August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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8. Die Bauern

Die hungrigen, gierigen Fremdlinge waren vorübergezogen und hatten landauf und landab hinter sich gelassen zerschlagene Fenster und Türen, fast unaustilgbaren Gestank in beschmutzten Quartieren, ausgeraubte Ställe und Scheunen, da und dort auch halbverkohlte Balken und brandgeschwärzte Mauern und überall klagende Menschen.

Sie waren vorübergezogen – wohin denn? Ostwärts, der Sonne entgegen. Die Söhne der Finsternis der Sonne entgegen.

Großer Gott, und wenn sie wiederkommen?

Jawohl, sie werden, sie müssen wiederkommen.

Daran hatte zuerst niemand gedacht. Wenn der Wind über die Halme fährt, dann bücken sie sich, und wenn er vorüber ist, dann stehen sie auf und recken sich freudig gen Himmel. Also auch diese Menschen: Die Häupter empor, ein Dankgebet zu Gott – und den Besen in die Hand genommen und den Unrat aus den Häusern gefegt!

Die Glaser kitteten, die Schlosser pochten, die Schreiner hobelten, die Zimmerleute hieben, daß die Späne flogen, und die Händler schlichen von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof, standen vor den leeren Ställen und feilschten mit Lippen und Augen, mit Händen und Füßen.

Dann aber begann der und jener zu fragen in der unheimlichen Stille: ›Wo sind sie denn?‹ Und der und jener konnte Antwort geben: ›Im Oberpfälzischen hinten, wo die Kaiserlichen stehen.‹ – ›Also wird es zur Schlacht kommen. Und dann?‹ – Sie sahen sich scheu in die Augen. ›Dann werden sie wiederkehren. So oder so. Mit Beute beladen, mit fliegenden Fahnen und geschwollenen Halswülsten – 142 dann aber duckt euch, dann ist ihrer das Land und das Reich, dann werden sie euch sagen, was Freiheit ist! So – oder anders: Zersprengte Haufen, halbe Regimenter, zu Dutzenden, paarweise – gehetzt vom Feind, geritten vom Teufel, halbverhungerte, halbverzweifelte Bestien. Und auch dann gnade euch Gott!


Und es war einer, der ritt Tag für Tag auf seinem hochbeinigen Braunen, und wohin er kam, war Hilfe nahe in mancherlei Nöten. Alle kannten ihn, er aber kannte die meisten.

Das war der Arzt.

Und es begab sich oft in jener Zeit, daß er mit den Männern redete zwischen Tür und Angel oder am Gartenzaun, am Waldrand oder beim Schmied unterm Vordach, wenn drinnen die Funken sprühten und die Hämmer klangen. Und bald wußten sie genau, was er dachte, und seine Worte wurden übers Land getragen wie fliegender Same.

›Seid ihr Schafe, daß ihr euch klaglos zum Metzger führen laßt? Oder seid ihr Männer, die so stark sind wie jeder? Hört auf mich: die Franzosen werden wiederkommen, werden eure Weiber und Töchter mißhandeln und werden euch das wenige nehmen, was ihr noch übrig habt. Winter wird's, und sie liegen auf euch – wovon wollt ihr dann zehren? Einer allein kann freilich nicht trotzen. Aber wenn sich hundert zusammentun, dann ist's ein Haufe, und wenn's tausend werden, dann ist's eine Macht. Wollt ihr euch klaglos schlachten lassen wie Schafe?‹

Und sie hörten ihm zu, nickten und dachten darüber nach. Und es gefiel ihnen.


Der Bauer kam heim und schwieg. Doch er winkte dem Jungen, daß er Wasser gösse unter den Schleifstein. Da 143 drehte der Junge den Stein, und der Alte schärfte die Axt hinter der Scheune im letzten Abendsonnenglanze. Nach einer Weile fragte der Junge, ob es morgen ins Holz gehe und wer den Wagen ziehen solle, da doch kein Zugvieh mehr vorhanden sei? Der Alte schwieg und schärfte den Stahl.

Sie dengelten auch ihre Sensen, daß es hallte zwischen den Häusern des Dorfes. Immer wieder kam einer zum Schmied und brachte ihm seine scharfe Sense. Der Schmied fragte nicht erst; schweigend nahm er die Sense und tat seine Arbeit. Wenn sie aber mit geschulterten Sensen aus der Schmiede gingen, dann blinkten die Sensenblätter wie silberne Flammen schrägauf gen Himmel. Und sie lehnten zu Hause das friedliche Werkzeug in eine Ecke, daß es aufrecht stand gleich einer Hellebarde.

Da nahm wohl ein halbwüchsiger Bub die seltsame Sense, ging hinaus in den Grasgarten und kam wieder zurück. ›Vater, so geht's nimmer.‹

Der Alte schwieg.


Noch schlief die Kraft. Nicht jene Kraft, die das Pflugeisen tief in den Ackerboden drückt und die Schollen umlegt, nicht jene Kraft, die das Roß bändigt, den Eichbaum zu Fall bringt und aus den Felsen Steine bricht zum Häuserbauen. Nein, die Kraft, die hinausblickt über die Dorfmark und mit fester Hand das eigene Wohl und das Wohl der Gesamtheit umfaßt, diese Kraft schlief. Jahrhunderte hatten daran gearbeitet, sie einzuschläfern. Denn Fürsten und Herren und Pfaffen waren einig, daß man wohl Knechte brauche, nicht aber Männer. So hatten sie weit und breit die Kraft unterdrückt. Aber es ist gefährlich, über ein Volk von Knechten zu herrschen. Knechtsinn gleicht der Pest, die aus der Tiefe heraufsteigt und in der Höhe nicht halt macht. Knechtsinn war von den Bauern zu den Bürgern, von den Hörigen 144 zu den Vögten, von den Bürgern und Vögten zu den Herren und Fürsten gekrochen und blickte nun allenthalben mit stumpfen Augen aus ragenden Schlössern und von goldenen Stühlen hinaus über das deutsche Land.

In jenen Tagen aber war's, als wollte da und dort die Kraft langsam erwachen. Sie runzelte die Stirnen der Männer, sie funkelte aus ihren Augen, sie fuhr in zahllose Fäuste – eine ungeschlachte, eine ungeübte, aber doch eine unermeßliche, eine furchtbare Kraft. Wo man sie fest eingeschlafen, ja erstorben wähnte, gerade dort reckte sie sich gewaltsam empor – bei den Bauern. –

Im Staube waren die Franzosen nach Osten gezogen, und das Klagen und Wimmern der Mißhandelten klang ihnen nach. Aber dort, wo die undurchdringlichen Wälder zu einem Riesenwall aufgebaut sind gegen das böhmische Land, dort standen und warteten die verachteten Kaiserlichen, und dort brach sich der Ansturm der Söhne der Freiheit. Im Staub waren sie gen Osten verschwunden, im Brandrauche angezündeter Dörfer wälzten sie sich rückwärts gegen den fränkischen Kreis, und vor ihnen gellten die Sturmglocken von Dorf zu Dorf, flog von Mund zu Mund das grausige Wort: Sie kommen! Zwar keine Heersäule wie ehedem, sondern eine geschlagene Horde, bedrängt von den Säbeln der Kaiserlichen, gepeinigt vom Hunger, getrieben von der Angst – aber eine entsetzliche Gefahr, gerade jetzt in ihrer Verzweiflung.

Weit voran eilte das hundertfältige Gerücht: Bauer hab' acht!

Und im breiten Talgrunde, von der Grafenburg abwärts zu den Talbauern und aufwärts zu den Waldbauern in weitverstreuten Dörfern liefen Boten – nicht Boten mit dem gräflichen Wappen auf der Blechbüchse, sondern heimliche Boten des erwachenden Volkes. Und in der letzten 145 strohgedeckten Hütte wurde das geschliffene Beil zurechtgelegt, die gestreckte Sense bereitgestellt.

In all den Dörfern der Grafschaft aber nannten sie damals, erst leise, dann immer lauter einen Namen mit Ehrfurcht, mit Zuversicht: den Namen des Arztes.

Und es geschah, daß dieser durch eines der großen Taldörfer ritt und am Gemeindehause vorbeikam. Es war ein Sonnabend, und Weiber und Kinder gossen und kehrten die Straße. Vor dem Gemeindehause aber stand ein Haufe von Männern.

Der Doktor grüßte, wie er gewohnt war, und sie rückten die Mützen. Der Braune war müde und klapperte gleichmäßig im Schritt die Straße entlang. Da kam ein Bauer nachgelaufen, zog die Mütze und sagte seinen Spruch. Der Doktor wandte das Pferd und ritt an den Haufen heran.

Zuerst schwiegen sie alle und sahen auf ihn. Er aber kannte seine Leute und schwieg auch. Dann begann er vom Wetter, und Rede und Antwort ging hinüber und herüber. Endlich sagte der Schultheiß: »Ich meine, wir machen uns vors Dorf, da können wir frei sprechen.«

Der Doktor stieg ab, einer führte sein Pferd in den nächsten Stall, und der Haufe bewegte sich hinaus unter die Linde. Viele Kinder folgten von weitem. Mit harten Worten scheuchte man sie zurück.

Die Linde war sehr alt; zwölf Männer konnten sie mit Mühe umspannen. Eigentlich waren's zwei ineinander gewachsene Bäume, vereinigt im riesigen Stamme, zweifach auseinander strebend in ihren gewaltigen Ästen.

So standen die Männer schweigend im Schatten des heiligen Baumes. Dann hob der Schultheiß an zu reden, stoßweise, in ungeschlachten Sätzen. Die andern schwiegen, und alle Augen waren auf den Doktor gerichtet.

Die erwachende Kraft tastete unbeholfen nach einer Stütze.

