August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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3. Weihnachten 1811

Die Turmuhr hatte viermal geschlagen, und aus dem Kollegienhause kamen die Studenten. Ein früher Abend senkte sich nieder auf das Städtlein, in dichten Flocken fiel der Schnee und hüllte alles in sein fleckenloses Kleid.

Gerhard trat zu zwei Frankenbrüdern und fragte, ob sie denselben Weg gingen. Da sagte der eine, sie wollten noch auf einen vierten warten; der Fuchs dürfe auch warten, wenn er wolle. Aber Gerhard warf den Kopf zurück, nickte und ging.

Eine Weile schwiegen die beiden und sahen ihm nach. Dann räusperte sich der eine und hielt es für seine Burschenpflicht, zu bemerken: »Wir beide sind doch recht ehrwürdige alte Häuser. Aber ich glaube, wir haben in den sieben Semestern noch keinen Fuchsen von der Art dieses Frey erlebt.«

Der andere zuckte die Achseln: »Es steckt halt auch 'was Besonderes in ihm. Schon sein erstes Auftreten war außerordentlich. Dann kam die nette Fuchsenmensur nach vierzehn Tagen. Und einen fleißigeren Krassen habe ich wenigstens noch nie gesehen; ich glaube, er hört täglich sechs Kollegien. Dabei stellt er auch im Kommershaus seinen Mann.«

Der erste murrte: »Ich finde, man müßte ihn trotz alledem ducken. Er wird verwöhnt, und das hat noch keinem gut getan. Wenn ich denke, wie man uns als Füchse gehudelt hat! Und seinen Konfüchsen geht's auch nicht besser.«

Der zweite lächelte spöttisch: »So duck ihn halt, Konfuchs.«

»Das wäre Sache der Jungburschen,« sagte der erste. »Ich hohes Semester habe keine Zeit, mich mit Fuchsenerziehung abzugeben.«

Der zweite meinte: »Ich wüßte gar nicht, was da zu ducken wäre, und möcht's auch nicht gerne tun. Dieser Frey 347 hat etwas in seinem Blick, das ihm jeden fünf Schritte vom Leibe hält. Hast du vorhin wieder das scharfe Aufleuchten in seinen Augen beobachtet? Diese Augen passen gar nicht recht in das gutmütige Knabengesicht.«

»Ein frecher Fuchs ist er, und ich bleibe dabei, man müßte ihn ducken,« sagte der erste. »Bin begierig, was noch aus ihm wird.«

»Ein Senior – was denn sonst?« lachte der andere.


Gerhard ging mit raschen Schritten durch den Schnee und bog in seine Gasse ein.

Da klang von ferne gedämpfter Gesang an sein Ohr. Er blieb stehen und lauschte. Die Singknaben waren's.

Er kam nach Hause und klopfte an der Stube der Hausjungfer.

Sein Anliegen war bald gesagt, und er wollte sich wieder entfernen. Da trappelten auch schon die Knaben im Schnee vor dem Haus und begannen zu singen:

Macht hoch die Tür', die Tor' macht weit,
es kommt der Herr der Herrlichkeit.

Freundlich lud ihn die Hausjungfer ans Fenster ein, und während er mit raschem Blicke gegenüber im ersten Stock Lotte Töbing erspähte, sangen die Kinder mit hellen Stimmen:

Sein' Königskron' ist Heiligkeit,
sein Szepter ist Barmherzigkeit.
All unsre Not zum End' er bringt,
derhalben jauchzt, mit Freunden singt:
Gelobet sei mein Gott, mein Heiland groß von Tat.

Die Jungfer stand mit gefalteten Händen neben dem Fuchsen und lauschte andächtig auf die rührende Weise. Und als der letzte Ton verklungen war, öffnete sie das Fenster und reichte ihre Gabe hinaus.

»Uralt und ewig jung,« meinte sie und schloß den Flügel.

348 »Bei uns zu Hause singen sie jetzt auch von Tür zu Tür,« sagte Gerhard.

»Ich weiß,« rief sie lebhaft. »Das heißt, ich kann mir's denken; denn in allen Städten singt man so,« verbesserte sie sich. »Wie liebe ich diese Zeit vor Weihnachten, in der alles hinweist und vorbereitet auf den Gesang der Engel zum Lobe des himmlischen Königs: Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.«

Die Kinder sangen die dritte Strophe und begannen die vierte. Und während es draußen in der tiefen Dämmerung wehmütig und erhaben klang

Macht hoch die Tür', die Tor' macht weit,
eur Herz zum Tempel zubereit' –

fühlte der Fuchs plötzlich, daß jemand hinter ihn getreten war. Er wandte sich und blickte dem Bierlupf ins graue Gesicht. Und er sah dicke Tränen über seine Hängebacken rinnen.

Verlegen nickte er und wandte sich wieder zum Fenster. Als aber die Knaben zum nächsten Hause zogen, getraute er sich noch immer nicht umzusehen, und wurde so wider seinen Willen Zeuge einer kurzen Unterredung, die sich im Flüsterton nahe der Tür zwischen der schwarzen Moral und ihrem Hausburschen entspann.

»Nur zwölf Kreuzer, Jungfer!«

»Keinen Groschen. Sie sind heute nacht erst wieder um zwei Uhr heimgekommen.«

»Ach, ich will's ja gewiß nimmer tun. Und wo soll ich denn auch bleiben den öden Abend lang?«

»Sie werden Ihr bißchen Verstand noch vollends vertrinken, und dann ist's aus mit all unsern Hoffnungen.«

»O, Sie irren. Ich habe nun starken Studiergeist, und es kann mir gar nimmer fehlen. Wenn ich nur ein Jahr so weiter arbeite, dann besteh' ich das Theologische. Sie können sich darauf verlassen.«

349 »Das gebe Gott. Aber ich seh' doch nie, daß Sie studieren. Auf Ihrem Tisch liegt seit acht Wochen das griechische Testament und der Kommentar, beide aufgeschlagen, und täglich lese ich die gleiche Seitenzahl. Und Ihr Tintenfaß –«

»Ach ja, liebe Jungfer, ich gebe zu, es ist ausgetrocknet. Wollte Sie auch schon längst bitten, Sie haben doch so ein gutes Tintenrezept. – O nein, werden Sie nur nicht böse. Ich weiß, es fehlt noch manches an meiner Besserung. Aber Sie dürfen mir glauben, es ist so schwierig, die Gedanken zusammenzuhalten. Sie flattern immer wieder auseinander wie – ja wie doch gleich? – wie – ja richtig, wie Fliegen vom faulen Apfel, wenn man mit dem Stock zwischen sie sticht. Ist das nicht ein vortreffliches Bild? O, sehen Sie, oft habe ich ganz überraschende Gedanken.«

Gerhard wandte den Kopf und sah nun den alten Menschen mit gefalteten Händen stehen. Und er hörte seine weinerliche Stimme: »Von morgen an soll's besser werden, auf mein heiliges Ehrenwort. Und wenn ich dann einmal in der Weihnachtszeit auf meiner Pfarre sitze, so will ich mich daran erinnern – das Lied hat's über mich vermocht. O, Jungfer, das Lied vorhin. Sehen Sie, das Lied hat unsere selige Mutter auch immer mit uns Kindern gesungen in der Adventszeit. Oh, oh! Sagen Sie, müssen denn nicht die Worte

Macht hoch die Tür', die Tor' macht weit,
es kommt der Herr der Herrlichkeit –

müssen solche Worte nicht auch das härteste Herz erweichen?«

»Geb's Gott, Herr Studiosus.«

»Und ich hab' doch auch gar kein allzu hartes Herz. Nur das Denken wird mir so sauer.«

»Das kommt vom vielen Trinken, Herr Studiosus.«

»Glauben Sie? Mag sein. Die bösen Buben sind's gewesen, die haben mich verführt. Aber von morgen an soll's besser werden, so wahr Gott lebt.«

350 »Warum denn nicht von heute an? Ich will Ihnen die Stube heizen, eine neue Kerze aufstecken; Tee sollen Sie haben, eine ganze Kanne voll – aber heute müssen Sie noch anfangen – heute noch, heute noch!«

»O liebe Jungfer, heute noch geht das wahrhaftig nicht. Ich habe mich doch verabredet. Und mein Wort muß ich halten – nicht wahr? Also rücken Sie heraus mit dem Geld. Nur zwölf Kreuzer, nicht mehr.«

»Ich will Ihnen sechs Kreuzer geben, und Sie kommen um zehn Uhr heim – gilt's?«

»Aber ich muß doch immer wie Sie wollen. Es gilt.«

»Und morgen?«

»Morgen will ich ochsen, bis mir armslange Hörner wachsen.« –

Die Türe hatte sich hinter dem ungeschlachten Menschen geschlossen, und seufzend kam die Hausjungfer heran.

