schlafrock gekleidet, ein wollenes Tuch umhüllte seinen Hals, und 453 seine Füße staken in unförmlichen, pelzgefütterten Schuhen. Aber aus dem dicken Halstuch ragte ein wahrhaft schöner Kopf hervor: Schmal war das glattrasierte Antlitz, unter hochgewölbter Stirne sprang eine feingebogene Nase heraus, lange, graue Locken fielen bis auf den Kragen des Schlafrockes herab. Und das Schönste waren zwei ungewöhnlich große, hellblaue Augen, die unter zartgeschwungenen Brauen verträumt auf die kleine Frau hinübersahen.

»Könnte man sich nur setzen bei dir! Gestern erst habe ich den zehnten Stuhl hereingetragen, heute ist er schon mit den gräßlichen Büchern bedeckt.«

»Mit den gräßlichen Büchern?« Er schüttelte bedauernd das Haupt. »Aber Kind, welch ein Ausdruck! Gerade, als wollte die Frau eines Landmannes vom gräßlichen Pflug reden.«

Sie war nahe herangekommen: »Männle, kannst du ein wenig aufpassen, nur ein klein wenig? Es handelt sich nämlich um eine ganz wichtige Sache.«

Er nickte und sah weltverloren an ihr vorüber. »Ich kann mir's denken, sonst hätte mich meine Liebe doch nicht am frühen Morgen gestört.«

»Gewiß nicht,« sagte sie eifrig. »Aber ansehen mußt du mich, wenn ich rede, fest ansehen, nicht rechts oder links vorübersehen. Sonst fragst du mich am Ende doch nur – was hast du also eigentlich gemeint?«

Er richtete die großen Kinderaugen fest auf ihr kümmerliches Gesicht und sagte zum zweiten Male: »Rede, dein Knecht höret.«

»Männle, schau, wir haben seit drei Monaten keinen Kreuzer Besoldung mehr bekommen.«

»Seit drei Monaten?« Er nickte. »Ich erinnere mich; meine Liebe hat sich vor einigen Tagen in ähnlichem Sinne geäußert.«

454 »So?« Es klang nun fast ärgerlich. »Also hast du damals doch gehört?« Sie wischte mit spitzem Finger unter beiden Augen weg. Dann aber zwang sie die zuckenden Lippen zu einem trübseligen Lächeln.

Er legte ein Bein übers andere, schlang die gefalteten Hände ums Knie und sagte mit Ruhe: »Ich höre oft, wenn man glaubt, ich höre nicht; und ich höre oft nicht, wenn man glaubt, ich höre.«

»Ephraim!« Sie wehrte nun den Tränen nicht mehr, die ihr über die verhärmten Wangen tropften. »Man ist uns dreihundert und sechsundachtzig Gulden und zweiundvierzig Kreuzer Besoldung schuldig.«

»Dreihundert und sechsundachtzig?« Er nickte zerstreut und sah ins Leere. »Ist das viel oder wenig?« fragte er nach einer Weile und strich sein Kinn.

»Ephraim, sieh mich an!«

Gehorsam richtete er die Augen wieder auf sie.

»Ephraim, um Gottes willen nicht so zerstreut gucken!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte.

Erschrocken stand er auf und trat neben sie. Hilflos streichelte er ihre Hände und fuhr liebkosend über ihren Scheitel. »Minchen, vergib mir. Du weißt ja doch, in Geldsachen – liebes Minchen, nicht weinen! – in Geldsachen bin ich halt einmal das reine Kind.«

Sie schluckte: »Freilich ist's viel, entsetzlich viel, Ephraim, wenn man nämlich nur noch acht Kreuzer im Hause hat und der Frau Bürgermeisterin dreißig Gulden schuldig ist und den Schneider und den Schuster und den Metzger seit Monaten nicht mehr bezahlen kann und acht Kinder zu füttern hat und von Tagesgrauen an keinen Schlaf mehr findet vor Sorgen, und wenn man doch das alles nicht gewöhnt ist von Jugend auf und vor Scham in den Erdboden schlupfen möchte. So, jetzt weißt du vielleicht auch, 455 daß dreihundert und sechsundachtzig Gulden unmenschlich viel Geld sind, du Lieber. – Aber horch und paß auf, was ich dir sage: das Geld ist gekommen.«

»Ach!« rief er ganz erleichtert. »Jetzt ist mir aber wahrhaftig ein Stein vom Herzen. Das Geld ist gekommen? Und das hast du mir sagen wollen?«

Sie schüttelte ihn sänftiglich an den Schultern. »Männle, vernünftig sein! Geld ist gekommen, viel Geld, und in der Universitätskasse liegt's.«

»Ei, dann hat's ja doch erst recht keine Not mehr,« sagte er hocherfreut. »Ich denke, weil der Kassier kein Geld hatte, deshalb hatten wir Dozenten auch keines. Kollega Pieperich äußerte sich wenigstens jüngst in ähnlichem Sinne.«

»Der Pieperich?« Die kleine Professorin wurde nun ganz ärgerlich. »Der Pieperich hat eine wohlhabende Frau, der könnte ruhig zuwarten. Aber sie sorgt schon, daß er nirgends zu kurz kommt. Laß mich aus mit dem Pieperich!«

»Pieperich hat diese Äußerung in objektivem Sinne und durchaus kollegialer Gesinnung gemacht,« wies der Professor seine Liebe zurecht.

»Männle, nun horch! Rückständiges Geld ist gestern eingelaufen, aber wie gewöhnlich bei weitem nicht alles. Und jetzt handelt sich's darum, daß man sogleich zum Kassier geht. Wer zuerst kommt, der mahlt zuerst. Bis jetzt wissen's nur wenige. Gestern spät abends ist das Geld mit der Post gekommen – soeben ist die Kassierin bei mir gewesen und hat mir einen Wink gegeben.«

Der Professor machte ein bedenkliches Gesicht. »Ei, aber da muß ich doch sagen, ich weiß nicht, ob sich dieser Wink eigentlich mit der Amtspflicht ihres Mannes verträgt?«

Die kleine Frau wurde nun ernstlich böse. »Das ist mir ganz, ganz egal. Der Staat ist uns das Geld schuldig, und jetzt weiß ich gottlob, daß Geld da ist.« Sie hob die gefalteten 456 Hände vor sein Gesicht und flehte: »Gelt, Männle, du bist nun lieb, du gehst auf der Stelle zum Kassier und holst unser Geld?«

Er hatte schon das Wolltuch vom Halse gelöst und streifte den Schlafrock ab. »Ich will ja. Um deinetwillen. Obgleich solche Geldsachen – es ist mir so peinlich – es sieht so habgierig aus, es geht mir fast gegen die Ehre – jedenfalls werde ich eine lächerliche Rolle spielen –.«

Sie schlug die Hände zusammen: »Wenn du deinen armen Würmern das sauer verdiente Geld holst?« Sie rannte zur Türe und schrie den Gang hinunter: »Luise, Malchen, Johannes, Paulus –!«

Am Ende des Ganges öffnete sich eine Türe, und nun kam's gelaufen und gerannt und getrippelt und – unerhört – des Morgens zwischen acht und neun Uhr standen die Kleinsten im Allerheiligsten des Hauses, drängten sich wie Küchlein um die Henne und sahen den Vater mit großen, scheuen Augen an.