146 Der Schultheiß hatte alles gesagt, was er wußte: sie seien einig, die Dörfer im Grund, alles, was Mannsbild heiße, wäre bereit, und auch die Walddörfer wollten mittun. Seien schon zusammengekommen, viele Schultheißen und viele Geschworene – aber da heiße es halt auch, viel Köpf', viel Sinn. Einen Führer möchten sie haben.

Der Doktor stand hochaufgerichtet vor dem Haufen der Männer. Hinterm Walde ging die Sonne unter, und in ihren letzten Strahlen leuchtete sein langer, blonder Bart. »Ganz goldig,« sagten die Bauern späterhin, wenn sie von diesen Dingen erzählten.

»Was für eine Macht hätte ich dann über euch alle, ihr Leute?« fragte er endlich.

»Wir geben Ihnen alle Macht, Herr Doktor,« antwortete der Schultheiß.

Der Arzt schwieg und senkte die Augen. Fester umklammerte seine Hand den silbernen Griff seines Reitstockes. Es mochte ihm zu Mute sein wie damals, wo die Kommilitonen ihm die Würde des Ersten übertragen hatten und alle Macht im Ordensverbande.

»Wollt ihr nicht doch lieber zum Herrn Grafen gehen als zu mir?« fragte er nach einer Weile.

Da waren sie alle stille und blickten zu Boden.

Endlich murmelte einer etwas, und der Schultheiß rief: »Sag's laut, was du weißt!«

»Den Herrn Doktor wollen wir,« meinte der Bauer.

»Der Graf kann uns nit helfen, das kann nur der Doktor,« äußerte sich ein anderer.

Der Arzt ließ seine Blicke von einem zum andern gehen. »Ich? Was kann denn ich? Der Graf ist euer angestammter Herr. Und mit dem Grafen muß man reden, das ist billig und recht.«

»So soll der Herr Doktor mit dem Grafen reden,« lenkte der Schultheiß ein. »Uns ist's so recht und so.«

147 »Wenn uns aber der Graf nicht helfen will?« fragte ein anderer aus dem Haufen heraus.

Der Arzt reckte sich: »Ihr könnt euch auf mich verlassen.«

Beifälliges Gemurmel erhob sich, und der Schultheiß sprach: »Ein Mann, ein Wort.«

»Das aber sage ich euch,« rief der Arzt mit erhobener Stimme, »Grausamkeiten gegen den Feind erlaube ich nicht, wenn ich euer Führer sein soll.«

»Wir wollen uns nur der Haut wehren,« meinte der Schultheiß und machte ein treuherziges Gesicht.

»Daß wir nit mehr wie die wilden Tiere in Wald laufen müssen!« rief ein anderer.

»Ganz recht, und dazu helf' ich euch mit Herz und Hand,« rief der Doktor. »Aber Mannszucht muß sein.«

»Mannszucht, ja wohl, die muß sein,« bestätigte der Schultheiß.

»Denn wir sind keine Räuber, verstanden?«

»Die Räuberei hat schon der Franzos besorgt,« äußerte sich einer im Hintergrunde.

»Ganz recht,« antwortete ihm der Arzt. »Aber da hofft wohl der eine oder der andere von euch: laßt sie nur kommen, und wir werden uns schadlos halten.«

»Könnt' uns auch kein Mensch nit verdenken,« rief einer.

»Aber ich tät's euch verdenken, ich und alle Biederleute,« donnerte der Arzt.

»Laßt halt den Herrn Doktor reden!« begütigte der Schultheiß und machte sein treuherzigstes Gesicht.

»Wir wollen alles tun, was der Herr Doktor will,« sagte ein alter Bauer.

»Das ist die erste Bedingung!« rief der Arzt. »Wenn andere Leute die Hände dreckig haben, dann müßt ihr euch die Hände nicht auch dreckig machen. Verstanden? Und einen Räuberhauptmann geb' ich euch nicht ab.«

148 Da und dort wurde ein Gesicht nachdenklich, da und dort ließ einer den Blick schief am Doktor vorübergleiten; vor dem und jenem tauchten wohl in Gedanken die kleinen zerlumpten Kerle mit den schrecklichen, goldstrotzenden Halswülsten empor. Aber was gab's da zu überlegen? Die Kraft tastete nach ihrer Stütze, die vielen Köpfe mußten einen Kopf haben, der weiter denken konnte, und der da vor den Bauern hatte den Kopf. Sie stimmten dem Arzte bei, und der Schultheiß rief mit lauter Stimme: »Wir sind keine Räuber, da kann sich der Herr Doktor verlassen.«

Nun hatte der Ideologe seinem Gewissen genug getan. »Recht so!« sagte er und nahm den Hut vom Haupte. Einer nach dem andern nahm die Mütze ab, und wenn sie später davon erzählten, vergaßen sie niemals beizufügen: »Es ist ganz wie in der Kirche gewesen.«

Der Doktor aber rief: »Und ich verspreche, euch mit allen meinen Kräften zu raten und zu helfen. Wir wollen dem Franzosenvolke die Zähne weisen, und wenn sie als unsere Feinde wiederkehren, dann wollen wir sie niederhauen, so wahr uns Gott helfe. Ich aber komme, wenn ihr mich ruft, ich komme bei Tag und bei Nacht.«

»So wahr uns Gott helfe!« sagte der Schultheiß andächtig, ging einen Schritt vor und gab dem Doktor die Hand. Und wie er, so taten sie alle im Abendscheine unter dem Lindenbaume.

Also wurde der Doktor der Führer der Bauern.


Am selben Abend noch stieg er zum Schloß empor und ließ sich beim Erbgrafen melden. Lang sprach er mit ihm, dringend, beredt, erregt.

Der Erbgraf saß mit unbewegtem Gesichte, vorgeneigt hörte er ihm zu, die Hände hatte er um die Knie gefaltet.

»Bist du nun fertig?«

149 »Ich denke, es ist alles klargelegt,« kam die Antwort zurück.

Da stand der Erbgraf von seinem Sitze auf. »Und es ist dein Ernst, daß ich das meinem Vater vortrage?«

»Ich bitte dich darum; denn ich halte es für meine Pflicht.«

»Du könntest's mir und dir ersparen.«

»Aber dein Vater muß doch diesen Vorstellungen zugänglich sein?«

Der Erbgraf lächelte.

»Und du selbst – du bist ja doch auch auf eigene Faust nach Nürnberg geritten, du wirst mir jetzt meine Bitte gewiß erfüllen.«

Der Erbgraf schüttelte den Kopf: »Das sind zweierlei Dinge.«

»Wenn aber dein Herr Vater selbst es wünschte?«

Der Erbgraf lächelte: »Dann – ja.«

Er ging und blieb lange aus. Endlich kam er. »Mein Vater will dich empfangen.«

»Und –?«

»Ich habe nur seinen Befehl auszurichten,« sagte der Erbgraf und vermied es, dem Blicke des Freundes zu begegnen.

Der Arzt stand in der Bibliothek. Der alte Herr hatte sich von seinem Lehnstuhle erhoben, der Erbgraf war in eine Fensternische getreten.

»Sie wollen wirklich den Aufstand organisieren, Doktor?« Es klang sehr von oben herab, und die R rollten vornehm wie nur je über den Besucher hin.

»Nur die Abwehr, hochgräfliche Exzellenz.«

»Sie haben schwer gelitten, Doktor. Ich bedauere, Ihnen heute erst persönlich meine Teilnahme sagen zu können.«

»Ihre Exzellenz die Frau Gräfin hat mir auch im Namen Eurer Exzellenz viel Güte erwiesen.«

»Sie haben eine ganze scharmante Frau verloren. Ich werde ihr stets das beste Andenken bewahren.«

150 Der Arzt verneigte sich.

»Nun aber könnt' es genug sein, auch für Sie.« Die Stimme des alten Herrn hatte sich verändert.

»Ich verstehe Eure Exzellenz nicht.« Der Arzt richtete sich hoch auf.

»Zuerst ist Revolution in der Stadt gewesen, jetzt aber wollen Sie den Bauernkrieg organisieren.«

»Ich habe mich an den Torheiten eines Koram nicht beteiligt, Exzellenz.«

»Haben auch nichts dagegen getan.«

»Ich denke, Exzellenz, ich habe meine Anhänglichkeit an das hochgräfliche Haus in so manchen Stunden bewiesen.«

»Man wird Ihre ärztlichen Verdienste niemals vergessen.«

»Dann bitte ich, als Arzt des hochgräflichen Hauses, aber auch als vereidigter Arzt der ganzen Grafschaft sprechen zu dürfen.«

Der Graf nickte und ließ sich in seinen Lehnstuhl nieder.