»Es tut mir leid, daß ich ganz gegen meinen Willen –,« begann Gerhard.

Sie winkte ab. »O lassen Sie das. Der da und ich haben keine Geheimnisse miteinander. Es ist ein Kampf, den ich seit Jahren führe mit dem armen Menschen.«

»Sie erwerben sich große Verdienste um ihn,« meinte der Fuchs.

»Sehr weise bemerkt, Herr Frey. Aber was ich etwa Tag um Tag mühselig aufgebaut habe, das wird von Ihresgleichen an einem einzigen Abend wieder eingerissen.«

»Ich bin mir nichts bewußt,« stotterte er.

»Verzeihen Sie, ich habe auch nicht Sie besonders im Auge gehabt. Aber nun möchte ich Sie doch etwas bitten, ehe Sie in die Ferien reisen. Einen Augenblick – nehmen Sie Platz, ich bringe Licht.« –

Sie saßen einander gegenüber im Scheine der Talgkerze.

»Werden Sie mir nicht zürnen, wenn ich ein gutes Wort 351 für den Kandidaten Körbelius einlege? Ich weiß, daß Sie ihn keines Blickes mehr würdigen.«

»Aber Sie wissen ja gar nicht, was mir mit ihm begegnet ist.«

»O doch, er hat mir alles haarklein erzählt.«

»Dann wissen Sie auch, daß er ein ehrloser Feigling ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich noch nie vom Kandidaten Körbelius gedacht.«

»Alle honorigen Burschen denken genau so wie ich,« sagte er nicht ohne lehrhafte Betonung.

»Alle honorigen Burschen?« Sie lächelte. »Alle honorigen Burschen? Dann freilich.«

»Eine Frau versteht wohl nicht viel von solchen Dingen,« bemerkte er herablassend.

Wieder flog das Lächeln über ihr Gesicht. Es war ein mütterliches, ein nachsichtiges Lächeln, und dem Knaben wurde unbehaglich zu Mute unter diesem Lächeln der alten Jungfer. Sie mochte das fühlen; denn sie sagte sogleich in herzlichem Tone: »Und wäre es nicht möglich, daß Sie sich mit vielen honorigen Burschen irren? Haben Ihnen diese honorigen Burschen zum Beispiel auch erzählt, daß der wunderliche Körbelius im vergangenen Winter einem Kinde das Leben gerettet hat?«

»Woher sollte ich das wissen?«

»Nun also, im letzten Winter hat er ein armes Kind halbtot aus dem Treibeis gezogen und wäre bei diesem Geschäfte beinah selbst ertrunken. Ganz feige ist der Mann also vielleicht doch nicht?«

»Merkwürdig,« murmelte der Fuchs und schwieg zunächst. Dann aber sah er sie fast schüchtern an. »Wäre er doch nach getaner Rettung selbst ertrunken! Denn wie kann er leben, wenn ihn alle ohne Ausnahme verachten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Alle –? O Herr Frey, Sie 352 irrren. Und wenn ihn auch alle honorigen Burschen verachteten« – sie setzte sich kerzengerade – »das wäre das Ärgste auf Erden wahrhaftig noch nicht.«

»Was wäre denn noch ärger?«

»Wenn er von allen hochgeehrt wäre und müßte sich selber im stillen verachten.«

Sie stand auf.

»Das wäre allerdings noch ärger,« bekannte er halblaut und begann sein Schnurrbärtchen zu zwirbeln. »Aber ich denke, das gibt's überhaupt nicht.«

»Adieu, Herr Frey, und nichts für ungut – gewiß nicht?« Sie reichte ihm lächelnd die derbe Hand, und es war ihm nun fast, als müßt' er sich vor ihr verneigen.

Draußen fiel ihm aber ein, daß man sie die schwarze Moral heiße. Da biß er sich auf die Lippe und war froh, daß er seine Haltung bewahrt hatte.

Dann ging er nachdenklich die Stiege hinauf. Doch er machte nicht halt in seinem Stockwerk, sondern klomm die steile Stiege zum Dachboden empor. Vor der niederen Türe des Kandidaten besann er sich noch einmal. Da kam dieser schon auf die Schwelle.

»Ich habe mich nicht getäuscht. Ich habe Sie am Schritt erkannt.«

»Wenn ich gekommen bin, so verdanken Sie's nur der schwarzen Moral.«

Der Kandidat nickte mit wehmütigem Lächeln. »Bitte, kommen Sie herein.«

Der Fuchs betrat die Bude. Es war eine kleine Kammer mit zwei schräg gerichteten Dachlucken hoch oben in anderthalb Mannshöhe. An der linken Wand stand ein Bett, an der rechten eine längliche, mit Bettstücken gefüllte Kiste. Alles war sauber und aufgeräumt. Am Tische, inmitten der Stube, saß ein zwölfjähriger Knabe und schrieb beim Lichte einer dünnen Kerze.

353 »Mein Bruder,« sagte der Kandidat und strich über das Haupt des schmächtigen Kindes.

»Ich wußte nicht, daß Sie einen Bruder bei sich haben.«

»Heinerle, du kannst jetzt noch eine halbe Stunde zur Hausjungfer gehen,« sagte der Kandidat.

Gehorsam wischte der Knabe seine Schreibfeder aus und ging.

»Wollen wir uns setzen, Herr Frey. Das Kind ist mit mir auf die Universität gezogen. Ein gutes Kind und hochbegabt. Es besucht die Lateinschule. Die Gnade des Herrn ist sichtbar mit ihm. Aber die Bettkiste wird ihm nun doch fast zu klein.«

Gerhard sah nicht ohne Mißbehagen hinüber an die Wand auf die ärmliche Kiste mit den Bettstücken.

»Ich bin der Sohn eines Dorfschulmeisters und der Älteste von elf Kindern. Von Jugend auf habe ich gute Luft geatmet – das heißt, vor der Schwelle der baufälligen Hütte, die man Schulhaus nennt. Im Innern freilich war die Luft zuweilen etwas dick, wenn nämlich die vierzig Schulkinder in der großen Wohnstube saßen, die Mutter am Kochherd das Essen zubereitete und die kleinsten ihrer eigenen Kinder wie die Küchlein um die Henne herumhockten.

»Es gibt zwei Familienväter in unserm Dorfe, die ihren Stammbaum kennen und stolz darauf sind. Der eine von ihnen ist der Schulmeister. Denn in der fünften Generation ziehen die Körbeliusse ihre Kindlein in derselben Hütte groß. Der andere aber wohnt auf dem Hügel hinter der Kirche und muß seine Wohnstube nicht mit vierzig Schulkindern teilen. Fünf dicke, schwarze Türme stehen Wache rings an dem dreistöckigen Schloß – einer an jeder Ecke, der fünfte aber an der Stirnseite, und durch dessen rundbogiges Tor betritt man unter einem kunstvoll gehauenen Steinwappen das Schloß. 354

»In Freud und Leid haben sich die beiden Geschlechter seit anderthalbhundert Jahren zusammengewöhnt. Und von außen angesehen hat es den Anschein, als ob die Barone in dem alten Schlosse die Freude in Erbpacht hätten, die Schulmeisterschen in der Hütte aber das Leid. Ich wenigstens habe das lange Zeit gemeint, bis ich eines Tages, auf Grund altererbter Pflichten und Rechte, dazu ausersehen wurde, das feudale Schloß zu beziehen.