»So, nun könnt ihr wieder gehen,« rief die Mutter. Und eilig, wie sie gekommen, rannten und liefen und trippelten sie den Gang zurück.

»Hast du sie gesehen? So, und jetzt sag's noch einmal, daß es dir peinlich ist, daß du dir habgierig vorkommst, wenn du deine Würmer nicht verhungern läßt!«

Gotthold stand mit den Pantoffeln in der Hand: »Meine Stiefel! Ich gehe doch schon, ich gehe doch schon.«

Sie brachte ihm Rock, Hut und Stiefel und half mit zitternden Händen.

»Und wieviel Geld soll ich dir also bringen?« fragte er nun schon ganz zuversichtlich.

»Männle, womöglich doch alles.«

»Alles? Wieviel hast du gesagt? Zweihundert achtundvierzig? Aber das wäre doch gar zu unbescheiden. Nein, Minchen, das kann ich nicht.«

457 »Dreihundert sechsundachtzig Gulden und zweiundvierzig Kreuzer,« sagte sie dringend und setzte sich vor die Höhle des Gelehrten. »Nur ein Stücklein Papier – ich will dir's aufschreiben.«

Wie ein Geier schoß er heran. »Mine, weg da, du bringst mir mein Skriptum in Unordnung, weg, sag' ich!«

Aber diesmal gab sie nicht nach. Sie hatte einen Fetzen Papier errafft und schrieb, in die Höhle gezwängt, mit steifen Ziffern 386 Gulden, 42 Kreuzer. Dann goß sie Streusand darauf und kam aus der Höhle heraus.

Er trippelte von einem Beinchen auf das andere und sagte vorwurfsvoll: »Aber, Mine, du verstimmst mich doch sehr.«

»Also Ephraim, entweder die volle Summe, oder, wenn es gar nicht anders zu machen ist, wenigstens – hörst du? – allerwenigstens hundert Gulden. Ich aber will einstweilen auf den Knieen beten, daß dir's Gott gelingen lasse.«

Er hatte das Papier in der einen, Hut und Stock in der andern Hand und ging zur Türe. Dort aber wandte er sich noch einmal und sagte in verweisendem Tone: »Wegen solcher Kleinigkeiten solltest du doch deinen Gott nicht bemühen, Liebe.«


Drunten im Hausflur stand der Pedell. Er hatte die Dienstmütze abgenommen und wischte Schädelplatte und Mützenrand mit einem großen, blauen Schnupftuch.

»Also um zehn Uhr Sitzung,« wiederholte der Professor und hielt dem Boten seine geöffnete Dose hin. »Da nehm' Er mal eine Prise.«

Der alte Mann schob die Mütze unter den linken Arm und stopfte das Schnupftuch in die Hosentasche. »Mit Verlaub, Herr Professor. Aber fein ganz gewiß nicht vergessen. Wir haben nämlich heute sehr wichtige Sachen zu besprechen.«

458 »I wo, Alterchen, das werd' ich doch nicht vergessen. Wart Er einmal, ich werd' mir einen Knoten in mein Schnupftuch machen.«

»Jawohl, Herr Professor, das tun Sie.«

Umständlich durchsuchte Gotthold alle seine Taschen. Aber das Schnupftuch wollte sich nicht finden. »Ei, wie ärgerlich, da hat nun meine Liebe wieder einmal mein Schnupftuch vergessen!«

»Wissen Sie was, Herr Professor, ich mach' den Knopf in mein Schnupftuch – so, sehen Sie? Und jetzt leih' ich Ihnen mein Schnupftuch bis um zehn Uhr – es ist ganz frisch, ich hab' mir's erst gestern aus dem Kasten genommen – so – und um zehn Uhr geben Sie mir's wieder zurück.«

»Ach, das ist aber sehr freundlich von Ihm.«

»Stecken Sie's nur in die hintere Rocktasche – so, Herr Professor.«

Sie gingen aus der Haustüre, der Pedell wandte sich ostwärts, der Professor westwärts.

Mit würdigen Schritten strebte der Professor seinem Ziele zu. Das blaue Schnupftuch des Pedells aber hing ungebührlich lang aus seiner hinteren Rocktasche heraus.

Ein Schusterjunge trat in seinen Weg und hielt ihm einen schmierigen Zettel unter die Augen: »'n Gruß von meinem Meister, und er will jetzt auch nimmer warten, soll ich Ihnen sagen.«

»Eine Rechnung, lieber Kleiner? Jawohl, ich erinnere mich, daß dein Herr und Meister seine Kunst zur Bekleidung meiner und meiner Hausgenossen Füße schon wiederholt ausgeübt hat. Da geh du nur zu meiner lieben Frau und laß dir das Geld geben.«


Vom Kirchturme tönten zwei Glockenschläge. Es war halb zehn Uhr. Die Sonne leuchtete auf den Marktplatz, und im 459 prallen Lichte stand Professor Gotthold vor Kollega Pieperich.

Seit dreiviertel Stunden erörterten sie eine wissenschaftliche Frage und kamen zu keinem Ziele. Vor einer Viertelstunde hatten sie sich zwar auf einer gewissen Grundlage geeinigt, aber seitdem gingen ihre Ansichten wieder hoffnungslos auseinander.

Dazwischen hatte Pieperich einmal gemeint, man könnte sich auch in den Schatten begeben – ein paar Schritte hinüber an die Häuser. Doch Gotthold hatte erwidert, es ziehe hier keineswegs, und die Wärme behage ihm sehr.

Jetzt aber, als es halb zehn Uhr schlug, fuhr Pieperich mit der Hand an seine Stirne: »Herr Kollega, Sie entschuldigen mich, nur wenige Minuten, und ich werde wieder zurück sein.«

»Ganz zu Ihrer Verfügung, Herr Kollega. Habe ja bis zur Sitzung nicht das Geringste zu versäumen und werde Sie begleiten.«

Pieperichs Äuglein flackerten hin und her. »Ich weiß doch nicht – ich möchte Sie keineswegs bemühen –.«

Gotthold lächelte freundlich: »Jawohl, Herr Kollega, weiß schon, Ihre Position ist schwach, und da wollen Sie mir entwischen. Nein, Verehrtester, das gibt's nicht. So –.« Er hakte sich in seinen Arm. »So, nun bringen Sie mich nimmer los, bis unsere Frage geklärt ist.«

»Wie Sie wollen,« murmelte Pieperich verdrossen. Und so zogen sie selbander die Straße entlang. Aber das wissenschaftliche Gespräch wollte nimmer so recht in Fluß kommen, und mit Befremden bemerkte Gotthold, daß der Kollega zerstreute Antworten gab, sich in handgreifliche Widersprüche verwickelte und einen unehrbaren Geschwindschritt anschlug.

Sie kamen zum Rentamt der Universität. Da riß sich Kollega Pieperich los und sprang – immer drei Stufen 460 auf einmal – die Freitreppe empor. »Nur eine Minute!« rief er unter der Türe zurück.

Mit verlorenen Blicken sah ihm Gotthold nach. Dann legte er die Hände auf den Rücken und begann mit gesenktem Haupte auf und ab zu schreiten.