»Die Greuel der letzten Wochen dürfen sich nicht wiederholen. Was gedenken Eure Exzellenz für die Sicherheit hochihrer Untertanen zu tun?«

»Habe ich nicht schon getan, was ich zu tun vermochte?« Die Stimme des alten Herrn klang ärgerlich, und er begann in den Papieren zu wühlen, die den Schreibtisch bedeckten. »Hier, lesen Sie!«

Der Arzt nahm das große Schriftstück mit dem aufgedrückten Siegel und überflog den französischen Schutzbrief des Generals Jourdan. Dann gab er ihn zurück: »Ein Papier, Exzellenz.«

»Ein Papier, das uns zehntausend Gulden gekostet hat.«

»Und dennoch nur ein Stück Papier, Exzellenz.«

»Infolge dieses Briefes liegen dreißig französische Soldaten als Schutzwache in der Grafschaft, zehn hier oben im Schlosse und zwanzig drunten in der Stadt.«

151 »Und wodurch haben Eure Exzellenz die Zuverlässigkeit dieser Franzosen erprobt?«

Der Graf erhob sich und stampfte: »Ich habe das Meine getan, und ich bin entschlossen, diesen Vertrag zu halten. Die Bürger sollen die Tore schließen und die Mauern besetzen wie vor Zeiten – ich habe nichts dagegen – diese Fettwänste, diese Jakobiner – –!«

»Das Jakobinertum, Exzellenz, hat keinen einzigen Anhänger mehr im ganzen Städtchen.«

Da brach der regierende Herr los: »Alle miteinander seid ihr Jakobiner, ob ihr nun im Augenblick die rote Mütze tragt oder nicht, und alle miteinander hofft ihr, daß –.«

»Hochgräfliche Exzellenz halten zu Gnaden, es ist jetzt nicht an der Zeit, über politische Anschauungen zu sprechen. Der Feind steht vor der Türe. Ich weiß es ganz bestimmt, im Oberpfälzischen, man nennt Amberg, ist es zur Schlacht gekommen. Die Franzosen fliehen zurück, herwärts nach Franken. Versprengte Scharen werden ohne Zweifel auch die Grafschaft berühren. Die Bauern sind bewaffnet und sind entschlossen, Gewalt mit Gewalt abzuwehren. Ich bitte, ja ich flehe, Eure Exzellenz wollen sich gnädigst dieser Leute erbarmen. Der Bauer hat unsäglich gelitten, seine Ernte ist geraubt, seine Ställe sind geleert, was ihm sonst noch geschehen ist – Eure Exzellenz wissen es so gut wie ich. Die Bauern im Grunde, die sechs Dörfer, haben mich gebeten, daß ich ihnen helfe mit Rat und Tat.«

»Also Bauernkönig?« unterbrach ihn der alte Herr. »Ja, wissen Sie denn, was Sie da unternehmen? Sie wollen Bauern gegen reguläre Truppen führen. Haben Sie die Proklamation Jourdans gelesen? Man wird Sie und Ihre Bauern an den nächsten Bäumen aufknüpfen. Haben Sie das bedacht?«

Der Arzt verzog keine Miene. »Die Bauern haben mich 152 gebeten, daß ich ihnen mit Rat und Tat helfe. Und ich kann ihnen nicht besser helfen, als wenn ich den angestammten Herrn zu Hilfe rufe. Hochgräfliche Exzellenz erlauben, daß ich Sie einen Augenblick zurückführe in die Zeiten des dreißigjährigen Krieges. Eure Exzellenz wissen besser als ich, wie damals hochihr Ahnherr –.«

»Der Joachim –!« rief der alte Herr.

»Jawohl, Graf Joachim der Zweite, als die Kroaten gegen die Herrschaft zogen.«

»Mit zweihundert Bauern hat er sich ihnen entgegengeworfen,« sagte der Graf nicht ohne Stolz.

»Und hat ihrer tausend auseinandergesprengt,« vollendete der Arzt. »Noch heute steht im Grunde neben der Straße das steinerne Kreuz.«

»Sind andere Zeiten gewesen. Es geht nicht, Doktor. Habe einen Vertrag geschlossen und werde ihn halten.«

»Hochgräfliche Exzellenz – das ist doch kein Vertrag im gewöhnlichen Sinne.«

»Es geht nicht. Sie können sich das Vergnügen machen, nur für den andern Tag zu sorgen – ich aber muß auch an übermorgen denken. Ich muß erwägen, wer endlich Herr bleiben könnte im fränkischen Kreis, und danach habe ich mich zu richten.«

»Hochgräfliche Exzellenz, der Feind ist geschlagen.«

Der Graf zuckte die Achseln. »Und da ich nicht weiß, wer endlich Herr bleiben wird, gedenke ich meine Tore geschlossen zu halten und mit meinem Vertrag in der Hand zu warten. Dabei habe ich für meine ungetreue Bürgerschaft gesorgt, wie nur ein Landesvater sorgen kann.«

»Und die Bauern?«

»Die tun mir leid, aber sie sollen halt in die Wälder laufen. Zu Kriegszeiten sind die Bauern immer in die Wälder gelaufen; das hat man noch nie anders gewußt.«

153 »Aber wenn sie nun diesmal nicht wollten, Exzellenz, und wenn ihre entfesselte Wut sich zu Greueltaten hinreißen ließe?«

Der Graf zuckte die Achseln.

»Exzellenz, ich bin kein Soldat, ich gestehe, mir bangt vor meiner Aufgabe.«

»Ach so!« Der Graf verzog den Mund.

»Daß ich mich nicht fürchte, wissen alle, die mich kennen,« sagte der Arzt und blickte unverwandt hinüber auf den alten Herrn. »Aber ich weiß nicht, ob ich die Massen im Zaume halten kann. An meiner Stelle sollte ein wirklicher Führer stehen. Ein Wort von Eurer hochgräflichen Exzellenz, und der Herr Erbgraf –«

»Ich unterstehe dem Befehle meines Herrn Vaters,« kam die Antwort zurück.

»Mein Sohn soll die Bauern führen? Niemals!«

»Der Forstmeister ist auch Offizier gewesen. Ein Wort von Eurer hochgräflichen Exzellenz –«

»Ich werde auch dieses Wort niemals sprechen.«

»Ein Wort von Eurer Exzellenz, und die gräflichen Jäger verteilen sich unter die Bauern, formieren Abteilungen aus den wilden Haufen –«

Der Graf hatte die linke Faust auf den Schreibtisch gestützt und sagte: »Ich halte meinen Vertrag, und ich werde dafür sorgen, daß die Meinen nach meinem Willen handeln.«

»Dann lade ich die Verantwortung für alle Unordnung, für alle Greuel, die kommen werden, auf das Haupt Eurer Exzellenz.«

»Ich habe noch immer jede Verantwortung für meine Handlungen zu tragen gewußt,« erklärte der Graf mit Würde. »Und was gedenken also nach diesem allen Sie zu tun, Herr Doktor?«

»Ich steh' mit Leib und Seele zu den Bauern.«

154 Der Regierende wandte sich ab und begann die Papiere auf dem Schreibtisch dahin und dorthin zu werfen.

»Eure Exzellenz haben Ihr letztes Wort gesprochen?«

Der alte Herr fuhr jählings herum und brüllte: »Hören Sie mein letztes Wort: Wenn Sie die Insurrektion organisieren, dann sind wir für alle Zeit –«

Der Arzt hatte die Arme gekreuzt und – wartete lächelnd.

»Exzellenz, ich habe viel zu viel gelernt, als daß mir vor einer Dienstentlassung grauen könnte,« sagte er, verneigte sich tief und ging.


Die Türe hatte sich hinter ihm geschlossen. Der alte Herr lief auf und ab. Endlich blieb er vor seinem Sohne stehen.

»Hast du ihn gehört, den Mann mit dem verdächtigen Bart? Wie kann einer nur solchen Bart tragen!«

»Ich denke, Sie können mit mir zufrieden sein, Herr Papa.« Der Erbgraf lächelte bitter. »Ich habe keinen Augenblick daran erinnert, daß es sich hier nicht nur um Ihre Bauern, sondern um die Bauern unsres ganzen uralten Hauses handelt.«

»Also um deine Bauern – sag's nur offen heraus!« höhnte der Alte.

»Verzeihen Sie, das habe ich nicht gesagt.«

»Aber gedacht.«

Der Sohn wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus. Der Alte aber begann wieder auf und ab zu rennen: »Dieser freche Geselle, wie verächtlich hat er mich angesehen! Dieser Freigeist, dieser Atheist! Und ich muß schweigen und muß mir das bieten lassen in meinem eigenen Schlosse. Wenn er nicht solch ein vortrefflicher Arzt wäre – dieser Jakobiner, der in meinem Brote steht – heute noch schriebe ich ihm die Kündigung.«

155 »Es ist doch gut, daß unbestreitbare Tüchtigkeit im Berufe auch heute noch zuweilen einen ehrlichen Mann vor dem Verderben zu schützen vermag,« sagte der junge Graf und ging hinaus.

*

Die Zachesmühle weit unten im Grunde zwischen den Erlen, dort, wo der Bach nahe am Waldhügel vorbeifließt – jedes Kind im Städtchen kannte die alte Mühle und die drei langen, festen Tische unter den Nußbäumen hinten im Grasgarten. Gab ja gar niemand, der nicht schon gesessen wäre am rauschenden Bache im grünen Gras unter den schattigen Bäumen; denn die Müllerin hatte gute Butter und goldigen Honig, süße Milch und kräftiges Brot. Die Zachesmühle und Bienensummen, Wachtelschlag und Amselgesang, Schwalbenpfeifen und Kuckucksruf, Wasserrauschen und Mühlenklappern – ei das war alles ein einziger Begriff im Städtlein droben seit alter Zeit.

Den Müller bekamen die Gäste nur selten zu Gesicht. Der wollte nicht viel wissen von den Stadtleuten. Aber die Müllerin und ihre Tochter waren immer bereit zum Dienste der Mütter und Kinder, die bei ihnen einkehrten – die Müllerin, die kleine, kräftige Frau, deren Haupthaar schwarz glänzte, und die schlanke, blonde Tochter mit den braunen Augen, dem zierlichen Näschen und dem kleinen, roten Mund.

Sechzehn Jahre war das Kind geworden gerade an dem Tage, wo die Franzosen ins Land einbrachen und auch in die Zachesmühle hinunter streiften.

Wißt ihr, was es bedeutet, wenn eine von der Verzweiflung getrieben sich zwischen das Mühlwerk stürzt und nimmer heraus will in Todesangst, ob sie draußen auch schreien und locken und drohen? Und endlich wird's Nacht, und die Angst um Vater und Mutter kämpft mit der Todesangst und treibt sie fort von ihrem erbärmlichen Sitze.