»Sie müssen nämlich wissen, im ganzen Dorfe ist kein abgabfreies Anwesen zu finden. Alle Bauern haben den Herrenleuten zu zinsen, zu gülten und zu fronen, auch Hand- und Spanndienste zu leisten. Auf der Hütte des Schulmeisters aber liegt ein besonderer Blutzehnt: Jede Generation hat mindestens einen Prügeljungen zu liefern.«

Der Kandidat erhob sich: »Sie entschuldigen, aber wenn ich von diesen Geschichten erzähle, wird mir heiß. Dann kann ich nicht sitzen bleiben. Denn –« er nahm einen Stock und öffnete die Dachlucke – »der Prügeljunge der fünften und« – er ballte die Hände, er reckte sich – »der fünften und letzten Generation, wenn der gnädige Gott seinen Segen dazu gibt, war ich.«

Er kam wieder an den Tisch und stemmte die Fäuste auf die Kante. »Sie können ja das Elend doch nicht begreifen, wenn ich's Ihnen auch haarklein erzähle.«

»Bitte, sagen Sie mir alles!« brachte der Fuchs heraus. »Ich habe nun eine Ahnung.«

»Ihre Ahnung betrügt Sie nicht. Der Junker des Prügelknaben ist der Baron Pleßbach gewesen.« Er lachte bitter auf. »Was ficht mich denn eigentlich an? Hab' ich's nicht ausgezeichnet gut gehabt? Hab' ich nicht alles lernen dürfen, was der große Herr nicht lernen wollte? Hab' ich nicht in einem weichen Bette geschlafen? Hab' ich nicht Tag für Tag an der Familientafel gegessen? Hab' ich nicht zuerst den 355 Ziegenwagen kutschiert, dann den Pony bewegt, als wäre ich der Baron? Hab' ich nicht immer hübsche Kleider getragen und sogar kleine Lustreisen unternehmen dürfen? Was für ein Glück! Nur freilich, wenn der gnädige Junker nicht lernen wollte oder wenn er frech war gegen den Lehrer, dann bekam ich die Prügel, und je öfter er geneigt war, nicht zu lernen und frech zu sein, desto kräftiger fielen die Prügel auf mich. Und wenn ich recht kläglich schrie und winselte, dann hieß es: ›Da sehen Sie, Junker, was für Folgen die Faulheit hat und die Frechheit.‹ Können Sie sich das vorstellen, Herr Frey?«

Der Fuchs wagte nicht aufzusehen.

»Und wissen Sie, daß auch die Gaukler und Seiltänzer den kleinen Kindern ihre Knochen so lange biegen, ihre Sehnen so lange strecken, bis das ganze Kerlchen geschmeidig wie Fischbein wird? Anfangs geht's freilich nicht glatt. Es ist etwas in der menschlichen Natur, das bäumt sich auf. Aber da gibt's mancherlei Gegenmittel. O Herr Frey, ich sehe heute noch zum Greifen scharf im Park unter einem Standbilde des Kriegsgottes den Prügelknaben und den Junker, und der Prügelknabe kniet auf dem Junker und drischt ihm das feiste Gesicht. Unter diesem Standbild aber haben sie dann auch zu zweit, der Hofmeister und ein Reitknecht, dem Schulmeistersohn den besten Lebensmut aus dem Leibe geprügelt. Und der Junker haßte seit jener Stunde den Prügelknaben, haßt ihn heute noch, als wär' er sein böses Gewissen.«

»O Sie unglücklicher Mann!« brachte Gerhard heraus. »Welch ein Verbrechen am Adel der menschlichen Natur!«

Mit bebenden Lippen erzählte Körbelius: »Aber Sie dürfen's glauben, die Schläge sind's nicht gewesen, die Schläge haben ihn nicht so geschmeidig gemacht.« Er lachte heiser. »Die Angst hat's getan, die schreckliche Angst. Als der gnädige 356 Herr von seinem Verbrechen hörte – oh, ich sehe den alten Mann mit seinem langen Zopf noch heute vor mir und fühle den knochigen Griff seiner Finger an meinem Handgelenk – da führte er mich vor den großen Tisch im dunkeln Speisesaal, dorthin, wo das fremde Kind sich täglich nach Herzenslust satt essen durfte, und klopfte mit den Knöcheln der andern Hand an die Schublade und sagte mit seiner schnarrenden Stimme: ›Merk dir, Bube, in dieser Lade liegt das Brot der Schulmeisterschen, und den Schlüssel dazu trag' ich in meiner Hosentasche bei mir. Und in der Stunde, wo man dich nimmer brauchen kann in hochfreiherrlichen Diensten, hat auch dein Vater Feierabend und kann sich überlegen, wohin er seinen Karren schieben will.‹ Und alsbald ging's wie geschmiert. Die Knochen bogen, die Sehnen dehnten, der Rücken krümmte sich, und wie ein junger Kater, dem man die Krallen gestutzt hat, schob sich der Prügelknabe weiter durchs Leben und wußte bald nimmer, ob er auf zwei oder auf vier Füßen einherkam. Sie haben's ja neulich gesehen, Herr Frey. Und heute noch verwahrt der gnädige Herr das Brot in der Schublade und trägt in seiner Hosentasche den Schlüssel. Und nun stellen Sie sich einmal gefälligst vor: Wenn der Kandidat Körbelius neulich dem hochfreiherrlichen Burschen die Pfeife nicht angezündet sondern aus dem Munde geschlagen hätte – verstehen Sie mich – –?«

»Es ist schändlich und mit meinen Anschauungen von akademischer Freiheit wahrhaftig nicht zu vereinigen,« erklärte der Fuchs und sah ratlos vor sich hin. »Aber ich werde, ja das werde ich, die honorigen Burschen der Frankonia sollen's heute abend noch erfahren, aus welchen Ursachen Sie schweigend Unrecht leiden.« Er stand auf.

»Ums Himmels willen, Herr Frey! Die honorigen Burschen würden Sie auslachen, mich aber dürfte es in die ärgste Verlegenheit bringen. Also bitte ich dringend, wollen 357 Sie Stillschweigen bewahren. Damit erzeigen Sie mir den größten Gefallen.«

»Sie wären aber doch auch ganz gewiß ein honoriger Bursch geworden wie irgend ein anderer,« erklärte der Fuchs mit Bestimmtheit. »Sie haben ungewöhnliche Leibeskraft und würden Ihren Peiniger – nehmen wir an, Ihr Vater bekäme heute eine andere Stelle – dann würden Sie den Pleßbach doch ganz ohne Zweifel bei nächster Gelegenheit fordern? Können Sie fechten?«

Körbelius schüttelte den Kopf. Gerhard aber rief eifrig: »Ich will's Ihnen lehren. Und vielleicht kommt doch noch eine Gelegenheit –! Ganz gewiß, Sie ließen den Schimpf nicht auf sich sitzen.«

»Wenn Gott will, soll kein Körbelius mehr Pleßbachischer Prügelknabe werden,« sagte der Kandidat. »Es ist noch so ein junger – verzeih mir's Gott – so ein junger Wolf draußen in Pleßbach, und der Knabe, der zarte, der Heiner hätte das Amt antreten sollen, das ich zur Genüge kenne. Aber ich hab's nicht geduldet, Herr Frey, ich hab' ihn mit mir genommen.«

