August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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9. Pflicht

Gelb und rot geflammt war der Wald an den Hängen des Schloßberges, und auf den Wiesen im Tale blühten die lilafarbenen Kelche des Herbstes.

Langsam genas der Doktor.

Er herbstelt, sagten die Leute, wenn sie sein Gesicht am Fenster sahen. Er wird schon wieder, ist ja noch jung, setzten sie eilig hinzu, als scheuten sie sich, ein böses Schicksal herauszufordern. –

Es war Abend. Das Licht eines wolkenlosen Nachmittages ward verschlungen von früher Dämmerung. Im Ofen knisterte ein Feuer, und am Fenster im Lehnstuhl, mit der Wolldecke über den Knieen, saß der Genesende.

Ein offenes Buch lag auf seinem Schoße. Er sah hinaus, über den Marktplatz hin zum Brunnen, auf dem der steinerne Graf sein Schwert schwang. Groß und klar aber standen vor seiner Seele die Worte Kants, die er soeben gelesen hatte:

›Der Mensch von melancholischer Gemütsverfassung bekümmert sich wenig darum, was andere urteilen; er stützt sich desfalls bloß auf seine eigene Einsicht. Weil die Beweggründe in ihm die Natur der Grundsätze annehmen, so ist er nicht leicht auf andere Gedanken zu bringen . . . . . Er hat ein hohes Gefühl von der Würde der menschlichen Natur . . . . . Alle Ketten, von den vergoldeten an, die man bei Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven, sind ihm abscheulich. Er ist ein strenger Richter seiner selbst und anderer, nicht selten seiner sowohl als der Welt überdrüssig.‹

Seine mageren Hände falteten sich über dem Buche, und seine Gedanken schweiften, wie so oft in diesen Tagen der Wiedergenesung, zurück zwischen die Hügel, wo ihm die Bauern entlaufen waren. Und je länger er darüber 182 nachsann, um so tiefer wurmte ihn sein Unternehmen von damals, und er ward zum unerbittlichen Richter seiner selbst.


Der Erbgraf kam in das dämmerige Gemach und setzte sich zu seinem Freunde.

»Diese Komödie hätten wir nun auch glücklich überstanden,« sagte er und nahm eine Prise.

»Welche Komödie?«

»Aber lebst du denn auf einer Insel, mein Lieber?«

»Zur Zeit – Gottlob – ja.«

»Dann wisse: Gestern abend hat die gesamte Bürgerschaft Seiner hochgräflichen Exzellenz und hochdessen Frau Gemahlin, sodann im Abstand meiner Frau und mir einen solennen Fackelzug gebracht. Doktor Pieperich hat mit weithin schallender Stimme zweiunddreißig Strophen eines Huldigungskarmens von sich gegeben – an derselben Stelle im Hofe, wo ihn vor etlichen Wochen mein Vater nicht mehr kennen wollte. Und heute ward das große Versöhnungsmahl gefeiert. Mein Vater hatte zwar kein Kalb dazu geschlachtet, wohl aber etliche Rehböcke geschossen, und die verzehrten wir gemeinsam in sanfter Harmonie mit den verlorenen Honoratiorensöhnen und begossen uns reichlich mit Wein. Die Weltgeschichte kann weitergehen.«

Der Doktor schwieg. Nach einiger Zeit sagte er nachdrücklich: »Und sie geht auch weiter, verlaß dich darauf.«

Der Erbgraf zuckte die Achseln. »Zunächst wird unsere Jägergarde von Grund aus erneuert, soviel ist gewiß. Und deinen Bauern haben wir ja auch glücklich erwischt.«

»Welchen Bauern?«

»Der Kanzleidirektor hat ihn ausgeschnüffelt, und nun kann er kriegen, was ihm gebührt.«

»Aber ich will nicht, daß er es kriegt!« rief der Doktor. »Und ich hoffe, man nimmt Rücksicht auf mich.«

183 Der Erbgraf schüttelte den Kopf: »Bist du sonderbar. Der Kerl ist's, der dich bei einem Haar zum toten Manne gemacht hätte.«

»Tu, was du kannst, daß er loskommt!« rief der Arzt. »Hörst du? Was du nur kannst!« Und langsam setzte er hinzu, indes er die Hände flach auf das Buch legte: »Wie sollte ich Rache nehmen an meinem gerechten Geschick?«

»So meinst du das?« Der Erbgraf lehnte sich zurück und lächelte verlegen. »Verzeih, das ist mir zu hoch, da kann ich nicht mit. Aber ich will mich selbstverständlich verwenden.«

Klara kam und trug die brennende Kerze auf blankem Leuchter zum Tisch.

Der Doktor sah seinen Freund mit dem weltfremden und doch überlegenen Lächeln an, das manche so haßten an ihm. »Die Schmach wird mich brennen, solange ich lebe. Und trotz der Schmach bin ich frei wie nie zuvor. Denn Zeit meines Lebens werde ich nicht mehr in Geschäfte hinübergreifen, über die ich nicht Herr bin.«

Leise, wie sie gekommen, ging die Magd wieder hinaus.

