August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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2. Höher hinan!

In vornehmer Ruhe starrten die Türme und Giebel des alten Grafenschlosses hoch droben auf dem schroffen Felsen über der kleinen Stadt in die flimmernde Sommerluft – in Ruhe und in sicherem Frieden, als gäbe es keine Franzosen und als stünden des Kaisers Heere anstatt der weitgedehnten Wälder auf den langgestreckten Hügeln hinter den grauen Mauern, des Kaisers Heere zu ihrem Schutz und Schirm. Und scheinbar in demütiger Ruhe blinkten die Schindeldächer des Städtleins drunten am Fuße des Felsens unter den Strahlen der Julisonne, friedlich, als hinge keine Proklamation Jourdans am schwarzen Brette des Rathauses, als dächte Schneider Koram an gar nichts anders, als an zerrissene Hosen und Röcke.

Und selbstzufrieden, als hätte er heute vormittag höchsteigenhändig den letzten Strich getan am Defensionsplan des heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, wandelte der wohledelgeborene Kanzleidirektor Blitz im Schatten der Linden um die Bollwerke der Haupt- und Residenzstadt seines gnädigsten Grafen und Herrn.

Zweimal hatte er auf seinem Spaziergang in das obere Tor geguckt, aus dem die Straße steil anstieg zum Schlosse, zum zweiten Male kam er an das untere, das Bachtor, und zum zweiten Male legte der hochgräfliche Soldat gemächlich sein Strickzeug auf die Steinbank, ergriff sein Gewehr und präsentierte es vor dem höchsten Beamten der Grafschaft.

Mit vornehmer Gelassenheit, genau so wie Seine hochgräfliche Exzellenz, nickte der Kanzleidirektor höchstseinen Dank; denn seinen Dreispitz trug er unter dem linken Arme. Und nun bog er in den schattigen Baumgang ein, zwischen 30 dem die Straße zum Städtlein emporlief, und schritt würdevoll talwärts unter den Linden dahin.

Er machte sich auf Befehl des hochgräflichen Leibarztes Motion, wie jeden Tag nach dem Mittagessen, eine Stunde lang. Und er war zufrieden mit sich und der Welt.

Da rollte im scharfen Trabe eine herrschaftliche Kutsche die Straße herauf, und der Kanzleidirektor wechselte über den Graben auf die Wiese hinüber. Dort wartete er mit dem Dreispitz unter dem Arm.

Ehe aber die Pferde auf gleiche Höhe kamen, streckte er das rechte Bein steif hinter sich und sank ins linke Knie. Diese Art der Reverenz hatte Seine hochgräfliche Exzellenz vor Jahren mit höchstem Wohlgefallen auf einem alten Holzschnitte entdeckt und sie allsogleich seiner gesamten Beamtenschaft durch ein gestrenges Mandat zur Vorschrift gemacht.

Noch stand der Direktor unbewegt, da parierte der Kutscher die Pferde, und die schneidende Stimme des Grafen rief aus dem offenen Wagen zurück: »Blitz!«

Der raffte sich auf und rannte an den Wagenschlag. Er machte sein demütig-freundlichstes Gesicht. Aber der alte, hagere Herr auf den seidenen Kissen sah ihn so streng an, daß ihm das untertänige Lächeln in einem angstvollen Grinsen erstarrte.

»Blitz, Wir dächten, du hättest heute Wichtigeres zu tun, als da im Schatten herumzulaufen!«

»Halten zu Gnaden, hochgräfliche Exzellenz, nur meine gewöhnliche nachmittägliche Motion auf ärztlichen Rat.«

»Blitz, Wir fürchten, die Franzosen kommen. Welche Maßregeln hast du getroffen?«

Nun hatte der Direktor seine Haltung wieder gewonnen. Er streckte sich wie ein Gockel und schlug mit den kurzen Ärmchen, als wären es Flügel. »Die Franzosen? Oh! Wir stehen unter dem Schutze Eurer hochgräflichen Exzellenz und des allmächtigen Gottes. Fürs erste vermute ich, daß sich die 31 Franzosen überhaupt nicht so weit abseits verirren werden. Fürs zweite aber würden sie die unantastbare, durch die Jahrhunderte geheiligte Reichsstandschaft Eurer hochgräflichen Exzellenz ohne allen Zweifel respektieren müssen, und ein Hauch aus Höchst-Ihrem Munde würde genügen, alle Gefahr von Höchstdero Landen abzuhalten. Deshalb habe ich besondere Maßregeln bisher für unnötig erachtet.«

»Dummes Geschwätz!« rief der Graf nicht ganz unfreundlich. »Diese Leute haben doch ihrem eigenen König den Kopf abgeschlagen, da werden sie auch einen deutschen Reichsgrafen nicht sonderlich respektieren. Jedenfalls aber müssen wir die Mauern unserer Residenzstadt besetzen. Und deshalb gedenken wir jetzo eine Revue über Unsre bewaffnete Macht abzuhalten. Hupf auf den Bock, Blitz!«

»Aber hochgräfliche Exzellenz –?«

»Allez – hupf!«

Kanzleidirektor Blitz kletterte auf den Bock und saß nun barhäuptig, mit betrübtem Gesicht neben dem Kutscher. Die Pferde zogen an, und der Wagen rollte dem Tore entgegen. Der Wachsoldat rief in die Torstube, der Trommler rannte heraus und schlug einen Wirbel. Der Wachsoldat präsentierte, und der Wagen hielt.