»Also nicht nur ein guter Sohn, sondern auch ein treuer Bruder!« stammelte der Fuchs. Dann aber meinte er bedenklich: »Es muß doch sehr beschwerlich sein, solch kleinen Bruder bei sich zu haben auf hoher Schule?«

»Je nun, es geht oft knapp her, und man denkt sich vielleicht auch zuweilen, Herrgott wie haben's doch andere schön! Aber dann hungert man halt einmal zur Abwechslung. Stipendien, die mich auf dieser Hochschule festhalten, Stundengeben – bisher ist's gelungen, mit Gottes Hilfe wird's weiter gelingen. Wenn ich nur dem Kinde das Übel vom Hals halte.«


Der krasse Fuchs tappte die Stiege hinunter. Mit einer Mischung von Mitleid und Zorn und Unbehagen gedachte 358 er des Kandidaten. Nach wie vor erschien es ihm unfaßlich, wie ein Student zu leben vermochte, verachtet von allen honorigen Burschen. Er selbst aber konnte ihn jetzt um alles nicht mehr verachten – den verprügelten Menschen, der dennoch so stark war.

Und damals schon mochte er von ferne geahnt haben, daß man die Mannesehre doch nicht restlos messen könne am Ehrbegriff honoriger Burschen.

*

Früher Morgen ist's, am Tage vor dem heiligen Abend. In der Finsternis aus dem Bett! Beim schwachen Scheine des Kerzenlichtes die heiße Morgensuppe in kleinen Schlückchen gelöffelt! Hinein in den Mantel, die bunte Mütze auf den Kopf – nein, heute nicht, heute zieht er die Pelzkappe über die Ohren. Und nun hinunter, hinaus zur Türe, noch einen Blick auf die verschlossenen Fensterläden des stillen Töbing-Hauses – dann über den knirschenden, pfeifenden Schnee durch öde Gassen zur Postkutsche!

Sie stehen mit brennenden Laternen um die Arche Noä, und allgemach steigen vermummte Männlein und Weiblein das hohe Trittbrett hinan.

Nicht in den dumpfen Kasten zu den andern! Beim Schwager auf dem Bock ist auch noch ein Platz. Zwar kalt mag's werden da droben. Aber was tut's? Die Füße stecken im Heu, das Spritzleder ist heraufgezogen, und eine warme Pferdedecke ist auch noch vorhanden.

Raucht der Schwager? Das will er meinen! Also, der Studio raucht, und der Schwager raucht, und der Tabaksbeutel des Studio ist geräumig wie ein Brotsack.


Die Kutsche rollte über die Katzenköpfe des Pflasters, schlaff hingen die Zügel herab, der Schwager blies ein Lied, daß die Häuser widerhallten, die Häuser mit ihren dunkeln Fenstern.

359 Trari – trara! Der Lichtschein der Wagenlaternen huschte über die Mauern und Türen. Nun rollten die Räder durchs enge Tor, zwischen verschneiten Feldern hinaus ins weite, wellige Land.

Feierlich glitzerten die Sterne, der Schnee pfiff und schrie, das Riemenzeug knarrte, die Glöcklein bimmelten, in Wolken zog der Rauch zum hochgetürmten Gepäck empor – Bruder Studio und der Schwager qualmten um die Wette dem Tag entgegen.

Die Sterne verschwanden hinter grauen Schleiern; grau in grau dämmerte der Tag.

Es war bitter kalt auf dem Bocke, trotz Heu und Decke und Spritzleder. Und wie freute man sich, wenn's bergauf ging, und trabte mit Wonne neben den dampfenden, schnaubenden Pferden.

Gegen Mittag brach die Sonne durch. Dann aber zogen wieder Wolken über den Himmel, und es begann sachte zu schneien.

Das vierte Pferdepaar zog den Wagen, der dritte Schwager saß auf dem Bocke. Der frühe Abend brach herein. Sie kamen an die Grenze der alten Grafschaft von ehedem.

Und da hielt auch am einsamen Straßenwirtshaus ein Schlitten mit zwei Pferden. Der Vater hatte den Schlitten geschickt und den großen Pelz, seinen eigenen Pelz, und den biedern Görg, der übers ganze Gesicht lachte. Heisa, herunter vom Bock und hinein in den Pelz und hinein in den Schlitten!

Mit Schellengeklingel ging's auf weicher Bahn sachte aufwärts der Heimat entgegen. Und nun kannte er jeden Baum und jedes Gehöft.

Der Himmel hatte sich aufgehellt. Im Schein der Sterne fuhren sie vorbei an den niedern Hügeln, wo der Vater Anno sechsundneunzig mit den Bauern auf die Franzosen 360 gelauert hatte. Gerhard wußte es wohl, wenn auch der Alte niemals ein Wort darüber verlor; jedes Kind in der Grafschaft kannte diese alte Geschichte.

In der Ferne stieg die Grafenburg, stiegen die Türme des Städtleins auf. Wieder ging's durch ein enges Tor, wieder huschten die Wagenlichter über Mauern und Türen, wieder standen Häuser im Sternenglanze – aber ganz alte Häuser mit hohen Giebeln, mit Erkern und Fachwerk, mit Wasserspeiern, Freitreppen und steinernen Bänken.

Freundliches, rotes Licht fiel aus der offenen Türe auf die Straße. Die Treppe herab kamen drei Gestalten. Gerhard sprang aus dem Schlitten. Er fühlte des Vaters Linke auf der Schulter, griff nach seiner Rechten und sah ihm ins bärtige Antlitz, er fiel der Mutter um den Hals, er schüttelte dem Bruder die Hand. Er war daheim.


Wie hatte er sich auf diese Ferien gefreut, und was wurde aus diesen Ferien!

Vom ersten Augenblick sah er, daß zwischen dem Bruder und dem Vater ein Zwiespalt klaffte, und als er am andern Morgen ein Stündchen allein war mit der Mutter, klagte ihm diese ihr Leid.

Der Vater war im Rechte. Mit sechzehneinhalb Jahren war Karl auf die Hochschule gekommen. Nun verschob er von Semester zu Semester den Abschluß seiner Studien und verlor also den Vorsprung, den er von Anfang gehabt hätte. Dazu benahm er sich unleidlich im täglichen Verkehr, widersprach fast jeder Meinung der Seinen und fuhr hoch und rasch einher mit seinem Urteile über Menschen und Verhältnisse. Im Hause des Doktors gab es kein gemeinsames Gebet. Er bestürmte die Mutter, sie solle mit diesem Herkommen brechen, und als sie ihn bat, sich zu bescheiden, da lud er am heiligen Abend und am ersten Feiertage in 361 der Dämmerung auf eigene Faust den Kutscher und die Magd in sein Zimmer, geigte ihnen Choräle vor und las mit schallender Stimme Abschnitte aus der Bibel.

Der Vater ging mit finsterem Gesicht umher, einsilbig schob sich das Gespräch während der Mahlzeiten hin. Alle fühlten, es mußte zur Aussprache kommen. Ja man konnte dem älteren Sohne ansehen, daß er diese Aussprache auf alle Weise zu erzwingen suchte. –

Es war am zweiten Feiertage nach der Kirche. Der Marktplatz lag im Sonnenschein, der Schnee leuchtete von den Giebeldächern und von dem Grafenschlosse, das mit seinen hundert blitzhellen Fenstern auf das winterliche Städtlein herabschaute.

Der Doktor und Karl standen einander gegenüber in der alten Stube unter dem lieblichen Bilde der ersten Frau.