Ein Kinderstrohhut tauchte neben ihm auf, eine Stimme piepste, ein Händchen reichte ihm ein blaues Schnupftuch hinauf, und von einem vermutlich ganzen Kindergesicht zeigte sich das Kinn und das Mündchen.

»Sie haben da soeben Ihr Sacktuch verloren.«

»Ich?« Professor Gotthold sah mit gütigem Lächeln auf das Mägdlein herab und legte freundlich, gleichsam segnend, die Hand auf den Strohhut. »Du irrst, liebe Kleine.«

»Nein, gewiß nicht. Soeben ist's aus Ihrer Tasche gefallen.«

Professor Gotthold prüfte das Tuch. »Ganz richtig,« sagte er hocherfreut, »da ist ja der Knoten. Und nun hast du recht, und ich habe auch recht, wie das im Leben so oft sich ereignet. Das Tuch gehört mir, und es gehört mir auch nicht; denn ich besitze es leihweise. Hast du verstanden?«

Der Strohhut nickte.

»Übrigens danke ich dir. Und wem gehörst nun eigentlich du, mein artiges Kind?«

»Aber Papa!« Das Mägdlein beugte den Kopf zurück und sah ihm schelmisch lachend voll ins Gesicht. »Kennen Sie mich denn nicht mehr, Papa?«

»O, du bist's, Lina?« Der Professor war sehr verwundert. »Ei, das hättest du mir doch sogleich sagen können!«

»Aber Papa!« Die Kleine fand das alles sehr komisch. »Sie kennen uns ja niemals, wenn Sie uns auf der Straße begegnen.«

»Daran haben euere großen Hüte schuld,« murrte der gelehrte Herr.

461 Die Kleine hüpfte davon, und Pieperich sprang die Freitreppe herab.

»Ei, schon fertig, Herr Kollega?«

Pieperich sah befriedigt aus. »Zum Glück war mir's noch rechtzeitig eingefallen.«

»Darf man fragen, was Sie Wichtiges in diesem Gebäude zu besorgen hatten?«

»Ja, wissen Sie denn nicht, Herr Kollega, gestern ist doch ein Teil des rückständigen Geldes gekommen?« Er klimperte mit den Gulden in seiner Hosentasche. »So habe ich jetzt wenigstens die Hälfte des Gehaltes glücklich erobert.«

Da schlug Professor Gotthold die Hände zusammen. Und mit dem kläglichen Rufe »Oh, meine arme Frau!« sprang er die Treppe hinauf.

Atemlos betrat er die Amtsstube.

»Aber Herr Professor, wo bleiben Sie denn solange?« Der kleine Kassaverwalter hatte seine Hornbrille auf die Stirne geschoben und strich kopfschüttelnd sein glattes Gesicht.

»Hoffentlich komme ich nicht zu spät!« keuchte der Gelehrte. »Es ist mir ja – ohnedies – ungemein peinlich – und wäre nicht – meine liebe Frau – gewesen – keine zehn Gäule –«

Der Beamte legte bedauernd den Finger an die Nase. »Aber Herr Professor, in aller Früh hatte ja doch meine Frau –?«

»Ganz richtig, Herr Kassaverwalter. Nichts aber war mir peinlicher, als daß wir die Nachricht auf so wenig legalem Wege in Erfahrung gebracht hatten. Und, wie gesagt, nur auf Bitten meiner lieben Frau habe ich den sauern Gang gemacht. Leider ist mir dann unterwegs Kollega Pieperich begegnet –«

»Ich bedauere unendlich, Herr Professor, aber es ist zu spät. Seit einer Stunde zahle ich aus – soeben hat noch 462 Herr Professor Pieperich eine Abschlagszahlung bekommen. Jetzt aber muß ich Schluß machen. Fünftausend Gulden bleiben als Reserve in der Kasse, bis heute das Plenum über die Verwendung entschieden hat.«

»Ganz richtig, um zehn Uhr ist Sitzung,« sagte der Professor, zog das blaue Tuch des Pedells heraus und befühlte den Knoten.

»Je nachdem werden also mit diesen Fünftausend die rückständigen Gehälter ausbezahlt oder sie werden für andere Universitätszwecke verwendet, Herr Professor.«

»Das ist aber doch sehr fatal. Was wird meine liebe Frau dazu sagen?« Kleinlaut stopfte Gotthold das blaue Schnupftuch wieder in die hintere Rocktasche. »Ich empfehle mich Ihnen.«

»Herr Professor!« Der Beamte schob die Brille noch höher empor und kam händereibend heran. »Auf ein Wort – und nichts für ungut. Es liegt mir ferne – möchte keineswegs den Beschlüssen eines hohen Plenums vorgreifen –«

»Sie wünschen, Herr Kassaverwalter?« Der Professor stand an der Türe, wandte den Kopf halb rückwärts und sah verwundert aus – etwa wie der Storch, dem der Gänserich Vorhalt zu machen gewagt hat.

Der Beamte bekam einen roten Kopf. »Geht mich auch gar nichts an,« meinte er patzig.

»Also –?« fragte der Professor noch immer in der unbewegten Haltung hochbeiniger Abwehr.

»Mich dauern ja nur die Frauen. Und also nichts für ungut – zuerst müßten die rückständigen Gehälter ausbezahlt werden; dann erst sollten die Herren an Ausgaben für anderes denken.«

»Wir werden diese Fragen nach allen Seiten hin gewissenhaft und objektiv erwägen,« sagte der Storch von oben herunter und stelzte aus der Stube.

463 »Und werden ohne Zweifel eine objektive Eselei beschließen,« brummte der Beamte hinter ihm drein.


Sie waren unter sich, und sie hatten in gemeinsamer Beratung Fragen des wirklichen Lebens zu entscheiden.

Ganz unter sich. Das war ungefähr anzusehen, wie wenn ehedem reichsunmittelbare Herren zu einer Tagung zusammengeritten waren. Denn unmittelbar im Reiche der Wissenschaft fühlte sich jeder von diesen. Fragen aber des wirklichen Lebens zu entscheiden, mußte ihnen, die sich sonst fast ausschließlich im Gebiete der schrankenlosen Unwirklichkeit bewegten, zu ganz besonderem Genusse gereichen. Und sie gaben sich solchem Genusse mit Gründlichkeit hin.

Von den Kirchtürmen läuteten die Mittagsglocken. Zwei Stunden hatte die Sitzung gewährt, zwei Stunden lang hatten Juristen und Theologen, Mediziner und Philosophen aneinander hin und nebeneinander vorbei gesprochen.

Da stand Töbing auf. Er hatte an Stelle des erkrankten Prorektors die Beratung geleitet, aber sich nicht am Austausch der Meinungen beteiligt.