»Allez, auf den Marktplatz, Generalmarsch schlagen!« befahl der Graf. Und während sich der Trommler in Trab setzte, zogen die Pferde den Wagen schrittweise die enge Straße empor. –

Am Grafenbrunnen stand der Trommler und bearbeitete wie wütend das Kalbfell. Zu Fuß kam der alte regierende Herr. Ihm folgte der Direktor. Vor dem Fetten Ochsen drüben hielt der Wagen.

Kanzleidirektor Blitz stotterte seitwärts von hinten her: »Ich fürchte – hochgräfliche Exzellenz – die Soldateska ist nicht in der Verfassung, daß –«

32 »Halt 's Maul, Blitz! Die Soldateska hat immer in Verfassung zu sein.«

Ringsumher hatten sich die Fenster geöffnet, ringsumher streckten die Leute die Köpfe heraus, die Jugend rannte von allen Seiten herbei, der Trommler trommelte noch immer, und auf dem Grafenbrunnen stand der steinerne Ahnherr und sah vergnüglich über den alten Guckenkel zu seinen Füßen hinüber zur hohen Kirche.

Der Graf hatte die goldene Sackuhr gezogen und starrte auf das Zifferblatt. »Fünf Minuten,« sagte er nach einer Weile.

Der Mann am Brunnen schlug unaufhörlich das Kalbfell.

»Zehn Minuten,« sagte nach einer Weile der Graf.

»Halten zu Gnaden –« begann Blitz.

»Maul halten!« entschied der Graf. Und als die Zeit um war, sagte er mit hohler Stimme: »Fünfzehn Minuten –!«

»Jetzt kommt der Hauptmann!« rief Blitz erleichtert.

Der große, dicke Hauptmann rannte quer über den Markt und hängte sich soeben noch den Säbel um die Schulter. Da winkte der Graf dem Trommler ab. Keuchend stand der Hauptmann vor seinem Landesherrn. Und nun stolperten auch von der andern Seite her, hintereinander, drei Soldaten über das Pflaster und stellten sich vor dem Brunnen in einer Reihe auf. Zwei von ihnen waren mit Gewehren bewaffnet.

»Sind das alle Unsere Soldaten?« fragte der Landesherr verwundert.

»Im ganzen sind's elf hochgräfliche Jägergardisten zu Fuß und ein Leutnant,« meldete der Hauptmann.

»Ja, wo sind denn aber Unsere anderen Soldaten?« fragte der Graf. Und fragend wandte sich der Hauptmann zu der bewaffneten Macht.

»Unser zwei haben die Torwacht,« meldete der Gefreite Günzel.

33 Der Graf zählte an den Fingern: »Sind fünf, mit dem Trommler sechs. Und wo sind Unsere fünf anderen Soldaten?«

»Der Scholl ist zum Schweineschneiden über Land gegangen,« meldete der Gefreite.

»Dazu hab' ich ihm Urlaub gegeben,« bekannte der Hauptmann.

»Und der Wagner hat das Zipperle, der liegt im Bett,« sagte der Gefreite.

»Sind acht,« bemerkte Seine hochgräfliche Exzellenz.

»Und der Endersch und der Löblein –.« Der Gefreite räusperte sich und präsentierte krampfhaft sein Gewehr.

»Wo ist der Endersch und der Löblein?« forschte der Graf.

»Der Endersch tut schlafen, und ich kann ihn nit wach kriegen,« sagte der Gefreite.

»Und warum schläft Unser Soldat Endersch –?« Die Stimme des Grafen zitterte merklich.

»Halten zu Gnaden, hochgräfliche Exzellenz, weil er gestern nacht dem Herrn Kanzleidirektor seinen Abtritt geräumt hat.«

»Sind neune,« sagte der Graf mit Haltung. »Und wo ist Unser zehnter Soldat?«

»Der Löblein muß doch dem Herrn Kanzleirat Müller alle Tage die Gäns hüten,« sagte der Gefreite.

»Sind zehn,« rechnete der Graf. »Und wo ist Unser elfter Soldat?«

Der Gefreite schwieg und sah auf den Direktor.

Der wurde rot und blaß, preßte seinen Hut noch fester unter die Achsel, nahm einen Anlauf und stotterte: »Es könnte sein – ich vermute – es ist mir, als ob der Jägergardist Grenkel unsern Mägden beistehe – ja wohl, ich glaube, meine liebe Frau läßt heute Bettfedern schleißen, und da hilft er.«

»Und wo ist Unser Leutnant?« forschte grollend der Graf.

»Der Leutnant von Tibaldi ist über Land, ins Preußische gefahren,« meldete der Hauptmann.

34 »Und warum ist Unser Leutnant von Tibaldi über Land ins Königlich preußische Territorium gefahren?« Der Graf bebte nun vor Zorn.

»Halten zu Gnaden, hochgräfliche Exzellenz, des Leutnants Frau Tochter ist von einem Knaben entbunden worden, und da feiert der Leutnant die Taufe seines Enkelsohnes,« bekannte der Hauptmann.

Allgemach waren aus den Haustüren ringsumher die Leute gekommen und erlustierten sich, wie der alte Herr die Schau hielt über seine Truppen. Da wandte sich dieser und sah in einiger Entfernung hinter sich einen großen Haufen Menschen stehen. Vor diesem Haufen aber stand der Schneider Koram mit der roten Mütze auf dem Schädel.