»Ich habe mit dir zu reden, Karl.«

»Ich bin Ihrer Eröffnung gewärtig.«

»Du hast vorhin die Frau Gräfin-Witwe und die ganze gräfliche Familie gröblich verletzt.«

»Wenn Sie damit meinen, daß ich die Herrschaften nicht gegrüßt habe, dann gebe ich Ihnen vollkommen recht.«

»Und warum hast du nicht gegrüßt? Die gute Gräfin-Witwe ist mit ausgestreckter Hand auf dich zugegangen, du aber hast den Hut auf dem Kopf behalten und bist zur Seite getreten.«

»Weil das meinen Grundsätzen entspricht.«

In diesem Augenblick prallte Gerhard in die Stube.

»Ich habe mit Karl zu reden,« sagte der Vater.

»Und ich wünsche, daß Gerhard hört, was wir miteinander zu reden haben,« sagte Karl.

Nach einem fragenden Blick auf den Vater schloß Gerhard die Türe und ging in die Fensternische.

»Erkläre dich näher,« fuhr der Alte fort.

362 »Ich hasse alles, was Adel heißt; denn ich bin der Überzeugung geworden, daß der Adel die Schuld am Unglück meines Volkes trägt.«

»Das ist eine politische Anschauung, über die man sehr wohl sprechen kann. Aber ich wüßte wahrhaftig nicht, was ein höflicher Gruß damit zu tun hätte, mein Sohn.«

»Es wäre Heuchelei, wenn ich meine wahre Gesinnung unter der Maske des Grußes verbergen wollte. Ich werde diese Herrschaften nie mehr grüßen.«

»Obgleich du von Kind auf nur Freundlichkeit von ihnen erfahren hast?«

»Es wäre erbärmlich, wenn ich mein persönliches Wohlbefinden zum Gradmesser meiner Weltanschauung machen wollte. Ich verweigere den gräflichen Herrschaften meinen Gruß.«

»Auch gegen meinen Befehl?«

»Es tut mir leid, aber hier gehorche ich einer höheren Gewalt.«

Der Vater schwieg, und Karl brach los: »Was sind denn diese Fürsten und Grafen, die uns seit Jahrhunderten auf dem Nacken sitzen? Unsere natürlichen Feinde und weiter nichts. Sie haben die Deutschen zu einem Volke von Schuhputzern und Speichelleckern gemacht, und jetzt kommen sie mir vor wie Bestien, die der Bändiger mit der Peitsche und mit hingeworfenen Stücken Fleisches gefügig erhält. Keiner traut dem andern um die Ecke, und jeder kuscht vor ihm auf dem Bauche, bereit, über den Nachbarn herzufallen und ihn zu zerreißen. Vom ersten Auftreten dieses Mannes auf dem deutschen Theater bis zum heutigen Tage – eine unübersehbare Kette von Schändlichkeiten, ein ununterbrochener Verrat des Herrenstandes am Heiligtum des Volkes. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Papa, daß Sie mir Gelegenheit zur Aussprache geben. Ich gestehe, daß ich sie selbst schon lange gesucht habe.«

363 »Auch ich hätte dich in diesen Ferien unter allen Umständen noch gefragt, wann du endlich dein medizinisches Examen zu machen gedenkst,« sagte der Alte mit Ruhe.

Da fuhr der Sohn auf: »Entschuldigen Sie, das ist auch wieder die kleinliche Gesinnung, die man in dieser traurigen Zeit überall und in allen Gestalten antrifft. Wer sollte es für möglich halten, daß ein Vater seinem Sohn in so wichtiger Unterredung eine so geringfügige Sache –?«

»Oho, Herr Sohn! Ich schätze, daß das Examen keineswegs zu den unwichtigsten Angelegenheiten gehört.«

»Wenn das Vaterland auf dem Spiele steht –?«

»Dann gerade muß der einzelne bei sich auf Ordnung halten.«

»Es tut mir leid. Aber niemand kann zween Herren dienen. So steht schon in der Bibel geschrieben. Die Studien waren gut zu ihrer Zeit, und wahrhaftig, ich habe gearbeitet, das kann ich mit reinem Gewissen behaupten. Aber jetzt habe ich Wichtigeres zu tun. Zerrissen und zerfetzt liegt Deutschland vor dem Eroberer. Von freien Stücken wetteifern deutsche Männer untereinander, ein Lächeln der Anerkennung, ein Schandzeichen seiner gnädigen Gesinnung zu ergattern. Wo sich nur ein schwaches Seufzen der unterdrückten Freiheit vernehmen läßt, da tritt sein Fuß darauf. Einen Thron Europas nach dem andern besetzt er mit den dunkeln Männern seines Räubergeschlechts. Wohlan, wenn die geborenen Führer der Völker versagen, dann ergeht der Ruf an die Kleinen.«

Er faltete die Hände und rief bittend: »Vergeben Sie mir, Papa, wenn ich heftig bin und nicht mehr den richtigen Ton finde. Was die Tiroler gewagt haben, was die Spanier erkämpfen – warum sollte das bei uns unmöglich sein? Aber freilich, was wissen Sie, liebster Papa, in diesem versumpften Rheinbundstaate, wo jeder Hauch der Freiheit 364 untergeht in den Dünsten der Verwesung, was wissen Sie von den geheimnisvollen Gedanken unbeugsamer Entschlossenheit, die außerhalb dieser Grenzpfähle von Stadt zu Stadt getragen werden? O, hätte ich doch die Beredsamkeit eines Demosthenes und den unbezwingbaren Willen eines Cäsar, ich verließe diese Stube nicht eher, als bis Sie mir mit Hand und Mund gelobt hätten, auch an Ihrem Orte zu wirken für den weitverzweigten Bund aller Edlen, der nur das eine Ziel kennt – jenes Menschen Vernichtung. Mit glühender Sehnsucht gedenke ich des Tages, an dem vielleicht – aber nein, wohin gerate ich?«

»Auf gefährliche Bahn, wie mir scheint,« sagte der Alte. »Und ich bin entsetzt, dich stärker verstrickt zu sehen, als ich ahnen konnte.«

»Stärker verstrickt? Sagen Sie doch, gebunden an Leib und Seele für Zeit und Ewigkeit im Dienste des Vaterlandes! Meine Gedanken umkreisen das Ziel. Ich frage mich, warum soll der Eine leben, und warum sollen die Hunderttausende hingeschlachtet werden um seines Ehrgeizes willen? Trägt er nicht auch nur ein einziges Herz im Busen, leuchtet ihm die Herrlichkeit der Erde und der ewige Glanz des Himmels nicht auch nur durch zwei Augen ins finstere Gehirn? Wie viele Herzen aber sind um seinetwillen gebrochen, wie viele Augen müssen noch erlöschen zu seinem Ruhm? Was Wunder, wenn sich die Gedanken der Edeln an ihn anpirschen wie der Jäger ans Raubtier? Und soll ich Ihnen alles sagen? Meine Erziehung von Jugend auf hat mich zu dieser politischen Anschauung getrieben, in der ich leben und wirken muß bis zum letzten Atemzuge.«

Der Alte trat vor und streckte dem Sohne die Hände entgegen: »Um Gottes Willen, du irrst. Ich habe euch zu nichts anderm als zur Bereitschaft erzogen. Aus Nacht und Morgen wird's Tag werden, und das Verhängnis wird sich 365 erfüllen. Unaufhaltsam treibt er dem Ende entgegen. Ob nun aber dieses sein Ende über Jahr und Tag kommt, oder ob wir Deutschen seine Herrschaft noch Jahre lang schleppen müssen – es ist für uns zwar nicht einerlei, doch für die Entwicklung unsres Volkes von geringer Bedeutung. Denn die Herren werden wir schließlich bleiben.«