»Gestatten Sie, meine Herren Kollegen, daß ich den Kern der Angelegenheit noch einmal herausschäle: Die traurige finanzielle Lage unserer Hochschule ist uns allen zur Genüge bekannt. Fünf Professuren sind erledigt, die nötigsten Vorlesungen werden von den Herren Kollegen ohne jede Entschädigung im Nebenamte besorgt. Die staatlichen Rückstände sind ins Ungeheuere gewachsen. Nachdem gestern abend eine Teilzahlung von zwölftausend Gulden eingelaufen ist, beträgt die Gesamtsumme der Rückstände noch rund fünfundneunzigtausend Gulden. Wir haben uns im laufenden Jahre sogar verleiten lassen, Vorschüsse aus der Universitätskasse zu gewähren, ja, wir haben an bedürftige Kollegen Gelder aus der Witwenkasse ausgeliehen. Mit einem Worte, meine 464 hochgeehrten Herren, wir treiben der Auflösung aller Ordnung entgegen. Nun sind gestern abend die Zwölftausend gekommen, die wenigstens zur teilweisen Deckung der letzten Gehaltsrückstände ausreichen würden. Der Kassaverwalter hat nach einem wohl auch nicht ganz einwandfreien Modus sofort siebentausend Gulden ausbezahlt. Aber verschiedene Kollegen haben, wie er mir soeben mitteilen läßt, noch keinen Pfennig gesehen. Ich ersuche diese Herren, sich zu melden.«

Etliche hoben die Hand auf. Zögernd und als letzter unter ihnen Professor Gotthold, und dieser bemerkte nicht ohne Entrüstung: »Ich werde stets unter denen zu finden sein, die den idealen Forderungen unseres Standes materielle Augenblicksinteressen unterzuordnen wissen. Wir Dozenten stehen hier auf unsern Posten gleichsam auf Ehrenwort.«

Da und dort antwortete ihm zustimmendes Murmeln der Kollegen. Pieperich aber sagte ganz laut: »Kollega Gotthold hat der Mehrzahl von uns aus dem Herzen gesprochen. Wir stehen hier auf Ehrenwort, und die Ehre unseres Standes ist ausschlaggebend für alle unsere Entschlüsse.«

Gotthold warf einen etwas verwunderten Blick auf den kleinen Pieperich. Dann nickte er bedächtig.

»Ich bitt' ums Wort!« rief nun einer von der philosophischen Fakultät.

Töbing erteilte ihm das Wort, und der Professor begann: »Der Herr Vorsitzende beliebt, die materiellen Interessen der einzelnen in den Vordergrund zu stellen. Ich beantrage das umgekehrte Verfahren und wünsche, daß jeder von uns noch einmal mit kurzen Sätzen seine Ansicht über die Kernfrage äußere: Soll unser botanischer Garten dotiert werden oder nicht?«

Töbing schnellte empor: »Meine Herren, dann sitzen wir um vier Uhr noch hier!«

Es folgte eine erregte Verhandlung, und man einigte 465 sich endlich, daß zunächst der Botaniker und sodann der Dekan jeder Fakultät noch einmal zur Sache sprechen sollten.

Mit beweglichen Worten schilderte der Botanikus wiederholt den Notstand seines Gartens, die Enge des Gewächshauses, den sandigen Boden, welchen ein einziger Brunnen bewässerte, den Mangel an Arbeitskräften; erzählte noch einmal mit zitternder Stimme, daß er im Sommer monatelang eigenhändig begossen und gejätet habe, prophezeite mit düsterer Miene, daß im kommenden Winter alle seine Pflanzenkinder infolge Holzmangels jämmerlich erfrieren würden, und verlangte eine Dotierung von fünftausend Gulden.

Mit eindringlichen Worten sekundierte ihm Gotthold. Er wies auf den Garten Eden hin, der im botanischen Garten dieser Hochschule ein zwar schwaches, aber doch lehrreiches Abbild gefunden habe, und bedauerte nur eines: daß man diesen Garten nicht zum Park erweitern und mit gezähmten Löwen, Tigern und Riesenschlangen bevölkern könne. Die Forderung des Kollega Botanikus sei berechtigt, hinter ihr hätten alle andern Interessen zurückzutreten. Der Garten müsse erhalten bleiben bei Frost und Hitze, Sommers und Winters, Tag und Nacht.

Der Jurist war dagegen. An und für sich sei ja der botanische Garten ohne Zweifel ein Attribut der Universität, und Attribute dürfe man einer juristischen Person nicht nehmen, solle diese nicht ihren Inhalt verlieren. Aber anderseits müsse er bei solcher Gelegenheit wieder einmal seinen prinzipiellen Standpunkt betonen. Hier werde von Pflanzen fortwährend als von lebenden Wesen gesprochen. Tiere und Pflanzen seien aber unzweifelhaft Sachen, tote Gegenstände. Diesen stünden die Frauen und Kinder der Professoren als Menschen, als einzige Rechtssubjekte gegenüber. Deshalb statuiere er ein Exempel und entscheide sich für die Auszahlung der Gehaltsreste.

466 Der Mediziner war selbstverständlich für reichliche Dotierung des Gartens, der eine Fülle von Heilpflanzen berge.

Der Philosoph sekundierte ihm mit attischer Beredsamkeit. Ihn beschäftigten zurzeit wichtige Fragen. Er beobachte seit Jahren an der Sonnenblume die Reaktion des scheinbar Leblosen aufs Licht und an der Mimose die Reaktion auf die Berührung. Schon sei er nahe daran, die Seele der Pflanze zu entdecken. Erfriere also im kommenden Winter der Bestand des Gewächshauses, dann sei er empfindlich geschädigt. Auf einen boshaften Zuruf des Mathematikers aber antwortete er sogleich mit Würde: Wenn er sich zur Winterszeit mit Vorliebe dort aufhalte, dann geschehe dies nicht etwa aus Sparsamkeit, sondern aus Liebe zur Wissenschaft. Als eine Wärmestube betrachte er das Gewächshaus mitnichten.

Aufmerksam hatte Töbing zugehört. Jetzt erhob er sich und fragte den Botanikus, welche Summe er zur Beheizung seines Warmhauses brauche. Die Antwort lautete: Fünfhundert Gulden.

Mit erhobener Stimme fuhr Töbing fort: »Fünfhundert Gulden, meine Herren!« Und nun beleuchtete er noch einmal den Gegenstand von allen Seiten, wies darauf hin, daß es sich also zunächst nur um die Erhaltung des Gartens handle, und daß der weitere An- und Ausbau eine cura posterior sein könne und sein müsse. Zum Schlusse rief er den Rechtssinn der Kollegen an: man dürfe die schweren Opfer der einzelnen nicht annehmen, ja man müsse den Widerstrebenden wenigstens einen Teil ihrer Gehaltsrückstände sogar wider ihren Willen aufdrängen.

Er schritt zur Abstimmung, und sein Antrag siegte mit zwei Dritteln der Stimmen.

Als das Ergebnis bekannt wurde, sagte Professor Gotthold vernehmlich zu seinem Nachbarn: »Ich vermisse bei 467 manchem unserer Kollegen den Idealismus, der nun einmal nach meiner unumstößlichen Anschauung die unverrückbare Grundlage des Hochschulwesens ist und bleiben muß. Über alles die Ehre unseres Standes!«

Dann aber brachte Töbing den Kollegen eine Ministerialentschließung zur Kenntnis: Des Königs Majestät hatte sich aus zwingenden Gründen Allerhöchst bewogen gefunden, den Hochschülern fortan die Teilnahme an irgendwelchen Verbindungen, Landsmannschaften und dergleichen bei schweren Strafen zu verbieten. Jeder Student sollte mit Beginn des Semesters auf Ehrenwort an Eides Statt versichern, daß er in keiner dergleichen verbotenen Gesellschaft stehe, noch in solche künftig treten wolle, und wenn er seither Mitglied einer solchen gewesen, daß er derselben entsage.