»Gute Leute, was wollt ihr denn eigentlich? Haltet doch nicht Maulaffen feil am hellen Alltag, sondern geht an eure Hantierung!« rief der Graf.

Die guten Leute standen unbewegt; der eine und der andere stieß seinen Nachbarn in die Seite, der Schneider Koram aber warf seine rote Mütze empor und fing sie geschickt wieder auf.

Ängstlich trippelte der Kanzleidirektor an den Regierenden heran und wagte es, höchstdenselben am Ärmel zu zupfen.

Zornig drehte sich der Graf um: »Was unterstehst du dich, Blitz?«

»Wollen Eure hochgräfliche Exzellenz gnädigst bedenken, daß der gemeine Pöbel heutigen Tages leicht in Versuchung kommt, den Respekt zu verletzen.«

Der alte Herr wurde braunrot, riß seinen Hut vom Kopfe und schleuderte ihn aufs Pflaster: »Wer will sich unterstehen, den Respekt gegen Uns zu verletzen?«

Der Kanzleidirektor, der Hauptmann, die drei Soldaten samt dem Trommler stürzten sich auf den Hut und balgten sich im Knäuel um die Ehre, ihn aufzuheben. Der Trommler 35 aber blieb Sieger und präsentierte den hochgräflichen Hut auf der Trommel. Der Kanzleidirektor trat keuchend zurück, faltete die Hände und flüsterte bebend: »Kein Mensch gedenkt den Respekt zu verletzen, hochgräfliche Exzellenz. Doch es könnte sein, daß das aufgeregte Volk –«

Der alte Herr stampfte: »Unser Volk hat nicht aufgeregt zu sein! Und wenn es dennoch aufgeregt ist, dann haben meine Beamten ihre Pflicht verletzt, und das Weitere wird sich finden.«

Noch immer stand der Kanzleidirektor mit gefalteten Händen, noch immer warf drüben vor dem großen Menschenhaufen der lange Koram seine Mütze in die Luft und fing sie auf, und die Leute murmelten und lachten. Da klang vom Bachtor herauf der Hufschlag trabender Pferde, und zwei Reiter bogen um die Ecke.

»Gott sei gelobt, der Herr Erbgraf!« rief der Direktor.

Mit einem Blick übersah der jugendliche Herr den Menschenhaufen, die Soldateska und seinen greisen Vater, sprang vom Pferde, warf dem Reitknechte die Zügel hin und ging mit langen Schritten zum Brunnen hinüber.

Als er an den Haufen der Bürger kam, rief er mit heller freundlicher Stimme sein Gutentag hinein. Da griffen sie alle an die Kappen und machten ihm Platz. Nur Koram wandte ihm geflissentlich den Rücken und stülpte die rote Mütze über die Ohren.

Die Soldateska präsentierte das Gewehr, und der Kanzleidirektor machte seine Kniebeuge. Aber heftig winkte der junge Herr ab, trat mit gezogenem Hut vor seinen Vater und sagte ganz leise: »Schlechte Nachrichten, Herr Papa. Morgen werden die Franzosen hier sein. Zunächst Infanterie. Aber ich bitte dringend, die Nachricht vorderhand noch geheim zu halten.«

»Später, mein Sohn!« rief der alte Herr. »Zuerst muß ich abrechnen mit diesen Revolutionären –!«

36 »Aber ich bitte Sie, Herr Papa, wer revoltiert denn?« begütigte der Sohn mit leiser Stimme. »Und wollen wir nicht lieber etliche Schritte abseits gehen? So, nun hört uns niemand, ehrerbietigsten Dank.«

»Ich habe diesem Pack da befohlen, sie sollen heim gehen,« sagte der Graf; »aber sie gehen nicht heim. Und das ist eine Revolution.«

»Aber ich bitte Sie untertänigst, Herr Papa, die Leute haben Höchstihren Befehl gewiß nur nicht verstanden.«

»Ich will ein Exempel statuieren!« Der alte Herr stampfte. »Vor achtzig Jahren hat mein Großvater den Bürgermeister dieser Stadt auf diesem Marktplatze höchsteigenhändig mit seinem Stocke durchgeprügelt, weil er den Hut nicht tief genug vor ihm gezogen hatte, – und ich sollte – –«

»Vor achtzig Jahren!« sagte der Erbgraf mit eindringlicher Betonung.

»Und siehst du, wie der lange Kerl da drüben seine rote Mütze immer wieder in die Höhe wirft? Was hindert mich, daß ich ihn –?«

Der Erbgraf war ganz nahe an den Zornigen herangetreten: »Wie ist mir doch, Herr Papa? Ich weiß einen guten Spruch: Aquila non curat muscas. Aber ist es nötig, daß der Sohn den Vater an seinen eigenen vielerprobten Wahlspruch erinnere?«

Betroffen sah der regierende Herr zu Boden. »Recht hast du, Geschmeiß ist's,« murmelte er. »Und um Geschmeiß darf sich der Adler nicht kümmern.«

»Geschmeiß habe ich keineswegs gesagt,« flüsterte der Erbgraf. »Aber das sage ich, der Herr Papa hat jetzt Besseres zu tun, als sich mit einem Schneider auseinanderzusetzen, der höchstdemselben ja noch nicht im geringsten zu nahe getreten ist.«

»Du hast recht, zu nahe ist mir der Schneider allerdings noch nicht getreten. Aber wenn er mir zu nahe träte?«

37 »Und ich habe dem Herrn Papa so wichtige Nachrichten zu bringen, daß ich bitten muß, mich mit in den Wagen zu nehmen. Wir müssen fliehen, Herr Papa – aber nicht vor diesen da!« Er deutete mit den Augen rückwärts auf das neugierige Volk.