156 Totenstille ist's. Der Müller liegt mit offenen, glasigen Augen quer über der Schwelle, und in einer Ecke des Hausflurs liegt auch die Mutter. Aber die ist nicht tot, die stöhnt, und wie die Tochter mit leise tastenden Schritten herankommt, da richtet sie sich auf und raunt – »o trau nit, trau nit, sie sind noch da.«

Und sie sind wahrhaftig noch da und springen aus der Totenstille gleich Katzen auf das belauerte Mäuslein. –

Wie vordem stehen die langen, festen Tische unter den Nußbäumen, wie vordem zieht der Windhauch durch die Bäume, und das Wasser des Mühlbaches fließt rauschend vorüber. Doch das große Rad will sich nimmer drehen, ungenützt rinnen die Wasser zu Tale. Die Bauern haben kein Korn, und der Müllerin ist alles, alles einerlei. Der Knecht hat freie Zeit; er streicht tagsüber durch die Felder, zerkaut Strohhalme, schielt nach der schönen Mühle und rechnet. In seiner Rechnung stehen unbeweglich in der Mitte zwei Zahlen, das Alter der Müllerin und seine Jugend, und um die beiden Zahlen tanzen andere Zahlen im Ringelreihen. Sie selbst aber, die Müllerin, sitzt fast den ganzen Tag auf der Bank vor der Haustüre. Nur notdürftig kocht sie für sich und den Knecht, und dann sitzen die beiden einander schweigend gegenüber in der niederen Stube. Der Knecht ißt und rechnet, und die Müllerin würgt ein paar Brocken hinunter. Die Fliegen laufen über die kleinen Fensterscheiben, und die Blumen des Mägdleins auf dem Fensterbrett sind vertrocknet in ihren Töpfen; stille, totenstille ist's in der Mühle.

Droben, zwischen den Haselsträuchern, liegt der Teich, der tiefe Teich. Weiße Seerosen schwimmen mit offenen Kelchen auf seinem braunen Gewässer, Huflattich umkränzt seine Ränder; Schirling hebt die weißen Büschelsterne aus dämmerigem Schatten. Zuweilen schnellt ein Fisch empor, 157 und jezuweilen quakt es auch von einem schwimmenden Blatt herüber, halblaut, behaglich. Unbewegt leuchten die offenen Seerosen, wieder schnellt ein Fisch empor und fällt patschend zurück. Und Kreise huschen hinaus ans Ufer, kaum sichtbare Kreise – – schwächere Kreise als damals, wo das arme, schöne Menschenkind mit einem wilden Sprunge sich und seine Schmach in das kühle Gewässer versenkt hat.

Verödet ist die Mühle, der Stall ist leer, das Rad steht still, die Müllerin hat keinen Honig mehr. Nicht mehr wie ehedem spähen zwei goldbraune Augen unter dem Dächlein der Hand nach Gästen aus, den Pfad entlang. Keine Kinderfüßlein trippeln mehr zwischen den Wiesen zur Mühle. Das verlassene Weib sitzt neben der spitzbogigen Türe. Sie hat die Hände in den Schoß gelegt und stiert vor sich hin; und der Knecht streift zwischen den Feldern umher, zerbeißt einen Strohhalm nach dem andern und rechnet und rechnet. –

So ging das Tag um Tag, bis der fremde Bauer aus den Waldbergen herabkam. Seine Schuhe waren staubig; denn er war weit gewandert. Nun saß er auf der Bank vor der Mühle und hielt Rast.

Die Müllerin kam heraus und setzte sich ans andre Ende der Bank.

«Jetzt geht's ihnen aber schlecht, den Franzosen. Hast's auch schon gehört?«

Sie wandte sich halb hin zu ihm: »Schlecht?«

»Im Oberpfälzischen drinnen ist eine große Schlacht gewesen, und die Kaiserlichen haben die Franzosen über und über geworfen.«

»Im Oberpfälzischen –? Wo ist denn das?« Ihre Augen funkelten.

»Weit von uns – dort zu.« Er deutete nach Osten. »Und jetzt müssen sie laufen, was sie können; denn die Kaiserlichen sind hinter ihnen her. Kommen auch schon solche durch, 158 die am schnellsten gelaufen sind. Schleichen sich über die Berg', durch die Wälder. Verstecken sich untertags und wandern bei Nacht. Aber wir sind halt nimmer so dumm wie neulich, wir Bauern. Mit Dreschflegeln und Sensen – verstehst mich?«

Er deutete auf seinen verbundenen Arm. »Und da hat mich halt so ein Luder noch 'naufgeschossen, bevor es verreckt ist. Jetzt muß ich zum Doktor.«

Sie war aufgestanden und trat vor ihn: »Sind s' noch nit alle vorbei?«

Er lachte: »Alle vorbei? Was glaubst denn? Jetzt geht's ja erst los. Wir haben ihnen Weg und Steg verlegt, und wenn ihrer kommen, dann werden Feuer angezündet und die Glocken gezogen, und wie die Mäus' werden s' erschlagen. Aber warum schaust mich denn so an? Möchtest vielleicht gar mittun?«

»Mittun?« Sie wandte sich und ging langsam hinüber zum Holzstall. Sie schloß die Türe hinter sich und zog das Beil aus dem Holzstock. –

Gegen Abend kam der Bauer mit frisch verbundenem Arme den Wiesenpfad herunter gegen die Mühle, ging den Fußweg weiter über den schmalen Steg und stieg bergan. Als er an den Waldrand kam, blieb er stehen und sah sich um; denn er hörte Schritte hinter sich. Die Sonne stand nahe über den Bergen, der Mann hob die Hand und beschattete die Augen. »Die Müllerin, was will denn die?«

Nun stand sie vor ihm und sah ihn von der Seite an, ließ aber die Augen wieder abschweifen und murmelte: »Mach weiter und laß mich mit dir!«

»Wohin willst denn heut noch?«

»Mitgehen,« sagte sie dringend.

»Und was hast denn da?« Er stieß mit dem Zeigefinger an ein längliches Ding, das sie eingewickelt in einer blauen Schürze in der Hand trug. Die Schürze verschob sich, und 159 ein Stück Eisen blinkte hervor. »Was hast denn vor mit dem Beil?«

Sie drängte sich an ihm vorüber und sagte halb rückwärts: »Abrechnen mit den Franzosen.« Dann schritt sie voran.

»Du, hast gehört, das sind sein keine Weibersachen!« Er rief es ihr laut nach; sie aber ging immer voran, hinein ins Holz und wandte sich nicht mehr. Und in der Linken trug sie das verhüllte Beil; aber ein Zipfel der Schürze hatte sich gelöst und schleifte mit dem Bändel auf dem Wege.

Der Bauer lief hinter ihr her und sagte zum zweitenmale: »Du, das sind keine Weibersachen, daß du's fein weißt.«

Sie blieb stehen: »Mach weiter! Jetzt mußt du voran, ich weiß ja kein' Weg.«

Zögernd ging er voran. Aber nach etlichen Schritten wandte er sich wieder: »Du, hast gehört, ich glaub doch, sie sind alle schon durch, die Franzosen.«

»Mach weiter!« sagte sie.

Da ging er voran und zeigte den Weg.


Es war schon lange her, seit die Turmuhr droben im Dorfe elfmal geschlagen hatte; es ging auf Mitternacht. Am wolkenlosen Himmel, über dem kahlen Hochtale, stand der halbe Mond. Unken riefen mit klagenden Stimmen, Fledermäuse schwirrten lautlos.

Ein schlechter Fahrweg zog sich vom fernen, dunklen Walde herauf und lag weithin offen im fahlen Lichte des Mondes.

An einer einsamen Fichte hielt ein Trupp Menschen, und vor ihnen stand ein kleiner, dicker Mann in schwarzem Rocke; der hatte die Hände gefaltet und redete eifrig auf die andern ein. Und sie standen ihm fast lautlos gegenüber. Die einen hatten Sensen in den Händen und stützten sich daran. Die ändern hatten Jagdgewehre an Riemen über dem Rücken; 160 etliche hielten Waffen aus Urväterzeiten, Hellebarden und Morgensterne; wieder andere waren mit Beilen und Äxten bewehrt.

»Bitt' um Gotteswillen, mengt euch nicht in das blutige Handwerk,« flehte der Kleine. »Laßt den Soldaten das böse Geschäft; ihr seid ja Bauern. Es tut kein gut. Befleckt eure Hände nicht mit dem Blute Wehrloser, greift dem Arm des Herrn nicht vor. Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr. Und beschwert eure Gewissen nicht mit Mord und Raub; denn ihr wisset wohl, wie ihr ausziehet, aber nicht, wie ihr heimkommt.«

»Der Franzos hat auch kein Erbarmen mit uns gehabt,« sagte ein alter Bauer und reckte sich; da funkelte das Blatt der Sense über seinem Haupte.

»Und sollen wir warten, bis sie wieder brennen und sengen, morden und schänden?« fragte ein anderer.

»Das Feuer – seht ihr's?« rief ein Dritter, und alle wandten die Köpfe.

An einer Berghalde im Osten war ein Pünktchen aufgeglüht, und alle sahen sie über die Wälder. »Sie kommen,« sagte einer halblaut. Droben aber im Dorfe begann die Glocke zu bimmeln, und es war, als stächen die schrillen Töne hinein in den duftigen Schimmer der Mondnacht.

Mit gefalteten Händen stand der Pfarrer und jammerte: »Wer läßt denn läuten? Wer tut mir das?«

»Überall läutet's heut nacht,« sagt der Alte, hielt die Hand ans Ohr und lauschte. »Und laßt Euch sagen, Herr Pfarrer: Ihr habt Eure Pflicht getan, wie sich's gehört für einen frommen Herrn; wir aber wollen jetzt auch tun, was sich gehört für uns Bauern. Vorwärts!«

Und sie zogen mit ihren blinkenden Sensen den Weg entlang, dem Wald entgegen.