Zuerst saßen die würdigen Herren mit verdutzten Gesichtern. Dann rief einer: »Unerhörte Antastung der akademischen Freiheit!« Ein anderer: »Geschieht ihnen recht, diesen hochmütigen Burschen!« Und ein Dritter: »So macht man die Hochschulen zu Mistbeeten der Heuchelei!« Und es begann ein Austausch der Meinungen, daß die angedunkelten Gewölbe widerhallten.

Gegen drei Uhr verließen erregte Gruppen den Sitzungssaal. Niemand vermochte sich die eigentliche Veranlassung dieser unerwarteten Entschließung zu erklären. Aber man war im allgemeinen geneigt, sie auf den allmächtigen Kaiser zurückzuführen.

Vom botanischen Garten sprach nun keiner mehr – nicht einmal der Botanikus.

*

Auch die Frankenburschen hatten eine wichtige Sitzung gehabt. Und um dieselbe Stunde kamen sie die Stiege ihres Kommershauses herab – in vollen Farben, mit 468 ernstfeierlichen Gesichtern. Ihr Erster war gewählt, Wolfgang Eysen war Senior geworden.

Gerhard ging mit etlichen seiner Brüder die langgestreckte Straße hinunter. Da sah einer von ihnen auf und erblickte weit vorne zwei Gestalten, die sich gegeneinander bewegten und zusammenprallten. Und er wandte sich lachend zurück und fragte Gerhard, ob er's gesehen habe.

Der hatte nichts gesehen.

»Der Pleßbach hat den Körbelius gerempelt und vom Bürgersteig auf die Fahrstraße gestoßen.«

»Daß ihn der Teufel –!« rief Gerhard. »Und dieser Körbelius hat's doch gar nimmer nötig.«

»Wieso?«

»Der Alte vom Körbelius ist ja nimmer Pleßbachscher Schulmeister.«

»Seit wann denn?«

»Seit den Ferien sitzt der Alte auf einer guten königlichen Stelle.«

Sie gingen weiter. Nach einer Weile fragte Gerhard: »Wenn er nun Genugtuung von ihm fordert?«

Alle lachten, und einer rief: »Er wird sich hüten.«

»Wer weiß?« meinte Gerhard.

»Das gäbe einen Hauptspaß,« sagte ein Altbursche.

»Steckt er denn nicht im Verschiß?« fragte ein altes Haus.

»Keine Rede. Man hat ihn einfach laufen lassen.«

»Er ist aber doch wiederholt von Pleßbach mißhandelt worden?«

»Ihr wißt ja, er war bisher in einer Zwangslage,« erklärte Gerhard.

»Kann er das vor dem Seniorenkonvent beweisen, dann steht einer Forderung kaum ein Hindernis im Wege. Aber ich zweifle doch vorderhand noch stark –« sagte der Altbursch.

469 »Wir werden sehen,« meinte Gerhard und begann leise vor sich hin zu pfeifen. –

Kurz danach stand er in der Dachstube des Kandidaten. Er fand ihn mit gefalteten Händen auf seinem Bette sitzend und vor sich hin starrend. Am Tische arbeitete das Brüderchen.

»Körbelius, ich habe mit dir zu reden!«

Der Kandidat hieß den Knaben hinausgehen.

Sie waren allein, und Gerhard begann den Kampf, der ihm über die Maßen wichtig erschien.

»Denkst du noch an das Ehrenwort, Körbelius, das du mir in der letzten Fechtstunde vor den Ferien gegeben hast?«

»Frey, ich bitte dich, sei barmherzig. Ich weiß, was du willst. Aber ich kann mich nicht so leichthin entschließen.«

»Denkst du noch an das Ehrenwort, Körbelius, das du mir in der Fechtkammer drunten gegeben hast?«

»Aufgestachelt und überrumpelt von dir, Frey.«

»Als du so gut fechten konntest, daß die Partie zwischen dir und Pleßbach mindestens gleich war, gelobtest du mir –?«

Körbelius trat mit gefalteten Händen vor Gerhard und flehte um Geduld. Halb abgewandt, mit verächtlicher Miene stand der Bursche.

»Nur nicht jetzt im Augenblick eine Entscheidung!« flehte der Kandidat. Und mit ausbrechender Heftigkeit wies er darauf hin, wie ungleich trotz allem die Partie wäre: Dort ein freier, reicher Kavalier, der nur für sich zu sorgen habe – hier ein dem Brüderchen verpflichteter Bettelstudent, die Hoffnung armer, im Kampf des Lebens ausgemergelter Eltern.

Aber der Bursche blieb unerbittlich. Es handle sich um die Ehre im allgemeinen und um ein Ehrenwort im besonderen. Ob denn Körbelius meine, daß er ihn all die Zeit her zu seinem Vergnügen unterwiesen habe? Ob er wirklich ein Feigling sei? Ob ihm das Leben höher stehe als die Ehre?

470 Körbelius wand sich vor ihm und rief Gottes Wort und menschliche Weisheit zur Hilfe. Aber unbeugsam bestand der honorige Bursche auf seinem Schein.

Endlich rief der Unglückliche: »So laß mich laufen! Noch zwei Semester, und ich bin der Hochschule entwachsen. Wenn ich aber draußen irgendwo auf einer weltverlorenen Pfarre mein bescheiden Wesen treibe, dann denkt doch kein Mensch mehr daran, daß ich vorzeiten einmal Unrecht erlitten und um der Meinen willen dazu geschwiegen habe.«

Gerhard blieb unbewegt. Er hatte sich's in den Kopf gesetzt, diesen Verlorenen herauszureißen, ihm das höchste Gut zu retten – die studentische Ehre. Und er benützte das erpreßte Ehrenwort als Fessel und Kette.

Es pochte an der Stubentüre. Gerhard aber stand mit ausgestreckter Hand vor dem Überwundenen: »Heute abend noch bringe ich ihm deine Forderung.«

Der Stiefelfuchs der Franken trat unter die Türe. »Herr Frey – sogleich zum Konvent!«

»Wir kommen doch gerade aus dem Konvent?«

»Herr Frey!« Der Stiefelfuchs zog ihn am Rockärmel aus der Stube. Draußen vor der Türe flüsterte er: »Die Franken fliegen auf!«

»Bist wohl verrückt?«

»Noch nicht, aber vielleicht werd' ich's.«

»Sag's, was du weißt!«

»Der Herr König hat dem Prorektor einen Brief geschrieben: Alle Burschen müssen ihren Farben abschwören.«

»Und Hundsvötter werden?«

»Das nicht. Aber – Obskuranten.« –

Gerhard ging die ächzenden Stufen hinab, und hinter ihm tappte der kleine, treue Kerl.

Im Hausflur des ersten Stockwerkes stand das Brüderchen des Körbelius und zog die Mütze.

471 Der Bursche bemerkte es nicht und schritt vorüber.

Das Kind kam hinauf und öffnete die Stubentüre. Der Bruder saß auf dem Bette und weinte.

Schüchtern fragte das Kind: »Fehlt dir 'was?«

Er gab keine Antwort. Da setzte sich das Kind an den Tisch.

Eine Zeitlang knirschte seine Feder gleichmäßig über das Papier. Dann stockte sie.