Karl war zurückgewichen und hielt seine Hände abwehrend vor sich: »Mein Vaterland ist mir kein kranker Fremdling, den ich am Wege liegend gefunden habe und kühl prüfend untersuche auf seine Gebrechen. Seltsam, der den Stein ins Rollen gebracht hat, wundert sich, wenn er nun in gewaltigen Sprüngen dem Ziele entgegenrast! Ich sage Ihnen, es gibt Leute in deutschen Landen, die Tag und Nacht hinausstarren auf einen fernen, blutroten Fleck, bis ihnen die Augen übergehen und die Tränen des Hasses siedheiß die Wangen herabrinnen. Nur dies eine erstreben sie noch, daß der Unterdrücker eines Tages mit seinem Herzblut die deutsche Erde dünge, daß ein Samenkorn der Freiheit aus seiner verschütteten Lebenskraft die erste Nahrung in sich sauge und schwellend nach oben sende einen unverwüstlichen Trieb. Sie weisen mich auf meine Pflicht, auf den Abschluß meiner Studien hin. Ich schlinge meine Tränen in mich hinein und antworte Ihnen: ich habe keine Zeit dazu. O, wie gerne wollte ich den gebahnten Pfad gehen, der mich zu still umfriedetem Bürgerglück führt! Und ich spreche von solchem Glück nicht etwa wie der Blinde vom sonnenbeglänzten, friedlichen Tale. O nein, mein Vater, diese Augen sind noch trunken von all der Lieblichkeit, die sich in ihnen gespiegelt hat, und ich bin wie einer, der auf rauhem Pfad emporgestiegen ist und sich noch einmal wendet, ungewiß, ob er je wieder zurückkehrt. Sie sollen es wissen, und auch Gerhard kann das noch hören: Ich liebe das beste, das schönste, das edelste Mädchen, und meine Gefühle werden erwidert mit einer 366 nur durch die Zartheit frommer Gesinnung gemilderten Leidenschaft. Sie ist wohlhabend, das einzige Kind ihres verwitweten Vaters. Aber wenn sie alle Anmut, alle Holdseligkeit in einem noch vielmals gesteigerten Maße besäße – hoch über mir steht die Pflicht der Vaterlandsliebe, und ich reiße mich los und steige den steinigen Pfad empor, der mich mit jedem Schritte weiter entfernt vom Glück – entfernt vielleicht auf Nimmerwiederkehr. Und jetzt bitte ich meinen Bruder, daß er uns allein lasse; denn ich habe noch unter vier Augen mit Ihnen zu reden.«

Gerhard ging.


Was die beiden in einer langen Stunde miteinander besprochen hatten, erfuhr er niemals.

Endlich kam der Bruder die Stiege heraufgestürmt. Sein hageres Angesicht war bleich und verzerrt, und seine Zunge lallte, als er Gerhard zurief, daß alles aus sei zwischen dem Vater und ihm. Gerhard konnte nichts erwidern und blickte unschlüssig zu Boden. Da ging die Türe, und die Mutter trat herein.

»Ob sich nicht doch eine Möglichkeit der Verständigung finden ließe?« Sie stand mit gefalteten Händen.

Mühsam brachte Karl heraus, daß ihm der Vater die Rückkehr nach Jena verboten habe. Er aber sei frei im Besitze seines kleinen Muttergutes und gehe wieder nach Jena – tausend Vätern zum Trotz.

Die Mutter begann mit erhobenen Händen zu flehen. Sie fragte, wo denn der gehorsame, gewissenhafte Sohn von ehedem sei? Sie rief alle Erinnerungen an die Kindheit auf und bestürmte den Trotzigen. Ruhiger wurde der Sohn, stand mit abgewandtem Gesichte und sprach nur noch zuweilen ein Wort gegen den Schwall ihrer angstvollen Bitten. Aber seine Augen blickten hart; er schien entschlossen zum Äußersten.

367 Immer schwächer wurde das Flehen der erschöpften Frau. Immer seltener tat er den Mund auf. Nur als sie zuletzt noch einmal ausholte und ihn fast drohend an die grauen Haare seines Vaters erinnerte, sagte er mit grimmigem Lächeln: »Freilich, für die Alten wäre das nichts; die wollen Ruhe. Dazu gehören die Jungen.«

Noch vor dem Mittagessen packte er seinen Büchsensack, nahm seinen Ziegenhainer und ging, Abschied zu nehmen von Mutter und Bruder.

Schluchzend hing die kümmerliche Gestalt an ihm. Mit starren, trockenen Augen sah er über ihr Haupt hinweg, gleichsam in eine weite Ferne, und sagte: »Es muß sein!« Dann schüttelte er dem Bruder die Hand und sagte ihm ein paar väterliche Worte. Auf der Schwelle wandte er sich: »Es könnte sein, Gerhard, daß wir uns im Laufe dieses Jahres noch einmal wiedersehen.« Dann ging er.

Fassungslos, laut aufschluchzend saß die Mutter am Tische und hatte das Haupt auf ihre Arme gelegt. Und mit kaum verständlicher Stimme fragte sie den jüngeren Sohn: »Hättest du ihn nicht doch zu halten vermocht?«

Der antwortete zuerst nichts. Endlich aber kam's bedächtig von seinen Lippen: »Er ist mir so fremd geworden, daß ich mich wundern muß. Und wenn das Christentum so aussieht, dann will ich erst recht meintag nichts mehr wissen davon; und wenn sich die Patrioten alle so gebärden wie dieser, dann graut mir vor ihnen.«

*

Mitten in der Nacht vor Silvester tönte die Glocke durch das stille Doktorhaus.

Die Frau stand leise auf, warf ihr Kleid über und ging die knarrende Stiege hinunter, schob den Riegel zurück und öffnete die Türe.

Warum sie wohl hinunter ging, anstatt zum Fenster, 368 warum sie wohl öffnete, ohne zu fragen? Sonst hätte sie das nie getan – heute mußte sie's tun.

Eisige Luft drang in den warmen Hausflur – am Gitter der Freitreppe aber lehnte ein schwarzes Weib.

Die Doktorsfrau stand auf der Schwelle und fragte nicht, und das Weib lehnte am Eisen und sagte nichts; über dem totenstillen, verschneiten Marktplatz flimmerten die Sterne in unruhigem Feuer.

Wie mit Gewalt zog's die Frau von der Schwelle herab, der Fremden entgegen. Da schlug diese ihr Tuch auseinander und reichte ihr wortlos einen Strauß blutroter Blumen.

Zögernd griff sie nach dem Geschenk und rührte an kühle Finger und umspannte kalte Stengel. Sie wunderte sich nicht. Sie wußte auch nicht, wie sie wieder ins Haus kam.

Aber sie wunderte sich am andern Morgen, daß der Strauß nicht auf der Bettdecke lag. So scharf hatte sie das Weib gesehen, so kalt hatte sie die Stengel der blutroten Blumen gefühlt – so lebhaft hatte sie das alles geträumt.


Die Erinnerung an den Traum lastete auf ihr, und immer wieder sah sie die Blumen der Nacht.

Schweigend aßen sie zu dritt ihre Morgensuppe. Dann ging die Mutter an den Seitentisch und begann Brote mit Butter zu bestreichen und mit Rauchfleisch zu belegen.

Vater und Sohn waren gestiefelt und gespornt. Viele Kranke warteten des Helfers. – Vater und Sohn hatten einen weiten Tagesritt vor sich.

Die Mutter verrichtete ihr Geschäft. Aber vor ihren Augen sah sie die Blumen der Nacht, und es war ihr, als dränge der eiskalte Luftstrom auf sie herein. Da nahm sie sich ein Herz und fragte den Gatten, ob er denn auch des neuen Pferdes ganz sicher sei. Und sie beruhigte sich nicht, als er ihrer Sorge mit einem Scherzwort begegnete. Sie bat ihn, 369 den alten Rappen zu reiten und dem Sohne ein anderes Pferd zu entleihen. Er lachte bitter auf und erkundigte sich, ob er denn seit dem zweiten Feiertage so alt geworden sei? Da strich sie über ihre Augen und antwortete nichts. Ihre Augen sahen große, rote Flecken; sie sahen die blutroten Blumen der vergangenen Nacht.