»Fliehen?« Der alte Herr stand mit offenem Munde. »Wer kann mich zum Fliehen zwingen?«

»Menschen nicht, aber die Ereignisse,« flüsterte der Erbgraf.

Und also fuhren Vater und Sohn durch das Städtchen zum Schlosse empor.


Der alte Graf war bleich und saß gebeugt auf dem seidenen Kissen. Der Erbgraf hatte alles berichtet, was er wußte, saß mit gekreuzten Armen und starrte finster vor sich hin.

Nach einer Weile sagte des regierenden Herrn Exzellenz: »Du hast heute den Rappen geritten?«

»Jawohl.«

»Der Rappe ist vorderhand noch mein Leibpferd, Herr Sohn.«

»Um Vergebung, der Rappe ist das schnellste Pferd in Ihrem Stall; es war Gefahr im Verzug, und ich dachte, mit meinen fünfunddreißig Jahren doch –«

»Fünfunddreißig Jahren? Vorderhand bestimme ich noch die Wahl deiner Reitpferde. Vorderhand. Wenn ich einmal modere in meiner Gruft, dann kannst du die Bestimmung treffen nach deinem Belieben.«

»Wie Sie befehlen, Herr Papa.«

*

Das Licht der Nachmittagssonne fiel gedämpft durch drei hohe Fenster in das geräumige Wohngemach des Kanzleidirektors und warf den Schatten der Fensterkreuze samt dem Muster der blühweißen Gardinen schräg auf den blanken Bretterboden. An den Wänden hingen etliche große, roh 38 gemalte Familienbilder, wohlgenährte Männer und Frauen aus älterer Zeit; auf dem zierlichen Tische vor dem achtbeinigen Sofa blinkte das Porzellan des Kaffeezeuges; in der Ecke leuchtete mattglänzend aus einem Glaskasten der nicht unbedeutende Silberschatz des Hauses. Hinter den Gardinen des einen Fensters aber hing das Vogelbauer mit dem gelben Harzer, und das Vögelein probierte nur je zuweilen in leisen Tönen seine Kehle, als wüßte es, daß es vorderhand pflichtgemäß zu schweigen hatte.

Vorderhand. Denn jetzt regte es sich hinten in der Ecke am eisernen Ofen in dem altväterischen Ohrenstuhl, zwei rosige Fäustlein wischten sachte über zwei Äuglein, gähnend öffnete sich ein Mund, zwei Beinchen in schwarzseidenen Strümpfchen strampelten ein wenig auf dem Fußpolsterchen, und die Stimme des Kanzleidirektors ließ sich zwischen Gähnen behaglich vernehmen: »Hab – ich – aber – nun – gut geschlafen, Lottchen! Kaum glaublich nach der schrecklichen Aufregung der Revue.«

Stärker begann der Harzer zu zwitschern, und schwebenden Schrittes kam das Lottchen aus ihrer Fensternische vom Nähtischlein her. Und sie trat neben den alten Herrn, beugte sich herab und hauchte einen Kuß auf seine Stirne: »Gott segne deinen Schlaf und dein Erwachen, Bubele! Und sag, hab' ich also nicht recht gehabt? Zuerst dein gewohntes Schläfchen, dann das Kaffeele und ein gemütliches Schwätzlein und dann meinetwegen wieder die schweren Amtssorgen.«

»Freilich hast du immer recht, Lottchen. Aber mich wundert's doch, daß ich heute den Schlaf hab' finden können.«

»Das kommt von deinem guten Gewissen, Bubele.«

Der Kanzleirat erhob sich: »Und davon kommt's, daß ich gar nicht an Franzosen und an Durchmarsch glauben kann, und wenn auch der allergnädigste Herr seine Soldaten mustert und der gnädigste junge Herr noch so geheim tut.«

39 Starker Kaffeeduft erfüllte den sonnigen Raum, und das rundliche, rosige Antlitz des Kanzleidirektors Blitz, der nun auf dem Stuhl am Tische saß, erstrahlte von Wohlbehagen. Hinter ihm aber stand das würdige Lottchen, hob sorgsam das Zöpflein des Herrn und Gemahls, das nette Zöpflein mit der großen, schwarzen Bandschleife, und schlang die Serviette mit leichtem Knoten in seinem Nacken.

Kanzleidirektor Blitz hatte die Hände über dem Bäuchlein gefaltet, ließ Daumen um Daumen kreisen und sog schmunzelnd den Kaffeeduft in die Nase. Dann aber verzog sich sein zufriedenes Gesicht wie das eines Menschen, den unvermutetes Zahnweh befällt, zwischen seinen grauen Augenbrauen ward eine Sorgenfalte sichtbar, und ärgerlich murmelte er: »Wie behaglich könnten wir nun leben, meine Liebe. Ich bin ein angesehener Mann –«

»Ein hochangesehener Mann, Bubele,« fiel sie eifrig ein.

»Wir haben auch nicht umsonst gearbeitet und gespart.«

»Ganz gewiß nicht umsonst,« bestätigte sie mit gefalteten Händen.

»Unser Sohn –«

»Der Kurfürstliche Regierungsadvokat und Doktor beider Rechte,« unterbrach ihn das Lottchen mit leuchtenden Augen.