Wiederholt blickte der Knabe hinüber zum Bruder. Endlich flüsterte er: »Darf ich dich etwas fragen?«

Der Kandidat nickte.

»Wie übersetzt man das: Ausschlaggebend sind nicht die Meinungen der Menschen, sondern die göttlichen Gesetze? Ausschlaggebend?«

»Ein wahrer Satz,« murmelte Körbelius und rührte sich nicht. »Und ein so einfacher Satz.«

Geraume Zeit wartete das Kind. Dann erhob es sich, trat neben den Bruder, legte ihm zaghaft die Hand auf die Schulter und sagte mit weinerlicher Stimme: »Dir fehlt doch 'was!«

Da riß er das Brüderlein an sich, streichelte sein Haupt und küßte es auf die Stirne.


Blätter aus Gerhards Tagebuch. Oktober 1812.

Jawohl, da steht's geschrieben von meiner Hand, schwarz auf weiß niedergeschrieben im März dieses Jahres. ›Es kann wohl kommen, daß ich ebenso unglücklich werde wie der junge Werther. Aber das gleiche Unglück hätte nicht die gleiche Wirkung auf mich und mein Leben.‹

Ich war ein guter Prophet: Ich bin so unglücklich geworden wie jener; aber ich bin nicht der Schwächling, der sich eine Kugel in den Kopf jagt, weil ihn ein Weib verschmäht hat.

472 Ha, es gibt Höheres und Besseres als Frauenliebe.

Mein Blut tobt, meine Pulse klopfen. Sei ruhig, mein Blut, ebbet ab, ihr hüpfenden, springenden, schäumenden Empfindungen! Ich will Ruhe haben. Deshalb greife ich zu dir, du stilles Buch, dessen unbeschriebene Blätter goldgerändert vor mir liegen wie die Tage meines Lebens. Im Schreiben will ich Klarheit suchen, Klarheit und Freiheit und die Überzeugung, daß ich dennoch im Recht bin.

Wie Sturzwellen sind die letzten drei Tage über mich hinweggegangen. Ich aber schwimme mit ausgestreckten Armen, frei atmend den Strom hinab.

Noch klingen in meinen Ohren die leidenschaftlichen Reden und Gegenreden der Brüder. Ja, sind denn wirklich erst drei Tage vorüber seit jenem Konvent? Mir dünkt, es sind drei Monde, drei Jahre.

Eysen leitete zum erstenmal die Verhandlungen.

Es war ein unerhörtes Attentat auf die burschikose Freiheit geschehen. Wir schäumten wider die Zumutung, unsere stolze Gesellschaft widerstandslos zertreten, unsere herrlichen Farben auswischen zu lassen.

Die Meinungen wogten durcheinander. Endlich fand Brocken das Richtige. Es wird mir ewig unvergeßlich bleiben, wie er in nachlässiger Haltung vor uns stand. Seine Hände staken in den Hosentaschen, seine Lippen waren verzogen zu dem spöttischen Lächeln, das wir so wohl an ihm kennen; den Kopf hatte er zurückgeworfen und von oben herab sprach er die spöttischen Worte: ›Was regt ihr euch auf, werte Brüder? Les fous serrent les nœuds, et les sages les dénouent. List gegen Hinterlist. Ich trete morgen mit Vergnügen vor den Syndikus und gebe mein heiliges Ehrenwort, daß ich keiner Gesellschaft angehöre.‹

›So willst du austreten?‹ fragte Senior Eysen in der lautlosen Stille.

473 ›Jawohl, mein Bruder. Das heißt für den Augenblick, wo ich die Erklärung abgebe und – meinetwegen mit meinem Blute – den Wisch unterschreibe. Habe ich die Feder weggelegt, dann bin ich wieder der Eure. Ja, ich will noch ein übriges tun zur Salvierung meines zarten Gewissens: Ich schwöre jetzt in diesem Augenblicke unsern stolzen Farben ab, begebe mich heim und faste bei Wasser und Brot zur Vorbereitung auf die feierliche Stunde. Euch aber rate ich, geht hin und tut desgleichen.‹

›Und dann?‹ fragte Eysen.

›Nun, dann tragen wir meinetwegen auf der Straße farbenlose Hüte, und wenn einer recht bierehrlich sein will, dann schlingt er das gold-rot-goldene Band um die nackte Männerbrust. Hier aber in unserm Kommershaus, hinter verschlossenen Türen, tragen wir unsere Farben, singen und saufen wie vorher und warten auf bessere Zeiten.‹

›Und womit entschuldigst du den Bruch des ehrenwörtlichen Versprechens, das uns gleichzeitig abverlangt wird?‹

›Mit menschlicher Schwachheit,‹ sagte Brocken salbungsvoll, verneigte sich spöttisch und verdrehte die Augen.

Einer der ersten, die seiner Rede zujubelten, war der Truthahn. Mir aber, ich gestehe, lief es zunächst kalt und heiß den Buckel hinunter; denn ich bin das Lügen nicht gewohnt.

Ich will ganz wahrhaftig sein in diesem Beichtbuche, rückhaltlos wahrhaftig. Also, ich dachte an jenen meinen Konfirmationsabend, an das Gespräch über den Ehrbegriff der deutschen Studenten und an die höhnischen Worte des französischen Offiziers – und ich gedachte meines seligen Vaters.

Nein, ich will nicht irre werden! Was hülfe es auch? Unser fünfundvierzig honorige Burschen und Füchse haben nach Brockens Rat dem Syndikus ins Angesicht erklärt, daß 474 wir keiner Gesellschaft angehören noch angehören werden, und haben's mit Unterschrift bekräftigt. Ha, und wer wagt es nun, die Ehrenhaftigkeit der Fünfundvierzig anzuzweifeln? Ich wollt' es keinem raten! Wir sind honorige Studenten wie vordem, und wir entscheiden nach wie vor als höchster Gerichtshof über die Ehre unserer Kommilitonen. Es ist ja schändlich, auf Ehre zu lügen und zu trügen – aber die Schande fällt nicht auf uns Burschen, sondern auf unsere Bedrücker.

Einer allerdings, und nicht der Schlechteste unter uns, hat sein Gewissen wirklich salviert – und das ist Eysen. Schrecklicher Sturz: Wenige Stunden lang der stolze Senior der stolzesten Gesellschaft. Und jetzt als obskurer Bursche auf der Landstraße nach Jena.

Und dennoch – ehrlich, Gerhard Frey! Ich kann mir die Franken ohne ihn noch gar nicht denken. Er ist ein honoriger Bursche, und ich achte im Grund meiner Seele, was er mir vor seiner Abreise sagte: ›Kann nicht über diesen Stein, muß ihn umgehen. Lieb ist mir die Gesellschaft, lieber mein gutes Gewissen. Über alles die Ehre!‹

Leb wohl, wackerer Eysen! Ich halte inne und gedenke dessen, was du mir gewesen bist. Kein bequemer, aber ein ehrlicher Freund.

Es gibt mitten unter den zahllosen Ziellosen solche, die einen untrüglichen Kompaß in sich tragen, dessen feine Nadel ihnen immer wieder den Weg zeigt. Auch diese Nadel kann ins Zittern geraten, und auch diese Zielbewußten sind dem Irrtum unterworfen. Aber sie werden sich niemals unrettbar verirren.