Der Doktor begab sich hinüber in seine Stube. Da versuchte sie's noch ein letztes Mal mit dem Sohne: Ob er denn wisse, daß der neugekaufte Fuchs als Durchgänger verschrieen sei, ob er ihr nicht helfen wolle, da sie sich sehr ängstige? Und ihr hilfloses Flehen rührte den honorigen Burschen. Er ging sporenklirrend zum Vater und bat ihn, einen barmherzigen Roßtausch vorzunehmen – der Mutter zuliebe: der Vater solle den Rappen reiten, er aber den verdächtigen Fuchsen.

Der Alte maß ihn von oben bis unten, strich seinen Bart und – lächelte. Gerhard kannte dieses Lächeln. Er wurde rot, stammelte ein entschuldigendes Wort und ging zur Mutter zurück.

Etliche Minuten später trappelten beide Pferde vor der Freitreppe. Dann ritten Vater und Sohn zum Bachtor hinunter. Der Alte saß auf dem tänzelnden Fuchsen, der Bursch hatte den starkknochigen, bedächtigen Rappen zwischen den Schenkeln.


Sie ritten in die Bergdörfer, sie hielten vor einsamen Gehöften. Grau und nieder war der Himmel, tiefblau standen die Wälder, weißgrau dehnten sich die beschneiten Flächen.

Es war so stille in der ungeheuern Einsamkeit, wenn wieder ein Dörflein hinter ihnen versank, wenn wieder das Bellen eines Hundes im weltverlassenen Gehöft verklang. Nur Krähen strichen mit trägem Flügelschlag über die Felder, und zuweilen kam aus der Höhe der Schrei eines Raubvogels.

370 Die geschärften Hufe der Pferde schnitten knirschend in den vereisten Weg, das Lederzeug knarrte. War der Feldweg eng, dann ritten sie hintereinander. Und noch oft sah hernachmals der Sohn im Wachen und im Traum den Vater vor sich auf dem hochbeinigen Fuchsen als einen kraftvollen, breitschulterigen Mann. Ging es auf Wiesenland dahin, wo etwa auf weite Strecken der trockene Schnee fortgeweht war und der Rasen herauslugte, dann ritten sie Bügel an Bügel, und der Sohn lauschte den Worten des Alten.

Es war ihm feierlich zu Mute, fast so andächtig wie nach jenem Kusse vor seiner Konfirmation. So hatte der Vater noch nie mit ihm geredet. Wie denn? Nun, so wie mit seinesgleichen und doch aus einer gewissen Ferne herüber. Und Gerhard war stolz, er hatte das Gefühl, als wüchse er nun allgemach vom Sohn zum Freund und Vertrauten des Vaters empor.

Freilich drückte die Erinnerung an das, was jüngst geschehen war, auf den beiden, wenn sie sich's auch mit keinem Worte gestanden. Und immer unbegreiflicher wurde es Gerhard, daß sich der ältere Bruder von einem solchen Vater gelöst hatte.

Auch der alte Frey war in weicher Stimmung. Hatte er vielleicht in seinem Herzeleide das Bedürfnis, den einen, der ihm geblieben, heute tiefer blicken zu lassen in seine sonst so verschlossene Brust?

Sie waren zu einem großen Birnbaum gekommen, der in einer fast lautlosen Einsamkeit seine kahlen Zweige zum grauen Himmel emporstreckte. Da hielt der Vater und sprach:

»Ob ich den Tag der Befreiung erlebe, das weiß ich nicht. Du aber sei bereit. Denn du wirst ihn sehen und wirst handelnd in ihn hineingehen.

»Eine Riesengestalt – ihr Gewandsaum dahinschleifend in Staub und Blut, ihre Kniee umschlungen von den dürren 371 Armen der Verzweiflung, brandrauchgeschwärzt ihr Kleid bis über die Brust empor, aber das Haupt umflossen vom Äther und verklärt vom Abglanz des Göttlichen – das ist die Geschichte der Menschheit. Aus Blut und Kot empor heben wir die blöden Augen und geben uns Mühe, ihr Wesen zu deuten.

»Sei bereit! Aber nur dann, wenn du dich selber bezwingst, bist du frei und bereit.

»Es ist gut, wenn du deiner selbst Herr bleibst Aug in Aug mit dem Gegner in der Enge der Mensurstriche. Es ist gut, wenn du deiner selbst Herr bleibst im Kampf zwischen Trägheit und Arbeitsfreude. Es ist gut, wenn du deiner selbst Herr bleibst in der lautlosen Einordnung unter die Gesetze der Allgemeinheit. Aber ich möchte wissen, warum du nicht auch zuerst und zuletzt Herr bleiben wolltest über den mächtigsten Trieb –?

»König im Reiche der Schöpfung und Schicksalsgenosse des Tieres – das ist der Mensch.

»Enthalte dich in den Jahren des Aufstieges, und du wirst belohnt werden in den Jahrzehnten des Stillstandes auf der Höhe des Lebens. Ein kräftiges Herz wird dein unverdorbenes Blut durch starke, biegsame Adern treiben, und du wirst nicht verurteilt sein, mit trüben Augen auf Kinder zu blicken, in deren verkümmerten Gestalten dich die Sünden deiner Jugend verklagen.

»Man sagt ja wohl: Sei Mensch vom Wirbel bis zum Gürtel, abwärts bis zur Sohle magst du Tier sein, wie dich gelüstet. Aber man lügt das und trügt. Unlösliche Einheit bist du vom Scheitel bis zur Sohle, Herr über das wundersamste Gebilde, dessen innerstes Gefüge noch unerforscht ist wie die Geheimnisse eines fremden Erdteiles – ja nicht einmal Herr, sondern nur Lehnsträger des Allgewaltigen, der dich begabt hat mit deinem Leibe.

372 »Pfui, was wärst du, Liebhaber der Freiheit, für ein erbärmlicher Sklave, wenn die Gottheit deine Jugend willenlos preisgegeben hätte der neunschwänzigen Katze der Lust?

»Das Moralische ist immer – das Gesunde.

»Jawohl, aber schließlich ruht das Moralische doch bewußt oder unbewußt im Religiösen verankert.

»Sieh um dich: Wie weit und in Wahrheit wie engbegrenzt schweift von hier aus das Auge über die Hochebene bis dorthin, wo sich Himmel und Erde berühren. Und über die Gotteserkenntnis, die uns Jesus vermittelt hat, werden wir Erdgewurzelten auch niemals hinauswachsen. Kommende Geschlechter mögen entdecken und erfinden, was sie wollen: unsere Gotteserkenntnis ist von vornherein umschrieben und beengt von der unverrückbaren Linie des menschlichen Gesichtskreises – und diesen hat Jesus bis an die Grenzen erfüllt.

»Hüte dich aber! Nicht etwa, weil du edler wärest als andere, nicht etwa, weil du dich höher einschätzest als deine Nächsten, mußt du vornehmer leben, sondern nur weil du tiefer geschaut hast ins Wesen der Dinge und deshalb stärker verpflichtet bist als die vielen.

»Kampf ist und bleibt der köstliche Inhalt des Lebens. Ins Ungemessene dehnt sich das Feld des Kampfes, kläglich eng gesteckt sind die Grenzen des Genusses.