Es war dunkel im Walde unter den Fichten, und schweigend 161 zogen sie fürbaß. Hinter ihnen klang leiser und leiser das Glöcklein, und lauter tönte vor ihnen eine andere Glocke.

Sie traten aus dem Walde und kamen auf eine Wiese. Da rannte eine dunkle Weibsperson heran, blieb stehen und schrie: »Der Franzos kommt, ihr Bauern, aus dem Grund kommen ihrer zehn oder zwölfe herauf.«

»Was willst denn du da heraußen?«

Sie riß das Beil aus der Schürze. »Mithelfen gegen den Franzosen.«

»Ist aber keine Weibersach!«

»Wer ist denn die?«

»Kennt ihr mich denn nit? Bin doch die Müllerin von der Zachesmühl.«

Da raunten die Bauern untereinander: »Die Zachesmüllerin ist's!«

Ei, von der Zachesmüllerin wußten sie alle. Wenn's die ist, dann kann sie bleiben, entschieden wortlos die Bauern.

Drüben aus dem Walde kam eine Gestalt – zaghaft geduckt.

»Holla!« schrie der alte Bauer, und alle packten ihre Waffen fester. »Gehen ihrer zwei vor und schauen, was los ist!«

Zwei Bauern gingen dem Fremden entgegen. Hinter ihnen aber schlich das Weib am Rande des Weges.

Er kam behutsam näher und schwenkte ein Tuch. Die Bauern gingen vor. Einer von ihnen zog seine Mütze und schwenkte sie. Bis auf zwanzig Schritt kamen sie also aneinander.

Da rief der Franzose mit kläglicher Stimme: »Bim, bim, bim, bim?« Und er schwenkte sein Tuch nach der Richtung, wo das Glöcklein leise herübertönte über den Wald.

»Bim, bim, bim, bim!« sagte der eine von den Bauern mit tiefer Stimme und setzte seine Mütze auf.

»Franzos bim, bim?« fragte der Fremdling.

162 »Franzos bim, bim,« antwortete der Bauer.

»O quel malheur, ayez pitié, pitié, messieurs!«

»Wie viele Franzosen?« rief der Bauer.

»O dix -!« antwortete der Soldat und griff zweimal mit den gespreizten Fingern der Linken in die Luft, schwenkte immer wieder sein Tuch, kam näher und rief mit flehender Stimme: »Franzos nit kripp, nit hau, nit schieß, nit stech – Bauer auch nit kripp, nit schieß –!«

Da sprang das Weib von hinten her, schwang das Beil und schlug es auf das Haupt des Franzosen. Lautlos brach dieser zusammen.

Die Bauern packten die Müllerin und rissen sie zurück, andere liefen herzu; aus der Tiefe des Waldes tönte Trommelgerassel, klang wildes Geschrei; kleine Gestalten rannten gescheucht dahin und dorthin über die Wiese. Die Bauern brüllten, andere Bauern brachen aus dem Walde. Es begann ein Treiben und Jagen, die Hügel hallten wider vom Jammergeschrei der Gehetzten; Schüsse krachten, und hoch am schwarzblauen Himmel stand der halbe Mond und lieh dem Greuel sein Lichtlein.

Das Weib kauerte neben dem Röchelnden und besah sich das blutige Antlitz. Dann raffte sie sich auf und rannte mit geschwungenem Beil den andern nach. Sie mußte noch viele Franzosen erschlagen, bis sie die richtigen traf – die Fünfe, die Satanasse von damals.

*

Zwei Tage waren vergangen, seit der Doktor im Schlosse gesprochen hatte. Boten waren hin und her gelaufen. Die Entscheidung kam.

In der dämmerigen Stube war der Doktor allein mit seinen Knaben. Der Kleine saß auf seinen Knieen, der Große auf einem Stuhl am Fenster.

»Bitte reiten, Papa!« bettelte der Kleine.

163 Da hob ihn der Vater empor, setzte ihn rittlings und begann das Spiel: Als Bauer und als Ritter, als Fräulein und als Jude durfte der Kleine reiten; jauchzend saß er und patschte in die Händchen, wenn das Reitpferd stieß wie eine Ackermähre und wenn es galoppierte wie ein Turnierpferd, wenn es ihn wiegte wie ein Zelter und zuletzt mit einem Bocksprung sänftiglich auf den Boden legte. »Noch einmal – noch einmal!« bettelte das Kinderstimmlein, und noch einmal und noch einmal begann das Spiel, während der Ältere seitwärts herüberblickte.

»Karl, willst du auch reiten?« rief der Vater, als der abgeworfene Kleine sich wieder einmal jauchzend auf dem Boden wälzte.

Da schüttelte der Große den Kopf, seine Züge verzerrten sich, krampfhaft schluchzte er auf, wandte sich und verbarg das Gesicht auf dem Sims zwischen seinen Armen.

Mit ein paar Schritten war der Doktor neben seinem Kinde und legte die Hand auf seinen Scheitel. Aber schluchzend stieß das Kind mit dem Ellbogen nach ihm in die Luft.

Der kleine Gerhard war aufgestanden und kam heran. Er hatte den Finger im Munde und sah verwundert auf den großen Bruder.

Der Vater sprach auf den weinenden Knaben ein. Heftig nickte dieser, so heftig, daß die Stirne zuletzt hart aufschlug, und stoßweise brachte er heraus: »Mama, Mama!«

Der Arzt ging zurück, nahm den Kleinen auf den Arm und trat vor das eine der Ölbilder, die über dem Sofa hingen.

Das dürftige Licht der Kerze auf dem Schreibtisch warf seinen ungewissen Schein über das Bild, und wie aus dämmerweiter Ferne lächelte die Mutter auf die beiden herab. Und mit leiser Stirne begann der Vater von ihr zu erzählen. Es war feierlich stille in dem düstern Gemache, und lautlos saß das Kind auf dem Arme des Vaters. Das 164 Schluchzen am Fenster verstummte, der große Knabe stand auf und kam langsam heran, trat neben den Vater und suchte dessen Hand. Und so standen die drei, und es war, als hielten die Lebendigen Zwiesprache mit der Toten.

Nebeneinander werden die Wege der beiden Kinder laufen durchs Jugendland. Der Kleine wird sorglos leben von Tag zu Tag; denn er hat nichts gesehen. Der Große aber wird sich ängstlich weitertasten von Tag zu Tag; denn er hat etwas gesehen, das er sich niemals zu erklären vermag, das tiefste Rätsel ist ihm in seinen Weg getreten, das Rätsel, das ihm auch kein Erwachsener jemals löst. Und er wird immer wieder zurückschauen, dorthin, wo er dem Tode zum ersten Male begegnet ist. Hinter dem Kleinen liegt freundlicher Tag, und vor ihm leuchtet die Sonne. Hinter dem Großen ist Nacht, und aus ihr läuft sein Weg hinaus in das Leben.


Klara kam, die Kinder zu holen. Leise drückte sie die Türe ins Schloß, faltete die Hände und blieb stehen.

Der Arzt wandte sich zu ihr: »Komm, du Treue, du gehörst neben uns hierher unter ihr Bild. Wie könnte ich dir's jemals lohnen, was du ihr Gutes getan hast!«

Da kam sie näher, und die Tränen schossen ihr über die Wangen.

Der Vater küßte den Kleinen zum Abschied. Das Kind schlang die Ärmchen um seinen Hals. Dann wurde es auf den Boden gestellt. Der Vater bückte sich und küßte den Großen auf die Stirn. Dann hob er sein Haupt am Kinn empor und sah ihm in die großen, dunklen Augen, aus denen ihn die Sterne seines versunkenen Glückes anschauten. Und er bückte sich noch tiefer, hob den Knaben hoch empor, drückte ihn ans Herz und flüsterte: »Mein lieber Sohn!«


165 Die Türe hatte sich längst hinter der Magd und den Knaben geschlossen. Der Doktor saß an seinem Schreibtisch und stützte den Kopf mit beiden Händen.

Seine Gedanken fuhren zurück ins Land seiner Jugend. Wie vor langen Jahren stand er, ein halbwüchsiger Mensch, zum Bad bereit am obern Ende des Mühlschusses, der in das stille Flüßlein mündete. Es war ein sonnenheller Tag, und im breiten Holzbette schoß das Wasser zwischen den grünen Sträuchern hinunter. Das müßte eine Wonne sein, sich hineinzustürzen in die kristallklaren Fluten, pfeilschnell hinabzuschießen in den milchweiß tosenden Gischt dort unten am Ende der Bahn! Und er hob die Arme und tat den Sprung. Da war's, als ob ihn Riesenarme packten, er hatte nimmer Zeit, ein letztes Mal zu atmen, schon war er unters Wasser gerissen, ward mit Gedankenschnelle in den tollen Wirbel gespült, wollte noch einmal schreien in Todesangst und mußte ersticken im gurgelnden Graus. Als ihm Hören und Sehen zurückkam, lag er draußen auf dem Rasen, ein Mühlknecht kniete neben ihm und sagte grinsend: »Jetzt wärst bald ersoffen. Weißt was? Wo du nit schwimmen kannst, springst halt nit 'nein!«

Jawohl, wo du nit schwimmen kannst. Und wenn er nun ertrank?

Seine Kinder! Jawohl seine Kinder!

Durfte er denn von seinen Kindern gehen?

Er mußte gehen, er hatte sein Wort verpfändet.

Und wenn er unterging?

Dann starb er fürs Vaterland.

Warum denn er, gerade er?

Je nun warum? Weil es kein anderer wagte. – –

Es klingelte, und schwerfällig stand er auf, nahm das Licht, ging hinaus auf den Vorplatz und öffnete die Haustüre.