Zum Teufel, was ist mir da aus der Feder geflossen? Die Menschen sind verschiedener Art, und ich bin nicht Eysen, und Eysen ist nicht ich. Auch ich komme auf meinem Wege zum Ziel. Kopf in die Höhe, wie es einem forschen Senior geziemt. Denn jetzt bin ich der Senior der Franken.

475 Sollte mir aber jemals der Gedanke an jenes ehrenwörtliche Versprechen vor dem Syndikus peinlich werden, dann will ich sofort an den Truthahn denken. Es ist doch ein Unterschied zwischen Ehrenwort und Ehrenwort:

Am folgenden Mittag, als ich unser Kommershaus betrat, sah ich im Torweg auf dem Steinbänkchen einen klobigen Bürgersmann sitzen. Der stand auf, trat auf mich zu, sah mich an und fragte, ob ich der neue Senior der Franken wäre. Ich antwortete, es gäbe keine Franken mehr, und nahm das beschmutzte Papier, das er mir hinhielt. Es war eine Schuldverschreibung in den mir wohlbekannten Schriftzügen des Truthahns und seine Versicherung auf Ehrenwort, ein Darlehen von hundert Gulden bis zum 15. September 1812 zurückzahlen zu wollen. Das Papier zitterte in meiner Hand, und fragend sah ich den Menschen an. Der zuckte gleichmütig die Achseln und meinte, er habe einen Monat und etliche Tage über das Ziel gewartet; aber nun sei seine Geduld zu Ende. Der Herr Student müsse ihn bezahlen, oder er heiße ihn öffentlich einen ehrlosen Tropfen. Ich las die Verschreibung noch einmal. Es konnte kein Zweifel bestehen. Die Buchstaben begannen vor meinen Augen zu tanzen, die Buchstaben, mit denen einer in bodenlosem Leichtsinn seine Ehre weggeworfen hatte.

Sofort berief ich den Konvent und forderte den Bruder zur Rechtfertigung auf. Er gab sein Vergehen zu. Aber trotzig rief er, daß doch jeder von uns zunächst vor seiner eigenen Türe zu kehren hätte. Man ließ ihn abtreten. Er war ja nicht unbeliebt in unserer Gesellschaft. Aber selbst Brocken, der ihm am nächsten gestanden und – wie wir wohl wußten – der Verführer zu manch einer leichtsinnigen Suite gewesen war, konnte nichts mehr zu seinen Gunsten vorbringen. Er wurde einstimmig cum infamia dimittiert. Als ich ihm den Beschluß des Konvents eröffnete, gebärdete 476 er sich wie ein Wilder und rief uns ein über das andere Mal zu: ›Seid ihr vielleicht besser als ich? Habt ihr nicht vor wenigen Stunden euer Ehrenwort gebrochen, brecht ihr's nicht jetzt in diesem Augenblick, wo ihr als angeblich honorige Burschen über mich zu Gericht sitzt in einer Gesellschaft, die von Rechts wegen gar nimmer besteht?‹ Es war die Wut der Verzweiflung, die ihm solch maßlos heftige Worte über die Lippen jagte. Mit Gewalt mußten wir den ehemaligen Bruder aus dem Kommershaus entfernen. Ich aber wunderte mich, daß die Erziehung bei ihm so wenig Erfolg gehabt hatte. Und sein Vorwurf ist doch so unlogisch als möglich. Wir sind honorige Burschen, wie er es sein könnte. So aber ist er fortan für jeden von uns ein Mann ohne Ehre, ein erblindeter Spiegel. – –

Ich bin unterbrochen worden. Das Gräflein hat mich gestört, mein Telemach, wie die Brüder ihn nennen. Herr mein Gott, warum habe ich mir den aufhalsen lassen? Ich tauge nicht für die Rolle eines Mentor, und die jungen, tappigen Jagdhunde habe ich meintag nicht gemocht. Jetzt aber läuft mir so einer mit rührender Treue auf Schritt und Tritt nach und fragt mich in allen möglichen und unmöglichen Fällen um Rat. Er ist mir ins Gewissen gebunden. Jawohl, hochgräfliche Exzellenz, das ist bequem gewesen und hat gar nichts gekostet als etliche gnädige Worte.

Halt, Frey! Ehrlich, Frey! Sie hat das Vertrauen zu dir, und wahrhaftig, dir ist viel Gutes von ihr und den Ihrigen geworden deine ganze Jugend hindurch. Du wirst dich bezwingen, Gerhard Frey, und dem guten Menschen ein wirklicher Bruder sein!

Zwei Brüder und eine Schwester – beinahe eine ganze Familie. Goldgerändertes Buch, werde nun zum Särglein und verschwinde zugleich mit ihrem zerlesenen Briefe lautlos in der Tiefe der Schublade. Kopf hoch, Gerhard Frey! 477 Es gibt Besseres auf deutschen Hochschulen als Frauenliebe. Kopf hoch, wackerer Frankensenior, es geziemt dir nicht, tagtäglich den Brief eines Frauenzimmers mit Tränen zu benetzen wie all diese Wochen her. Kopf hoch, es werde ein Ende. Den letzten Kuß darauf gedrückt – und dann auf ewig ade!


Er hielt den dünnen Briefbogen in der zitternden Hand und las halblaut:

»Lieber Herr Frey. Vor mir liegt der Zettel, den Sie mir aus Ihren Ferien geschickt haben, der Zettel mit den heißgeliebten Schriftzügen Ihres Bruders. Und es ist mir, als spräche die Stimme des Toten herüber aus der jenseitigen Welt, wenn ich lese: ›Du meine andere Seele! Zwölf Wochen sind vorübergegangen, seit ich von dir schied, und mein Bruder sendet dir nun, wie ich ihn gebeten, diesen Brief. Glaube du fest, daß ich mein Erdenkleid abgelegt habe und dem Lande entrückt bin, in dem alles gegründet ist auf Freien und Gefreitwerden. Ich bin dahingefahren, wie ich gekommen war. Doch einen Schatz habe ich zurückgelassen. Und was ist natürlicher, als daß dieser Schatz im Erbgange übergehe an den, der mein Bruder gewesen ist im Fleisch? Ich preise mich glücklich, daß ich seine Liebe zu dir im letzten Augenblick noch erkannt habe, und ich vermache dich ihm hierdurch in aller Form Rechtens. Gott segne, was er für einander bestimmt hat.‹ – Lieber Herr Frey. Ich mußte diese Zeilen in mein Antwortschreiben einfügen. Weiß ich ja doch nicht, ob Sie davon eine Abschrift besitzen. Ich ging seit jenem unseligen Abschiedstage einher wie eine, die zwiefach zu leben verurteilt ist. Die eine Seele war bedacht auf die tägliche Besorgung der häuslichen Geschäfte, und diese Geschäfte liefen ab wie ein Uhrwerk vom Morgen bis zum Abend. Die andere Seele 478 aber flatterte wie eine verwundete Taube, fand nicht Ruhe und Rast, flatterte in die Ferne und kehrte zurück, umflatterte ihre Schwester und wunderte sich, daß jene wirken konnte, wo doch sie selber so krank war. Nun aber, seit ich Ihren Brief in Händen halte, ist mir Seltsames begegnet: Es hat sich eine Vereinigung dessen, was getrennt war, vollzogen; es ist mir klar, frei und – wollen Sie mich recht verstehen – gesund und stolz zu Mute geworden, wie schon lange nicht mehr. – O du heißgeliebter, dahingegangener Schwärmer! Nie noch bist du mir schärfer umrissen vor Augen gestanden als gerade jetzt, wo ich dich willkürlich verfügen sehe über ein Mädchen, das dich mehr geliebt hat als alles auf Erden. Ja, es ist mir, als hätte ich dich zu meinem Heil und zu deinem Besten schon früher mit solcher Schärfe des Blickes erkennen sollen. Dann wäre manches anders gekommen. Herr, vergib mir die Schuld! – Lieber Herr Frey. Einen goldenen Becher kann man wandern lassen im Erbgang von Hand zu Hand, und ein Grundstück darf man seinem Bruder verschreiben für Leben und Sterben. Aber es ist in unsern Zeiten unerhört, daß ein deutsches Mädchen willenlos übergehe aus der Hand eines Toten in die Hand dessen, den er ihr ausgewählt hat. Achten Sie es nicht für Herzlosigkeit, wenn ich Ihnen bekenne: zum ersten Male seit jenem furchtbaren Tage der Trennung habe ich – wenn auch nur ganz wenig und mit zuckenden Lippen – gelächelt, als ich das Testament las, das über meinen Leib und meine Seele verfügt. Lieber Herr Frey, das schlagen Sie sich nur ja aus dem Kopf. Ich habe Ihrem Bruder ein Allerheiligstes in meinem Herzen errichtet. Dort werden tagtäglich meine Gedanken knieen und beten für seine Ruhe. Was wir aber den geliebten Lebendigen so gerne einräumen, die Allmacht über uns selbst, das gestehen wir nimmermehr den Toten zu, die wir betrauern. Die Toten sollen nicht herrschen im Lande der 479 Lebendigen. – Lassen Sie mich hoffen, daß Sie ein deutsches Mädchen so verstehen, wie es von einem ehrlichen Manne und honorigen Burschen verstanden sein will. Und lassen Sie mich wünschen, daß ich den Bruder des toten Geliebten stets nennen darf meinen Bruder und Freund. Ihre treugesinnte Konstanze Töbing.«

*

Vier Tage waren vergangen, nachdem Gerhard Frey sein Buch mit dem Briefe der Geliebten in die Schublade versenkt hatte. Da riefen sich die Leute auf den Gassen zu, man habe den Baron von Pleßbach erstochen im Walde gefunden. Und an demselben Abend pochte ein bleicher Knabe schüchtern an die Stubentüre der schwarzen Moral und erzählte schluchzend, der große Bruder sei den ganzen Tag nicht nach Hause gekommen.

Körbelius kam auch an diesem Abend nicht und er kam nimmermehr.

Wohl stieg die Hausjungfer sogleich zu Gerhard hinauf und fragte ihn dringend nach dem Verbleib des Kandidaten. Der Frankensenior stand vor dem Spiegel und rasierte sich. Zuerst tat er, als vermöge er bei diesem Geschäfte kein Wörtlein hervorzubringen. Als er sich aber vollends abgeschabt hatte und nicht mehr ausweichen konnte, stieß er mit harter Stimme heraus, er wisse das nicht, er könne sich doch wahrhaftig nicht um alle Studenten dieser Hochschule bekümmern. Sie blieb ruhig stehen und sah ihn mit seltsamen Augen an. Dann wandte sie sich ab und ging. –

Nach zwei Tagen begruben sie den honorigen Burschen, der ohne Zweifel im Duell gefallen war.

Es war sehr feierlich, als in der Dämmerung des späten Nachmittages um das offene Grab her die Fackeln flammten und qualmten, und als man endlich alle Fackeln auslöschte und ihre Gluten zertrat. Ein feiner Sprühregen ging 480 hernieder. Mit gezogenem Degen, ohne jedes farbige Abzeichen, standen die Chargierten der drei Gesellschaften im Kreis um das Grab. Der Sarg glitt in die Tiefe, und die ganze Korona stimmte die letzte Strophe des Liedes an: Vom hohen Olymp herab ward uns die Freude. Gewaltig brauste der Gesang zum grauen Himmel empor:

Ist einer unsrer Brüder dann geschieden,
vom blassen Tod gefordert ab,
so weinen wir und wünschen Ruh' und Frieden
in unsers Bruders stilles Grab.
Wir weinen und wünschen Ruhe hinab
in unsers Bruders stilles Grab.

Klirrend schlugen die Degen zusammen und grüßten zum letzten Male den toten Burschen da unten. –

Gerhard ging mit hocherhobenem Haupte zwischen seinen Brüdern heim. Er war bleich, als ihm die Hausjungfer mit der brennenden Kerze ins Gesicht leuchtete, und seine Züge hatten die harmlose Rundung der Jugend auf immer verloren.

In der Stube zur ebenen Erde war Besuch. Eine schluchzende Knabenstimme erzählte; die tiefe Stimme eines Mannes fragte zwischen darein.

Gerhard stieg nach oben und kleidete sich um. Bald schon kam er zurück und ging auf die Straße.


Im Kommershause war's behaglicher als in der stillen Studierstube unter der Dachbude, wo heute der Vater des verschollenen Kandidaten mit seinem Kinde nächtigte. Im Kommershause konnte man trinken und sich emporschwingen aus der öden Gegenwart auf die Höhen burschikoser Freiheit. Im Kommershause konnte man singen, singen aus tiefer Brust und vollem Hals, und im dröhnenden Männergesang ersticken die lästige Stimme, die fort und fort wie pochender Pulsschlag mahnte und klagte. –

481 Am späten Abend setzte sich Graf Johann neben den Senior und sah diesen von der Seite an.

»Willst 'was?« fragte Gerhard nach einer Weile.

»Ich möchte dich wohl etwas fragen, aber ich weiß nicht, wie du's aufnimmst.«

»So frag halt, du Horn, dann wirst du's schon sehen!«

»Ich muß immer an den kleinen Körbelius denken. Was soll denn nun aus dem Buben werden?«

Der Senior verzog keine Miene und blickte geradeaus.

»Mein Vater hat aber doch eine Menge Stipendien zu vergeben, auch solche, die für Lateinschüler gestiftet sind.«

Das Gräflein wagte die Augen nicht aufzuschlagen. Deshalb sah es auch nicht das Aufleuchten in den Augen des Seniors.

Zaghaft fuhr es fort: »Und da hab' ich nun gedacht, ich will alles heimschreiben an meinen Vater.«

»Das kannst du, soweit es sich dabei nicht um Geheimnisse der Gesellschaft handelt,« sagte Gerhard mit der gleichmütigen Zurückhaltung, die einem Senior so gut zu Gesichte steht.

»Wie bin ich froh, daß du einverstanden bist. Ich möchte nämlich beileibe nicht Anstoß erregen bei dir und den Brüdern. Und ich sehe doch, daß ihr in manchen Stücken anders denkt als die Leute draußen in der Welt.«

»In vielen Stücken,« sagte der Senior herablassend und hob den Krug. »Prost, Fuchs, sauf's!« 482

 


 


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