»– ist im Begriff, eine glänzende Verbindung einzugehen.«

»Und unsre Tochter, die Baronin,« nahm nun Lottchen das Wort und wischte das linke Auge, das zu tropfen begann; denn sie litt sehr an einer chronischen Verstopfung der Tränendrüsen.

»Wir wissen's ja!« rief er. »Und meine hohen Gönner in Wien – jeden Tag kann die Post den kaiserlichen Brief bringen –.«

»Gott segne das Werk unsrer Gönner, Blitz, und segne unsre Kinder und Kindeskinder nach uns!« rief sie mit Andacht.

40 »Johann Friedrich und Charlotte Blitz von –!« sagte er feierlich.

»Um Gotteswillen Bubele!« Sie verschloß ihm den Mund. »Ich bitte dich, beschrei's doch nicht zur unrechten Zeit!«

»Ach was –!« Er zog ihre Hand von seinem Munde, neigte sich aber sogleich und drückte einen artigen Kuß auf ihre Finger. »Wir müssen uns nun der Kourtoisie befleißigen, Lottchen.«

»Das haben wir von jeher getan, und unser Haus ist bekannt als Heimstätte vornehmen Tones,« hauchte sie und goß den dampfenden Trank in seine Tasse, hob mit der silbernen Zange zwei Zuckerstückchen aus der silbernen Dose und warf sie hinein.

»Also, wie schön wäre es, wie friedlich könnte es sein, wie zufrieden könnten wir dahin leben, unserer ewigen Bestimmung entgegen –«

Sie hatte das Rahmkännchen gefaßt, aber sie stellte es wieder auf die Decke und schloß ihrem Herrn zum zweiten Male den Mund: »Bubele, ich bitte dich, heute bist du so philosophisch gestimmt.«

Kanzleidirektor Blitz schob ihre Hand zum zweiten Male zurück, aber nun hauchte er keinen Kuß auf ihre Finger. Zornig stieß er hervor: »Wenn diese Jakobiner nicht auf der Welt wären!«

»Diese Sünder, diese abgebrühten,« bestätigte Frau Lottchen und goß sorgsam den Rahm durch das Geflechte des silbernen Seihers.

»Diese Jakobiner!« wiederholte er mit einem tiefen Seufzer. Und er wußte das Wort so verächtlich auszusprechen, als wäre er der regierende Graf. Es ging Frau Lottchen durch Mark und Bein. Er aber begann in dem dampfenden Trank zu rühren.

»Wo die einmal schmoren müssen!« sagte die Frau Direktorin und wischte ihr linkes Auge, legte ihrem Gemahle 41 einen Ausschnitt vom flaumigen Kuchen auf den Teller und goß nun endlich auch Kaffee in die eigene Tasse.

»Wo die einmal schmoren müssen!« Dieser Seufzer war das letzte Glied in jeder Gedankenreihe, die sie dem bösen Weltlauf widmete. Und ihre Phantasie konnte sich den Vorgang so lebhaft ausmalen: der wehrlose Bösewicht wurde zum Schmorbraten, und neben ihm stand an Stelle der Köchin ein hageres Teufelchen und übergoß ihn von Zeit zu Zeit aus einem Schöpflöffel mit dem selbsteigenen Angstsafte, der aus all seinen Poren hervorquoll. Und in diesem Schmoren erkannte die fromme Frau ganz deutlich den letzten Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit.

»Diese Jakobiner!« sagte der Kanzleidirektor zum dritten Male. »Im eigenen Lande fürchte ich sie mehr als alle Franzosen, und wenn ich etwas nicht begreifen kann, so ist es die Unzufriedenheit der Menschen mit den bestehenden vortrefflichen Einrichtungen, bei denen ich mich so wohl befinde. Gott der Herr bewahre uns vor Durchmärschen und Einquartierungen – vor allem aber vor unseren Jakobinern und vor jeglicher Aufregung –«

»Leibes und der Seele,« fiel sie andächtig ein und wollte die Hände falten. Aber nun begannen beide Augen zu tränen, also daß sie darüber zu streichen gezwungen war.

»Ja, das wolle er in Gnaden tun!« sagte der alte Herr und wischte den Mund mit der Serviette, und der Knoten in seinem Nacken hob sich ein wenig, dermaßen, daß das Zöpflein mit der schwarzen Masche steif nach hinten ragte. Und er brach sich ein Stück vom lockern Kaffeekuchen und tauchte es tief in die Tasse, stopfte den großen Bissen in den Mund, daß die gelbe Brühe zur Rechten und Linken herablief, und äußerte mit betrübtem Gesichte: »Denn was – hab' – ich davon, wenn – mich plötzlich der – Schlag – trifft?«

42 Frau Lottchen war aufgestanden, zupfte ihm die Serviette zurecht und tätschelte seine Wangen. Und nun liefen ihr wahrhaftige Kummertränen über die runden Backen: »Bubele, ich bitt' dich ums Himmelswillen, sprich doch nicht immer von so schrecklich traurigen Dingen wie von der ewigen Bestimmung und – und vom Schlagtreffen – und –«

»Diese Jakobiner!« wiederholte er. Und wie vorhin rollte das R mit hochgräflicher Betonung; aber es klang nicht mehr zornig wie vorhin, sondern wie das behagliche Schnurren eines großen Katers, den die Herrin hinter den Ohren kraut.