166 »Eure hochgräfliche Exzellenz –?« Er trat einen Schritt zurück und verneigte sich.

»Darf ich so spät nach kommen, Herr Doktor?«

»Zu jeder Stunde, meine gnädigste Gräfin.« –

Sie saß nun auf dem Sofa unter den Bildern, und das Licht der kümmerlichen Kerze fiel gleichermaßen auf die Bilder da droben wie auf das Antlitz der alten Frau.

Dieses Antlitz. Ja wer in ihm zu lesen vermochte! Es war wohl niemals schön gewesen, auch nicht in den Tagen der Jugend. Scheinbar regellos liefen die Fältchen durcheinander, und hatte doch ein jedes seine Herkunft in ihrem ureigenen Wesen und sein Ziel in der großen Richtlinie ihres Lebens. Da liefen Kummerfältchen. Jawohl, Kummerfältchen – freilich nicht gegraben von der Sorge um Nahrung und Kleidung. Aber die Sorge ist ja doch die allgewaltige Herrin dieser Erde, zahllos sind ihre Diener, und zahllos sind die Pforten, die sich lautlos öffnen auf ihr fast unhörbares Pochen. Und gleich einem Machthaber verleiht sie den Menschen Zeichen der Erinnerung an Gefechte und Belagerungen, an Siege und Niederlagen – Narben und stilleuchtende Kreuzlein. Zahllose Ehrenzeichen der Art trug die Gräfin, die alte Frau, sichtbar auf ihrem welken Gesichte. Und zwischen den Kummerfältchen liefen Gebetsfältchen – neue, vom letzten Morgensegen her, und alte, ganz alte, noch aus den Tagen der Kindheit, wenn sich die Stirne zusammengezogen hatte über den fernhin gerichteten Augen, die krause Stirne, als wollte sie die wogenden Gedanken festhalten im engen Schreine und die Augen lenken aus der Zerstreuung aufs Ziel. Da liefen auch Fältchen und Falten leiblichen Elendes, Stammbuchzeichen aus den Nächten der Krankheit. Und zwischen darein schossen aus den Winkeln an Augen und Mund die Fältchen der Laune, des Witzes, des Spottes. Aber diese Fältchen waren schwach entwickelt 167 und verloren sich alsbald insgesamt in die Falten des Mitleids. Das alles war eingegraben im Antlitz der alten vornehmen Frau. Aber es wäre tot gewesen wie eine Winterlandschaft im Lichte des Mondes – hätten nicht in ihm geleuchtet die Augen. Diese sonnigen, blauen Augen strahlten jung und hell aus dem faltenreichen Gesichte und ließen hinunterblicken in die Ewigkeitsgedanken einer kristallklaren Seele.

»Eure Exzellenz haben gewiß auch schon gehört, was mir bevorsteht?«

»Man hört so vieles in dieser bösen Zeit, Herr Doktor.«

»So bitte ich, sagen mir Eure Exzellenz Ihre Meinung.«

Die Gräfin lächelte. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Aber ich – es wäre mir ein Trost, Exzellenz.«

Sie lächelte noch immer. Und nun schossen die nadelfeinen Fältchen des Spottes um ihre Lippen, und in ihren Augen fuhr es flackernd auf: »Ein Trost, wenn ich Ihren Entschluß gütigst mit neuen Stützen zu festigen bereit wäre – nicht so, lieber Doktor?«

Er schwieg und sah traurig vor sich hin.

Da verlor sich auch schon der Spott in die Falten des Mitleids, und aus der Tiefe ihrer Augen leuchtete die Liebe: »Ich weiß ja, Doktor, Sie können nicht anders.«

Er nickte und sah ihr fest ins Gesicht.

»Und ich weiß ja, Sie suchen auch nicht das Ihrige.«

»Dann spränge ich nicht in den Mühlschuß –. Um Vergebung, meine Gedanken sind abgeirrt. Suchte ich das Meine, dann blieb' ich daheim.«

»Ich aber verstehe ganz und gar nichts von diesen Dingen, lieber Doktor, werde mich auch niemals darein mischen, da sei Gott vor. Weiß nur, daß mich die Bauern von Herzen erbarmen, und nicht bloß die unterdrückten Bauern, sondern vor allen –«

168 »Die blutgierigen Bauern,« ergänzte der Doktor.

»Gehen Sie mit Gott, lieber Freund.« Die Gräfin reichte ihm die Hand hinüber. »Und folgen Sie Ihrem Gewissen.«

»Ich danke Eurer Exzellenz für diesen Trost in schwerer Stunde.«

»Bin aber durchaus nicht deswegen gekommen, Doktor. Wollte nur eines sagen: Ist es Ihnen bestimmt, zu sterben auf dem Wege der Pflicht –«

Sie erhob sich, wandte sich ab und ging nach der Türe. Die Tränen schossen ihr die Wangen herunter. Sie faßte mit der Linken die Türklinke und mit der Rechten winkte sie dem Arzte zu: »Dann werde ich Ihre Knaben zu mir nehmen und werde ihnen viel erzählen von einer frommen Mutter und von dem Vater, dem Ehrenmanne.« Schluchzend fügte sie bei: »Denn ich habe Ihre arme Frau sehr lieb gehabt.«

Der Doktor griff nach ihrer Hand, neigte sich tief herab und küßte sie.

»Also ziehen Sie frei von Sorgen dieser Erde mit Gott Ihren Weg!« Sie ging rasch aus der Türe.


Als die Gräfin die Freitreppe hinabstieg, kam ein kleiner Mann vors Haus. Der Doktor stand oben und leuchtete mit hocherhobener Laterne, bis der Diener seiner Herrin in den Wagen geholfen hatte. Scheu drückte sich der Kleine an die Mauer und kam vorsichtig auf der andern Seite die Treppe herauf.

Der Wagen rollte über den Marktplatz.

»Du, Pieperich?«

»Jawohl, will dich sprechen. Aber weißt du, mit denen da droben mußt du mich auch so bald wie möglich versöhnen. Diese Ungnade halt' ich nicht mehr lange aus. Gewiß hat sie recht losgezogen über mich?«

169 »Die Frau Gräfin –? O Pieperich!«

Der Studienlehrer stand nun in der Stube.

»Es hat mir keine Ruhe gelassen, Doktor, ich mußte zu dir kommen. Weiß ja, du verachtest mich.«

»Verachten?«

»Du mußt mich verachten.« Der Studienlehrer sank auf einen Stuhl. »Bin mir oft so kläglich vorgekommen.« Er sprang wieder auf und eilte mit ausgestreckten Händen auf den Doktor zu. »Frey, lieber, armer Frey, was hast du durchgemacht, während wir in Sicherheit saßen!« Er schüttelte ihm die Hände, er streichelte seine Arme.

»Laß gut sein, ich danke dir.«

»Du bist ein Held, Frey! Aber wahrhaftig, auch bei mir fehlt es nicht am Willen, fürs Vaterland zu leiden. Am Willen fehlt's mir überhaupt niemals, auch heute nicht – und ging's nur immer meinem Willen nach, dann solltet ihr mich kennen lernen.«

»Wo bist du denn die ganze Zeit gesteckt?«

Der Studienlehrer machte ein klägliches Gesicht und schlich auf seinen Platz zurück. »Ach, ich mußte ja doch die Frau und den kleinen Karl zu meinem Schwiegervater bringen.«

»Karl?« unterbrach ihn der Arzt. »Ich dachte Jourdan –?«

Pieperich sprang wieder auf. »Jourdan?« Er rang die Hände. »Aber wie kannst du denn so 'was denken? So schlecht bin ich denn doch nicht.«

»Also Jourdan soll er nicht heißen?«

»Nach diesem Räuber und Mordbrenner und Erpresser sollte ich meinen Sohn nennen? Nein, wisse, ich habe ihn auf den Namen Karl taufen lassen, und du kannst dir wohl denken, nach wem.«

»Vermutlich nach einem der Großväter?«

Pieperich stieß die Hände nach oben.

170 »Großväter? Aber ich bitte dich, wer denkt denn in solchen Zeiten an Großväter?«

»Nun, ich vermute, der Großvater hat in solchen Zeiten um so mehr an euch gedacht.«

»Davon später,« sagte Pieperich und begann umher zu rennen. »Also mein Sohn ist auf den Namen Karl getauft; denn ich glühe jetzt von Begeisterung für den großen Habsburger. Du doch auch? Ich sage dir, dieser Erzherzog Karl, der da in der Oberpfalz hinten den fränkischen Gockel in die Pfanne haut, daß die Federn umherfliegen, ich sage dir, der ist mein Mann, und ihm zum Gedächtnis heißt mein Erstgeborener Karl.« Er blieb am Fenster stehen und starrte in die Finsternis. »Doktor, ich sage dir, es ist etwas Entzückendes um einen großen Mann. Wie auf einer Insel sind wir gesessen in dem Königlich preußischen Dorfe zwischen den schwarzweißen Pfählen. Ringsumher in den gräflichen, in den bischöflichen, in den Adelsdörfern ist alles drunter und drüber gegangen. Aber wir – nur drei Schildwachen vor den zerbrechlichen Toren –.«

»Und hinter jedem Schafsgesicht von einem Soldaten der Geist des großen Fritz. Der drohte mit seinem Krückstocke, und die Franzosen schlichen außen herum – nicht so?«

»Wie die Katze um den heißen Brei,« rief Pieperich. »Das meine ich ja, wenn ich sage, was ist's doch Entzückendes um einen großen Mann. Jawohl, der alte Fritz, den sollten wir noch haben, der würde – weißt du, für den alten Fritz war ich auch immer schon begeistert –.«

»Auch für den? Ein Jakobiner ist der aber nicht gewesen. Das weißt du wohl?«

»Jakobiner? Laß mich aus mit diesen Verfluchten! Alle Fensterscheiben haben sie mir eingeschlagen, die Stuben mit Unrat angefüllt, den Wein ausgetrunken – ich glaube, niemand im Städtchen hat größeren Schaden als ich –.« 171 Erschrocken hielt er inne. »O, vergieb! Was rede ich so dumm?« Er ging auf den Doktor zu: »Weib und Kind habe ich bei den Schwiegereltern gelassen und will nun aushalten bei euch. Hast du mir denn gar nichts zu tun?«

»Du kommst zur rechten Zeit, Pieperich; die geschlagenen Franzosen sind nahe; der Landsturm ist vorbereitet.«

»Gegen die Franzosen?« Pieperich schüttelte seine Fäuste.