»Und sei mir vor allem ein unerbittlicher Wächter deiner Gedanken und heuchle nicht! Gedanken sind Rosse von unsicherer Art und müssen laufen in der Trense des Gewissens und in der Kandare der Selbstzucht. Halte sie kurz. Während du glaubst, mit ihnen zu spielen, könnten sie dich unversehens überwältigen und in Sümpfe dahinreißen oder in Abgründe oder auch – in die Dämmergefilde des Wahnsinns.«

Da konnte sich Gerhard nicht enthalten – er rief: »Wäre doch Karl hier!«

373 Der Vater richtete die Augen fest auf ihn und sagte wehmütig: »Auch das ist menschliche Eigenart, daß wir an unsern Nächsten denken, wo es doch uns gilt.« Aber mit gütigem Lächeln setzte er hinzu: »Von den Durchgängern haben wir gesprochen. Ich wollte, die sorgliche Mutter wäre nun hier und sähe den frommen Fuchsen.«

Er klopfte den Hals des schönen Pferdes ab und setzte es in Bewegung. Nach einigen Schritten aber wandte er sich halb rückwärts: »Gelt, das weißt du schon, daß man einen Durchgänger niemals zu Pferd verfolgen darf, will man den Reiter nicht aufs ärgste gefährden –?«

Und ob er diese Grundregel wisse! rief der Student.

»Aber er ist ja kein Durchgänger,« sagte der Vater und ritt voran.


Was war denn das gewesen?

Gerhard folgte wie träumend. Was hatte der Vater gewollt? Hatte der unkirchliche Mann nicht Gottesdienst gehalten mit ihm, einen Gottesdienst auf weitem, freiem Felde, wie er noch keinen erlebt?

Ahnungsloser Knabe, du siehst ja die dunkle Pforte nicht, die sich nun lautlos öffnet dort hinter deinem Gesichtskreis. Und du weißt nicht, daß du das Vermächtnis eines dem Tod Geweihten gehört hast.

*

Sie ritten über die verschneite Hochebene und kamen dorthin, wo die Sandsteinbrüche sich dehnten, einer am andern, uralte, die vor ungezählten Jahren schon ihre rötlichen Quader geliefert hatten zu zahllosen Schlössern und Kirchen der Gegend weit und breit, und neue, in deren Tiefen auch heute die Steinhauer pochten.

Sie ritten eine Zeitlang an den Rändern hin. Dann bogen sie ab und erreichten endlich das einsame Gehöft.

374 Und hier geschah's.

Gerhard hielt vor dem Tore und hatte den Fuchsen am Zügel. Der Vater aber ging durch den Hofraum zum niedrigen, strohgedeckten Haus und trat an das Bette des Kranken.

Es war ein halbwüchsiger Knabe, der da mit fieberglänzenden Augen und heißen Wangen in den farbigen Kissen lag. Sorgsam untersuchte, lange klopfte und horchte der alte Frey. Dann schrieb er seine Verordnung.

Gerhard hatte die Zügel beider Pferde um seinen rechten Arm geschlungen, biß hungrig in das belegte Butterbrot, das ihm die Mutter gegeben hatte, und beobachtete einen Jäger, der – ein winziges Männlein – mit seinem Hunde, einem zickzack laufenden Punkt, seitwärts hinter dem Gehöfte aus weiter Ferne über die Felder heranpirschte.

Es währte lange, bis der Doktor zurückkam. Endlich trat er auf die Schwelle des Hauses; hinter ihm der Bauer und die Bäuerin.

Gerhard sah durchs offene Tor hinein.

Nun stand des Vaters hohe Gestalt zwischen den beiden vor der Schwelle. Mit gefalteten Händen und geneigten Köpfen lauschten sie auf seine Worte.

Langsam schritten sie dann über den Hof und kamen durchs Tor.

Jetzt hielt auch der Jäger nahe auf dem Felde, und sein Hund suchte die Furchen ab.

»Es ist hart, wenn man ein Kind doch schon so weit gebracht hat,« sagte der Bauer.

»Und so ein gutes Kind,« setzte die Bäuerin hinzu.

»Der Bub ist kräftig, und ich hab' alle Hoffnung, daß er sich durchreißt,« antwortete der Arzt. »Laßt ihm die Medizin holen, und morgen will ich wiederkommen.« –

Morgen will ich wiederkommen! Wenn die Einödbauern später an langen Winterabenden sich einmal wieder vom 375 alten Doktor Frey erzählten, dann sagten sie wohl mit Kopfschütteln: ›So hat er gesprochen, morgen will ich wiederkommen. Aber was ist der Mensch? Ein braver Mann ist der Doktor gewesen. Nur hat er keine Religion nicht gehabt.‹ –

Der Arzt ging rasch an den Fuchsen heran und nahm die Zügel. Gerhard ließ sein Pferd in die Hand zurücktreten. Der Alte untersuchte den Sattelgurt des Fuchsen und zog die Riemen an. Dann stieg er in den Bügel. Wie ein Lamm stand das edle Tier.

Der Alte hob das Bein über die Kruppe, suchte den andern Bügel und rief noch ein Trostwort zum Bauern und zur Bäuerin hinüber. Da krachte hinten, seitwärts vom Gehöfte, ein Schuß, und der Fuchs machte einen gewaltigen Satz nach vorne. Halblaut rief Gerhard: »Allmächtiger –!« Aber nur augenblicklich schwankte der Alte wie trunken über dem Sattel. Sofort gewann er Schluß. Es hatte keine Not mehr – wenn der Fuchs jetzt auch nach jähem Stutzen mit langgestreckter Nase durchging. Ja, es war dem Sohne, als müßte er stolz aufschreien: Was für ein Reiter!

Da hörte er hinter sich den angstvollen Ruf der Bäuerin: »Der Steinbruch!«

Er fuhr im Sattel herum: »Nein, dort liegen die Brüche!«

»Jawohl, dort – und dort aber auch, ganz alte!« rief der Bauer.

Der Sohn gedachte der ahnungsvollen Warnung des Vaters, hielt regungslos auf seinem Platze und sah der Schneewolke nach, die querfeldein dahinstob unter den Hufen des Durchgängers. Er gab keine Antwort, als die Bäuerin dicht neben ihm angstvoll fragte, ob er denn nicht zu Hilfe reiten könne. Er wandte sich nicht, als der gräfliche Jäger gerannt kam und mit halblauten Flüchen sich und sein Ungeschick verwünschte.

376 Er hoffte noch. Solch einem Reiter mußte es gelingen. Es war weit hinüber bis zu den Brüchen, und das Pferd war auch nicht mehr frisch. Der Reiter ließ ihm wohl mit Absicht die volle Zügelfreiheit, ja er gab ihm gar noch Sporen und Peitsche. O gewiß! Und nun lenkte er ohne Zweifel unmerklich seinen Lauf gegen die lange Mauer des andern Gehöftes, das da zur Rechten, weit drüben, dunkel und klein im Felde ragte.

Nein. Die Richtung blieb die gleiche. Die Staubwolke ward kleiner und kleiner und kroch geradewegs gegen die Brücke.

Da spornte Gerhard seinen Rappen und jagte nach.


Am Rande des Steinbruches sprang er aus dem Sattel und spähte hinab.

Und seine Augen fanden das Pferd, das in großer Tiefe als ein dunkler, scharf abgegrenzter Klumpen auf dem Schnee lag.

Keuchend lief er am Rande hin, fand eine gangbare Stelle und tauchte hinab. Er kletterte und rutschte mit tastenden Füßen und blutenden Händen. Wie er hinunterkam, er wußte es nicht.

Das tote Pferd lag mit eingeknickten Vorderbeinen auf dem Reiter, dessen bleiches Antlitz unter der Brust des Tieres hervorsah.

Gerhard nahm alle Kraft zusammen und wälzte den Kadaver zur Seite, kniete neben den Leblosen und rief leise den Vaternamen.

Da schlug der alte Frey die Augen auf, und es war wohl zu sehen, daß er den Sohn erkannte. Aber sogleich quoll ihm das Blut zwischen den Lippen hervor.

Der so vielen geholfen hatte in ihren Leibesnöten, dessen der Sohn so sehr noch bedurft hätte, war tot. 377

 


 


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