Frau Lottchen hatte sich wieder gesetzt, hob die Tasse, hielt die hohle Hand darunter und sagte: »Wo die einmal schmoren müssen!« Und mit hellseherischen Augen erblickte sie im Geiste die Jakobiner des Städtleins, vor allen den Doktor und den Schneider Koram und alle andern hintereinander wie kläglich gerupfte Brathühner, schmorend am Spieße ihres Schicksals. –

Einträchtig saßen die alten Leutchen beisammen, gleichsam auf einer stillen Insel, sie mit den seelenvollen, immer tränenden Augen, er mit der Serviette um den Hals und dem steif hinausragenden Zöpflein. Und die Sonne leuchtete, als wäre sie nur dazu am wolkenlosen Himmel, daß es sich behaglich sitze in der Stube hinter den blühweißen Gardinen; und der Harzer in seinem Bauer zwitscherte und schmetterte und rollte, daß die Wände widerhallten.

Da wurde die Hausglocke gezogen. Frau Lotte trippelte ans Fenster. Sie warf einen Blick auf den Spiegel am Gesimse, durch den sie angenehmerweise um die Ecke schauen konnte, und sagte über die Schulter zurück: »Der Posthalter in eigner Person.«

»Lottchen!«

Sie wandte sich und sah in sein angstvoll verzerrtes Gesicht.

»Aber Bubele – was ist dir denn?«

43 »Lottchen – wenn nur jetzt nichts aus Wien kommt!«

»Aber Bubele, hast's ja doch kaum erwarten können?«

»Lottchen!« Er hatte sich erhoben und stand mit weit geöffneten Augen vor dem Tische. »Lottchen, wenn wir nun auf einmal adelig werden, dann kommen gewiß auch die Franzosen und dann genade uns Gott.«

Es war ganz stille in dem sonnigen Gemache. Sogar der Kanarienvogel schwieg. Auch das Lottchen war bleich geworden. »Aber freilich – Bubele – daran hab' ich gar nicht gedacht.«

Und es kam. Es kam unentrinnbar wie das Verhängnis. Es kam gleichmäßigen Schrittes die Treppen empor – tapp, tapp. –

Mit zitternden Händen riß Kanzleidirektor Blitz die angesiegelten Schnüre vom Wachstuch und schälte die Blechbüchse aus der Leinwand, öffnete den Deckel und hob das rotsamtene Libell heraus.

Jetzt noch Kanzleidirektor Johann Friedrich Blitz – dann aber – die große vergoldete Siegelkapsel baumelte an der schwarzgelben Seidenschnur herab, das Lottchen stand hinter dem Gemahl und guckte über seine Schulter in das geöffnete Libell. Mit bebenden Lippen las der Direktor: »– – also, daß er und seine ehelichen Leibeserben sich fortan schreiben sollen, und daß ihnen geschrieben werden soll von allen Ämtern und jeglichen Standes Angehörigen für und für Blitz von Wolkenfels – –«

Blitz von Wolkenfels –! Der Kanzleidirektor legte das Libell ganz still auf einen Stuhl, zog sein Taschentuch und schneuzte sich.

So stand er also auf dem stolzen Gipfel, den er seit Jahren nur gleichsam im Traume über den Wolken der Hindernisse erblickt hatte.

Frau Lotte fand, wie sich's gebührte, zuerst die Sprache. Sie wischte mit beiden Fingern beide Augen aus und lispelte 44 selig: »O der liebe, gute Kaiser! Ganz wie's dein Wunsch gewesen ist, Bubele.«

»Hat mir aber auch ein schwer Stück Geld gekostet,« murmelte Kanzleidirektor Blitz von Wolkenfels, trat an den Stuhl, schlug noch ein Blatt um und deutete auf das prächtige Wappen, das aus den verschnörkelten Buchstaben des Adelsbriefes hervorleuchtete, auf den schroffen, blauen Berg, von dessen wolkenverhülltem Haupte der goldene Wetterstrahl in den schwarzen Schild hineinzuckte. »Wir wollen jetzt nur an das Angenehme denken, Lottchen!« Er breitete die Arme aus, und wie ein Täubchen flatterte das Lottchen – sank Frau Lotte Blitz von Wolkenfels – piepsend an seine Brust.

»Es wird große Veränderungen geben,« sagte der Kanzleidirektor und blickte mit weitgeöffneten Augen in die Ferne. »Mit diesem Adelsbriefe werde ich vor Seine hochgräfliche Exzellenz treten und werde sagen: Exzellenz, bis hierher und nicht weiter.«

»Ich glaube dich zu verstehen – Bubele, du willst, daß er künftig nimmer du zu dir sagt –?« Sie blickte ihn fast erschrocken an.

»Es wird schwer halten, aber ich will's versuchen. Ich werde ihm sagen: Hochgräfliche Exzellenz, auch der Wurm hat seine Ehre –.«

»Aber was werden die andern dazu sagen, Bubele? Die wird er ja doch noch duzen, meinst du nicht auch?«

»Das steht bei ihm. Mit mir aber wird das eine große Veränderung geben, Lotte.«

»O, Bubele, was für ein Glück!« Und sie weinte nun wirklich, während sie stoßweise hervorbrachte: »Was – wird – die Frau Kanzleirätin Müller und die Frau Kanzleirätin Roßmeier und die Frau Doktorin und die Frau Dekanin und die Frau Baronin dazu sagen –?«

45 Abermals ertönte die Hausglocke, und Frau Lotte schwebte dem Fenster zu. »Bubele, da kommen sie nun zu viert, die drei Kanzleiräte und der Assessor – und sagst du's ihnen jetzt gleich? Oder wissen sie's vielleicht schon?«

»Ums Himmels willen – fort, fort mit dem Briefe – kein Wörtlein Lottchen; jetzt nicht!« Er sah verstört aus und atmete schwer. Und mit zitternden Händen raffte er das rote Libell und den Blechkasten und das Papier samt der Wachsleinwand zusammen und rannte damit aus der Stube.