Der Arzt lächelte unmerklich: »Jeden Augenblick kann ein Bote kommen, der mich zu den Bauern ruft.«

»Das ist mein Fall! Im Vertrauen, Frey, schon als Knabe wollte ich nichts anders werden als ein Reiter, ein Husar. Du doch auch – nicht?«

»Keine Spur davon, Pieperich.«

»Du hast mich zum besten, Frey. Du bist der geborene Soldat. Also, ich möchte mit dir. Nur fatal, daß ich so gänzlich ohne Waffen bin.«

»Ich kann dich bewaffnen, Pieperich.«

Der kleine Mann atmete vernehmlich. »Wie mich das aufregt, wie mein Blut pocht! Nur ein Bedenken noch, meine Stiefel sind nämlich beim Sohlen.«

»Du wirst ja nicht nur ein Paar besitzen?«

»Gewiß nicht. Aber doch nur ein Paar, in dem ich weite Märsche wagen könnte. Zu ärgerlich. Heute früh erst habe ich dieses eine Paar zum Schuster gegeben.«

»Schick hin zum Schuster, vielleicht sind sie gesohlt.«

»Du hast recht.« Pieperich griff nach der Türklinke. »Sogleich will ich hinschicken; denn auf die Stiefel kommt alles an.«

Schon war er draußen im Hausflur.


Die Wetterwolken fuhren einher auf dem Rücken des Sturmes. Unter seinem Riesenbesen wirbelte der Staub auf den Straßen. Schon waren die ersten Tropfen gefallen. 172 Blitze zuckten von ferne, Donner grollte näher und näher. Das Gewitter brach los.

Die Glocken gellten über das offene Land, sie gellten im Talgrund von Turm zu Turm. Feuerreiter galoppierten. »Auf, auf, die Franzosen kommen! Die Häuser brennen hinter ihnen, und mit Geschrei fliehen die Menschen vor ihnen her. Auf, alles auf, was Bauer heißt, auf und heraus!«

Ein Feuerreiter hielt nach Mitternacht vor des Doktors Hause und schrie zu den Fenstern empor. Jetzt galt es – jetzt ging es hinein in das brausende Wasser – – jawohl, in den Mühlschuß hinein.

Für Zeit seines Lebens prägten und preßten sich die Ereignisse dieser Nacht in das Gedächtnis des Mannes. In späten Jahren noch sah er sich mit der Kugelbüchse und dem Säbel, und er sah die Magd vor sich stehen mit gefalteten Händen und bleich bis in die Lippen. Und damals rang sich's aus seinem Munde – »Klara, sag mir, tue ich recht?« Sie aber hob die gefalteten Hände unter sein Gesicht und sprach nur die paar Wörtlein: »Auf den Knieen will ich beten für Sie!«

Und vor diesem Ja zerrannen ihm die letzten Zweifel. Die Magd griff nach seiner Hand und sagte dringlich: »Um vieler, vieler Frauen willen!« Und jetzt sah er zum ersten Male, wie schön sie war. Jählings wandte er sich ab und brachte mühsam heraus: »Ich danke dir, tu so.«

Dann aber trat er noch einmal unter das Bild seiner Toten. Mit diesem Bilde im Herzen wollte er sich stürzen ins wilde Gewoge, mit diesem Bilde und mit keinem andern.

Er ging hinaus auf die Freitreppe. Der Knecht führte sein Pferd heran. Er aber stemmte die Arme auf das Geländer, und es kam über ihn –. Mit gellender Stimme schrie er, daß es widerhallte von den Giebeln – er schrie ein sinnloses Wort, unverständlich allen, die es hörten in 173 dieser Stunde: »Burschen heraus!« Sinnlos den andern, ihm aber von Jugend auf der Inbegriff vom Rechte des Bedrängten und von der Pflicht aller andern zur Hilfe: »Burschen heraus! Alle honorigen Burschen heraus!« Was er sonst noch geschrieen hatte, das wußte er später nicht mehr. Aber Stadtschreiber Martin hat es aus seinem und anderer Leute Gedächtnis in das Quartheft geschrieben, das heute noch, vergilbt und von vielen Fingern zermürbt, im Briefgewölbe liegt, nahe dem Fenster im braunen Kasten: »Auf, zu den Waffen! Sind wir stumme Hunde, die sich treten lassen von jedermann? Deutsche sind wir. Auf mit mir! Wer da Ehre im Leibe hat, der helfe den Bauern!«

Noch viele Jahre später sah der Doktor in der Erinnerung, wie an den Häusern ringsumher so manches Fenster licht wurde, wie so manche dunkle Gestalt sich weit herausneigte, seinen Worten zu lauschen, und wie dann wieder so manches Lichtlein erlosch, manches Fenster sich mit leisem Klirren schloß. Aber noch viele Jahre hernach sah er auch die paar Gestalten, die dunkeln, die über den Marktplatz rannten und sich in Waffen unter die Freitreppe stellten.

Und wenn ihn später, in heimlicher Zwiesprache, oftmals die Erinnerung an seine Niederlage brannte wie eine untilgbare Schmach, dann kam's doch auch unversehens zu einem stillen Lächeln, wenn er an Pieperich dachte. Ganz zuletzt war der kleine Geselle über den Marktplatz gekommen und hatte schon von weitem eine Holzaxt geschwungen, daß das Eisen grausam blitzte im fahlen Mondlicht. Dann war er neben des Doktors Pferd getreten und hatte atemlos gesagt: »Wenn mich nur die Stiefel nicht so schrecklich drückten.«

Die Magd stand auf der Freitreppe hoch über dem Reiter und beugte sich über das Geländer herab. Der Doktor aber hob fast zaghaft die Augen zu ihr. Sie flüsterte etwas von seinen Kindern. Er verstand nicht, was sie wollte. Er sah 174 jetzt nur noch wie gebannt in ihre leuchtenden Augen und er sah zum andern Male, wie schön sie war.

Dann ging's hinunter die Bachgasse, hinaus zum Tore, das Tal entlang. Er raffte sich zusammen, er dachte an das Bild in seiner Stube, an das lächelnde Bild der Toten – da sah er die geliebte, schwache Frau, wie sie an jenem Abende zusammengesunken war, und hörte, wie sie flüsterte, du, vor der hab' ich Respekt. Mit allen Kräften seines Willens suchte er zu knebeln den Gedanken an jene Starke, die ihn soeben mit leuchtenden Augen gegrüßt hatte, die nun für ihn betete auf ihren Knieen. Es half ihm nichts, sie hatte es ihm angetan, sie leitete ihn fast fühlbar auf seiner Straße – indes die Tote zum Bilde verblaßte.


»Du hast's gut, Doktor, das muß ich sagen. Du sitzest hoch zu Roß.«

»Willst du aufsteigen, Pieperich? Sogleich bin ich herunten.«

»Aber du weißt doch, daß ich noch nie auf einem Pferde gesessen bin.«

»Nun also!«

»Aber es will mir nicht gefallen, daß du allein von uns allen reitest.«

»Zum Henker, ich reite doch nicht zu meinem Pläsier.«

Da mischte sich ein alter Bauer ins Gespräch: »Das wär' ein schlechter Hauptmann, der zu Fuß ging. Hoch muß er sein über den andern; dann kann er ihnen befehlen.«

»Doktor, mich drücken meine Stiefel.«

»Das müssen S' halt verbeißen, Herr Lehrer. Uns Bauern drückt auch oft der Schuh. Macht nix. Vorwärts! Linker, Rechter, Spitzbub, schlechter – so singen wir und beißen die Zähn aufeinander.«

»Ikarus hat auch nichts dagegen vermocht, als das Wachs an seinen Flügeln schmolz, Doktor.«

175 »Wenn ich dir nur helfen könnte, armer Kerl.«

»Doktor, du wirst doch nicht gering von mir denken, wenn ich nun meine Stiefel ausziehe und nach meinen Blasen gucke?«

»Keineswegs.«

»Will auch gleich wieder nachkommen, wenn ich in Ordnung bin.«

»Übereile dich nicht, lieber Freund.«

»Leb wohl, Doktor. Will mich hinten anschließen, wenn's möglich ist.«

Der Bauer sah seitwärts zurück, wie der Kleine die Nächsten an sich vorbeiließ und sachte den Straßenrand gewann.

»Den haben wir gesehen für heut, Herr Doktor. Ist aber nit schad drum.«


Länger und länger wurde der Zug der reisigen Bauern, die da mit ihren Waffen talabwärts trollten. Von rechts und links aus den Dörfern und von den Wäldern herab kam immer neue Mannschaft, floß in die Schar und flutete weiter mit ihr.

Noch blinkten die Sterne am Himmel, da gelangte man zwischen die niedern Hügel ans Ende des Tales. Dort gedachte der Doktor den Feind zu erwarten.

Und zwischen den Hügeln, die heute noch stehen, wie sie vor Tausenden von Jahren gestanden sind und stehen werden unausdenkbar lange nach unseren Tagen – dort erlebte der Stolz des Mannes die Niederlage, die er niemals verwand.