Noch immer standen die Viere vor dem Hause des Direktors, noch immer blickte das Lottchen durch den Spiegel um die Ecke. Dann aber trat sie auf die eiserne Falle im Fußboden.

Kanzleidirektor Blitz – vorderhand nur Blitz; den Wolkenfels hatte er draußen aufs Bett gelegt – betrat nun wieder das Gemach, und das Lottchen band sich die Schürze ab und ging den Herren bis an die Stiege entgegen.

»Hoffentlich nichts Unangenehmes für mein Männchen?«

Der erste Kanzleirat blieb auf der halben Stiege stehen und verneigte sich tief: »Läßt sich nicht immer vermeiden, Frau Kanzleidirektor, zumal nicht in Kriegszeiten.«

»Aber justament jetzt, wo Sie doch wissen, daß mein Männchen tagtäglich seinen Kaffee trinkt?«

Der erste Kanzleirat war nun ganz heraufgekommen, verneigte sich abermals und flüsterte zu Frau Lotte geneigt ein paar Worte.

Die Frau Direktor schlug die Hände zusammen: »Schonend, meine Herren, schonend, ich bitte Sie –!« brachte sie drohend heraus.

»Seine Gnaden der Herr Kanzleidirektor würden es uns mit vollem Rechte verdenken, wenn wir ihm diese Nachrichten vorenthalten wollten,« meinte der zweite Rat.

»Zudem habe ich ein hochgräfliches Handschreiben,« fügte der erste Kanzleirat bei.

46 Frau Lotte ging den Herren voran in die Stube: »Lieber Blitz, die Herren kommen in unaufschieblichen Geschäften, aber ich habe es ihnen schon gesagt, aufregen willst du dich nicht.« Und damit setzte sie sich auf das achtbeinige Sofa, und nahm ihre Stickerei zur Hand.

Seine Gnaden standen inmitten der Stube, gerade auf einem der Fenstervierecke, das die Sonne auf den Fußboden malte, er stand nur als Kanzleidirektor Blitz vor seinen Untergebenen und wirkte einzig und allein durch den Adel seiner Erscheinung und die Würde seines Amtes; denn der Wolkenfels blühte einstweilen noch im Verborgenen. Die silbernen Schnallen der Schuhe glänzten, ja es war, als ob Blitze hervorzuckten aus den Fußzehen des Direktors. Er stand als ein ganzer Mann, als ein hochgräflicher Beamter in den schwarzen Schuhen, schwarzseidenen Strümpfen und schwarzsamtenen Kniehosen und hatte die Linke in das Spitzenjabot seines zimmetfarbenen Leibrockes geschoben. Das Lottchen hob verstohlen die Lider und warf einen tränenschweren Blick hinüber auf den, dessen vollen, stolzen Namen zurzeit nur sie noch kannte, auf Johann Friedrich Blitz von Wolkenfels. Und sie hätte wohl denken können: Genau so wie Seine hochgräfliche Exzellenz steht mein Bubele vor seinen Beamten. Aber daran zu denken hatte sie jetzt keine Zeit.

Mit vorgeneigten Schultern warteten die Räte, und der erste Rat begann von einer Botschaft zu erzählen, die man soeben vom hochgräflichen Agenten aus der Hauptstadt erhalten hatte. Dann zog er einen Brief aus der Tasche und überreichte ihn dem hohen Vorgesetzten mit gebührender Reverenz. Und dieser las: »An Unsern Kanzleidirektor.« Dann erbrach er das Siegel. Ein Zettel kam aus dem Umschlag: »Blitz, die Franzosen kommen. Die Landesdefension ist Unsre Sache. Denn davon versteht ein Tintenschlecker nichts. Aber du sorgst mir dafür, daß die jakobinische 47 Bürgerschaft nicht mit den Franzosen fraternisiert! Verstanden? Im Notfall ist sie mit Kandare, Sporen und Reitpeitsche zu bändigen.«

Der Kanarienvogel begann zu piepsen und zu schmettern, der Kanzleidirektor aber stand mit angstverzerrtem Gesicht vor seinen Räten und war ganz klein geworden. Der Kanarienvogel rollte und schrie, und der Kanzleidirektor blickte ins Leere und sah, wie sich auf der Heerstraße die Franzosen heranwälzten mit fliegenden Fahnen, mit Wägen und Weibern und Kindern, und sah sich als Reiter mit Sporen und Peitsche auf einem brausenden Rosse.

»Wie viele?« brachte er endlich mühsam heraus und leckte sich die trockenen Lippen.

»Ein Bataillon Infanterie, Herr Kanzleidirektor.«

»Und ist's auch kein Irrtum? Wir sind doch ganz neben draußen –?«

»Sie werden morgen vormittag im Städtchen sein,« sagte der erste Rat.

»Mit Freuden empfangen von der ganzen Bürgerschaft,« bemerkte der zweite Rat.

»Ohne obrigkeitliche Erlaubnis?« stieß der Direktor heraus und griff mit beiden Händen an seinen Kopf. Und kläglich schrie er: »Ja dürfen s' denn das?«

»Es ist Kriegszeit,« äußerte sich der dritte Rat mit sanfter Stimme, während die andern ein respektwidriges Lächeln bekämpften.