In schwachen, verschwommenen Umrissen sehen wir die Ereignisse jenes Spätsommermorgens in ihrer hundertjährigen Vergangenheit – so wie sie Stadtschreiber Martin im Tone alttestamentlicher Erzählung überliefert hat:

Auf den Hügeln saßen die Männer und warteten bis der Tag graute. Und vom flachen Lande herauf tönte das 176 Schießen, von den Türmen klangen die Glocken. Zwischen die Hügel aber kam keiner der Feinde. Da begannen die Männer untereinander zu murren, weil sie also sitzen mußten, wo sie doch zu kämpfen gedacht hatten. Und ihrer etliche gingen von Hügel zu Hügel.

Es war aber ein starker Mann unter ihnen, ein Schenkwirt aus den Walddörfern und gedienter Soldat. Der spottete, fragte, was für einen großen Feldherrn sich die Bauern gesetzt hätten. Und immer stärker ward das Gemurmel.

In der Morgendämmerung erhob sich draußen im Lande ein wildes Schießen. Da kamen ihrer etliche zum Doktor, baten ihn und sagten: »Führe uns nun hervor aus den Hügeln, hinunter gegen den Feind; denn uns gelüstet, den Brüdern zu helfen und Beute zu machen.«

Er aber ward unwillig und sprach: »Ihr habt mich zum Führer gesetzt, daß ich mit euch die Grafschaft beschütze, nicht aber, daß ich euch Beute verschaffe. Hier wollen wir bleiben und warten, bis etwa der Feind kommt.«

Während sie also miteinander sprachen, siehe da rannten fast alle Bauern von den Hügeln hinab auf die Straße, standen in dunklen Haufen und warteten. Mitten unter ihnen aber stand der Schenkwirt und schrie: »Hört ihr das Schießen? Und wir, sollen wir stehen bis uns die Wurzeln wachsen aus den Zehen ins Erdreich? Auf, ihr Bauern, folgt mir! Ich weiß Bescheid, ich habe zwanzig Jahre bei den Preußen gedient – ich will euch sagen, was nottut.«

»Herr,« sprachen die droben zum Doktor, »seht Ihr nicht, wie der Lange die Männer gegen Euch hetzt? Geht doch hinunter und zeigt ihm, wer Herr ist.«

Da biß der Doktor die Zähne aufeinander und ging hinunter.

Der Schenkwirt, der gediente Soldat, rief ihm entgegen: »Platz, ihr Leute, der Feldherr kommt. Ich wette, nun führt er euch gegen den Feind.«

177 »Nicht also,« rief der Doktor. »Wir bleiben zwischen den Hügeln.«

Zuerst schwiegen die Bauern. Dann aber begannen ihrer etliche dagegen zu sprechen, und zuletzt ward ein großes Geschrei. Stärker als die andern schrie der Schenkwirt und sprach: »Ihr Leute, der Feldherr hat Angst.«

»So will ich doch sehen, wer Herr ist!« rief der Doktor und ging ein paar Schritte gegen den Schenkwirt vor.

»Wer's gelernt hat, wird Herr sein,« schrie der ihm entgegen. »Und wo habt denn Ihr das Soldatenhandwerk gelernt?« Damit ging er die Straße talabwärts.

Indessen kam die Sonne herauf, und die Bauern teilten sich. Ihrer sehr viele rannten dem Schenkwirt nach, wenige blieben beim Doktor.

Und der Schenkwirt führte die Bauern hinaus ins flache Land.

Die Sonne stieg, und der Doktor wartete mit den Seinigen auf einem der Hügel. Da begab sich's, daß drei versprengte feindliche Reiter die Straße heraufkamen.

Die Bauern rannten vom Hügel, mit ihnen der Doktor. Und die Reiter wurden von ihren Pferden gerissen. Sie riefen und flehten um Mitleid. Unbarmherzig aber hieben die Bauern auf die Wehrlosen. Da warf sich der Doktor zwischen die Seinen und ihre Opfer, schrie und sprach: »Seid ihr Bestien oder seid ihr Menschen?« Und indem er ihnen also zu wehren versuchte, schlug ihn einer der Bauern unversehens über den Kopf, daß er wie leblos zu Boden stürzte.

Da lag nun der Mann, geschlagen von denen, die er zu führen gedacht hatte, abseits vom Wege, hinter Gebüsch.

Indessen kamen noch mehr feindliche Reiter gesprengt, und die Bauern flohen zwischen die Hügel. Berittene Bauern vom flachen Lande verfolgten die Franzosen. Man wurde handgemein, und die Bauern blieben im Vorteil. Also, daß 178 kein feindlicher Reiter und kein Fußsoldat in diesen Tagen seinen Weg nahm durch das Ländlein des Grafen.

Im Abendschein kamen etliche Bürger zurück in die Stadt. Es wartete aber die Magd des Doktors unter dem Tore. Und als sie hörte, daß ihr Herr am Wege liege, ward sie zornig, flehte und sprach: »Wollt ihr ihn halbtot liegen lassen, der alles für euch dahingegeben hat? Geht mit mir, ich will einen Wagen nehmen und will ihn heraufbringen.« Sie aber zuckten die Achseln, fragten: »Was willst du? Er ist ja tot. Laß uns in Frieden, wir möchten schlafen.« Da weinte sie und sprach: »Er ist nicht tot, ich weiß es gewiß.«

Und nun konnte man sehen, was die Treue vermag. Als die Bürger dahin und dorthin gingen, lief die Magd hinauf ins Schloß zum Erbgrafen, bat und sprach: »Herr, Euer Freund liegt todwund am Wege. Wollt Ihr, daß ihn die Feinde erschlagen? Gebt mir zwei Knechte, daß ich ihn hole.«

Da erschrak der Erbgraf und sprach: »Ich komme mit dir.«

Und sie fuhren in derselbigen Stunde zu Tale, fanden den halbverschmachteten Mann und brachten ihn herauf in die Stadt.

Also rettete die Magd ihren Herrn.

*

Am nächsten Abende kam auch Konrektor Knorzius zurück aus den Wäldern. Er war von der Sonne verbrannt, hatte seltene Moose und Flechten in seiner Büchse und ging heitern Sinnes zurück in die Welt, die er so gründlich verachtete.

Zunächst aber begab er sich nicht in seine Behausung, sondern zur Wohnung des Kanzleidirektors.

Die Leute sahen ihm nach; denn er trug seinen Knotenstock über der Schulter, und am Eisenstachel hingen beschmutzte Fetzen herunter.

Im Zwielichte des scheidenden Tages stand er am Hause und spähte zu den Fenstern des Erdgeschosses hinauf. Und 179 das Glück war ihm hold: Frau Lotte stand hinter einer Gardine.

Konrektor Knorzius zog die Schirmmütze und machte einen Kratzfuß. Da öffnete sie das Fenster. »Womit kann ich dienen?« Sie sagte es ein wenig hochmütig – halt so vom Erdgeschoß auf die Straße hinunter.

Knorzius aber lächelte spöttisch, zwinkerte mit den Äuglein und begann feierlich: »Also daß er und seine ehelichen Leibeserben sich fortan schreiben sollen und daß ihnen geschrieben werden möge von jeglichen Standes Angehörigen für und für Blitz von –«

»Um des Himmels willen, Herr Konrektor, was meinen Sie denn?« Sie stand mit gefalteten Händen zwischen den weißen Gardinen, und es klang nun gar nicht mehr hochmütig, was sie sagte.

Konrektor Knorzius hatte den Knotenstock von der Schulter gehoben und reichte ihr die beschmutzten Fetzen des Adelsbriefes hinauf.

»Allmächtiger Gott, Herr Konrektor, wie sollen wir's Ihnen vergelten?« Lottchen löste die Blätter vom Stachel. »Aber hätten Sie's denn nicht doch etwas diskreter behandeln können?«

»Zwölf Kreuzer krieg' ich, Frau Direktorin. So viel hab' ich nämlich dem Bauern bezahlt, der's irgendwo im Straßengraben gefunden hat,« sagte der schreckliche Knorzius und hielt die Schirmmütze unter den Sims. »Und so viel wird's Ihnen wohl wert sein?«

Hastig fuhr Frau Lotte in die Tasche, zog das Geldbeutelchen und warf ihm die zwölf Kreuzer in die Mütze. Dann aber beugte sie sich tief herab und raunte: »Nicht wahr, Herr Konrektor, ich darf Sie bitten, es bleibt unter uns?«

Der Konrektor verzog das Gesicht. »Aber um Vergebung, 180 wenn's unter uns bleibt, dann ist ja die ganze Adelung für die Katz'?«

»So hab' ich's ja doch nicht gemeint,« sagte sie ärgerlich und schloß das Fenster. –

Knorzius begab sich nach Hause. Mit Wohlgefallen musterte er sein Stübchen. Unversehrt standen seine Bücher auf ihren Gestellen. Und während er seine Abendsuppe löffelte, erzählte ihm die Hausfrau von allem, was sich seither im Städtchen begeben hatte.

Konrektor Knorzius löffelte, wunderte sich und lachte endlich von Herzen über den Esel, den Doktor.

»Und jetzt wird er ihn halt fortjagen,« schloß die Frau ihre Rede.

»Wer?« fragte der Konrektor.

»Seine hochgräfliche Exzellenz,« antwortete die Frau.

»Darf ich fragen, wen wird er fortjagen?«

»Den Doktor doch.«

Knorzius lachte still in sich hinein. »Seinen Leibarzt, der ihn kennt innen und außen? Er wird sich's überlegen, Frau Schirmer, wohl überlegen wird er sich's, der alte Herr.« 181

 


 


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