»Und heute abend soll Bürgerversammlung im Fetten Ochsen sein,« bemerkte der Assessor mit geziemender Bescheidenheit.

»Diese Jakobiner!« kreischte der Direktor.

»Und ich meine –« sagte der erste Rat und hielt ein wenig inne. Doch als der Direktor seinerseits gar nichts zu meinen geruhte, fuhr er fort: »Es dürfte den hochgräflichen 48 Intentionen entsprechen, wenn die Beamtenschaft sich heute abend ohne weiteres auch in den Fetten Ochsen begibt – unvorgreiflichst.«

»Ich – in den Fetten Ochsen – gehen? Aber ich verkehre doch niemals im Fetten Ochsen!« Die Stimme des alten Herrn klang weinerlich. »Unter all diese Jakobiner hinein –? Und was hab' ich dann, wenn mich der Schlag trifft?«

Da meinte Lottchen, daß ihre Zeit gekommen sei, und erhob sich zum Beistande. Und sie sagte mit Festigkeit: »Nein, Bubele, du gehst unter keinen Umständen; denn so was paßt denn doch jetzt erst recht nicht mehr für deinen Stand.« Und heftig tränten ihre Augen.

Dankbar blickte sie der Direktor von der Seite an: »O gelt, Lottchen! Denn – noch einmal, was hab' ich davon, wenn mich der Schlag trifft?«

Der erste Rat zuckte die Achseln, nahm seinen Hut unterm linken Arm hervor und steckte ihn unter den rechten Arm und nach einer Weile wieder unter den linken. Und der zweite Rat zuckte die Achseln, zog seine Dose und nahm unhörbar ein Prieschen. Und auch der dritte und der Assessor zuckten die Achseln. Das Lottchen aber geleitete den erschöpften Gatten an seinen Stuhl. Stöhnend sank er auf das Polster und glotzte mit großen Augen ins Leere. »Und ich muß doch in den Ochsen, und wenn's auch mein Tod ist.«

Heftig winkte Frau Charlotte Blitz von Wolkenfels den Herren ab. Der erste Rat verbeugte sich tief, und alle andern verbeugten sich, und so leise als möglich tappten sie nach Alter und Rang aus der sonnigen Stube. Als ein siegreicher Hahn aber schmetterte hinter ihnen her der Harzer sein Lied.

Sie tappten die Stiege hinunter, einer hinter dem andern, und jeder von ihnen genoß im stillen das Bewußtsein, daß 49 er nun viel zu sagen wüßte, was er doch niemals zu äußern gewagt hätte.

Der Kanzleidirektor aber saß gebrochen auf seinem Stuhle, und Frau Lotte besprengte seine Stirne mit starker, wohlriechender Essenz. Und endlich war er so weit hergestellt, daß er mit klangloser Stimme herausbrachte: »Lotte, wenn die Franzosen kommen, dann haben sie gewiß eine Guillotine bei sich, und dann müssen wir dran glauben – wir Aristokraten alle, die hochgräfliche Familie, die Baronin Goldeneck, ich und du.« Er griff an sein Herz.

»Und wir haben doch auch noch gar nichts von unserm Adel genossen,« klagte sie mit Seufzen. »Aber weißt, Bubele, wir brauchen ja unsern Adel noch nicht vor den Leuten zu bekennen,« setzte sie sehr bestimmt hinzu.

Er begann in der Stube auf und ab zu gehen. Und nach einer Weile fragte er ängstlich: »Meinst du nicht, man könnte mir's ansehen, daß ich vom Adel bin?«

»Du wirst geringe Kleider anziehen und wirst dich etwas gebückt halten,« entschied das Lottchen.

Da fuhr er zusammen. »Ums Himmels willen, was war denn das?«

»Eine Türe ist ins Schloß gefallen, Bubele.«

»Nein, man hat eine Kanone abgeschossen.«

»Blitz, leg' dich ins Bett!«

»Und jetzt, Lotte –!« Er umkrallte ihren Arm. »Da schießt auch schon das ganze Bataillon!«

»Unsinn! Der Büttner Marx ist's mit seinen Gesellen, das klingt nur so um die Ecke herüber.«

»Wir wollen den Adelsbrief verbrennen, Lottchen.« Der Direktor schwankte der Kammertüre zu.

»Nur nichts übereilen, Liebster.« Sie ergriff ihn am Rockflügel. »Wir wollen ihn verstecken, unsern Adelsbrief, so gut verstecken, daß ihn keiner finden kann.«

50 »Wo denn –?«

»Ich hab's, in der Küche unter den Steinplatten.«

»Mitsamt der verfluchten Blechbüchse, Lottchen!«

»Mitsamt der Blechbüchse.«

Sein Antlitz glättete sich, ein müdes Lächeln belebte die fahlen Züge, die Äuglein zwinkerten: »Lotte, wir wollen ihn einsalzen, unsern Adel, für bessere Zeiten.«

»O du liebes Bubele, jetzt kommt er ja wieder, dein goldiger Humor. Einsalzen? Ja wohl, du wirst dich einst noch sehr freuen an dem wunderschönen Pergament.«

Er wehrte ängstlich ab. »Laß, Lotte, wir wollen auch das Herz gewiß nicht an die Eitelkeiten dieser Welt hängen.« 51

 


 


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