»Eine scharmante Person,« lenkte der Erbgraf ab. »Eine ganz außergewöhnliche Erscheinung von hervorragenden Qualitäten. Wie sie damals heraufkam ins Schloß, wie sie trotz tiefer Erregung alles mit Würde und sicherem Anstande vorzubringen wußte – es hat einen nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht. Vor der hab' ich Respekt.«

Der Arzt nickte: »Es gibt noch Freie im Knechtsgewande. Mehr, als wir ahnen. Man muß sie nur aufwecken.«

»Aufwecken?« Der Graf zuckte die Achseln. »Ich dächte, wir hätten genug von dieser Aufweckerei.«

Der Arzt ballte die mageren Hände. »Aufwecken! Alles, was frei und edel im Volke ist, aufwecken! Aber nicht jählings von heute auf morgen. Nein, langsam und klug. Und jeder wecke seinen Nächsten. Dann aber muß einer kommen, der 184 das Ganze weckt, hörst du? Das Ganze aufweckt zur Freiheit!«

Der Erbgraf schwieg.

Nach einer Weile fuhr der Doktor fort. »Es kommt auch einer; des bin ich gewiß.«

Der Erbgraf seufzte: »Paule, du rasest. Die schwere Krankheit steckt dir noch in Gliedern und Gehirn. Wollen wir Gott danken, daß die Franzosen über den Rhein geworfen sind. Der Erzherzog belagert Kehl. Deutschland diesseits des Rheins ist frei. Nur Italien ist noch in den Händen jenes Generals – wie heißt er doch?«

»Bonaparte, wenn ich mich recht erinnere,« half ihm der Arzt.

»Mag sein, Bonaparte, jawohl. Aber hörst du, daß ich's ja nicht vergesse: für die arme Magd sollte man denn doch beizeiten sorgen. Man müßte sie – halt, so könnte es gehen! Da gibt's ihrer genug armer Teufel, etwa einen Förster oder einen Lakaien, der sie mit einem Stück Geld auch unter solchen Umständen gerne nähme – so ein schönes Frauensmensch. Wart nur, ich will mich besinnen.«

»Hör auf!« schrie der Arzt und saß mit verzerrtem Gesichte.

Verwundert sah ihn der Erbgraf an. Aber ganz beschäftigt mit seinem menschenfreundlichen Plane fuhr er fort. »Das wäre nicht das erstemal, solch eine kleine Reparatur. Was ein Kanzleidirektor getan hat, kann doch wahrhaftig auch ein Förster besorgen.«

Der Arzt erhob sich schwerfällig: »Denk, was du willst – aber die beiden nimm du mir nicht zu gleicher Zeit in den Mund, diese Blitzin –«

»Halt, ich bitte, nunmehr Blitzin von Wolkenfels,« unterbrach ihn der Erbgraf mit Lachen.

»Ich will ausreden!« Der Doktor trat hart vor den Freund. »Diese abgedankte Geliebte des – was ist der Kerl?«

»Gesandter am Hof zu Wien. Daher doch das Geld.«

185 »Gut, also diese und die unschuldige Magd, nimm die beiden nicht mehr zugleich in den Mund. Und wisse, ich lasse die Magd niemals an einen ausliefern, der sie nur um eines Stück Geldes willen heiraten möchte.«

»Ich bitte dich, Frey, du bist erregt. Aber ich weiß ja, die Krankheit, die Krankheit.«

»Jawohl, Erbgraf, die Krankheit, die schwere, die allgemeine Krankheit ist schuld daran.«

»Versteh mich recht, du bist erst in der Genesung, lieber Doktor. Ich wollte nur sagen, man muß die Dinge nehmen, wie sie sind.«

»Jawohl, Erbgraf. Aber das haben wir nun wohl Hunderte von Jahren klaglos getan, und deshalb ist auch endlich bei uns in Deutschland alles vor die Hunde gegangen. Erbgraf, wir beide denken immer weiter auseinander. Nicht einmal wenn wir das Gleiche sagen, ist es das Gleiche.«

Der Graf streckte ihm gutmütig die Hand entgegen. Zögernd nahm sie der andere.

»Das wird sich alles geben, wenn du erst wieder gesund bist.«


Allgemach kehrten die Kräfte des Doktors zurück.

Die Knaben durften nun allabendlich in seiner Stube spielen. Aber sie mußten leise spielen, und so setzte sich die Magd zu ihnen auf die Dielen und half ihnen bauen.

Und wie konnte sie spielen und plaudern mit seinen Kindern!

Gegen ihn selbst war sie scheu und verschlossen. Sie sprach nur, wenn er sie fragte.

Dann aber kam der Tag, wo sie vor ihn trat und mit verhaltener Stimme sagte, sie könne nicht mehr lange bleiben – sie müsse fort mit ihrer Schande. Und sie sprach von einer Base, die ferne in einer Stadt wohnte. Etwas Geld habe 186 sie ja auch; an die zweihundert Gulden elterliches Erbteil. Vor Not sei sie geschützt.

Der Doktor hörte halb hin auf das, was sie vorbrachte. Dann wandte er sich ans Fenster und sah hinaus.

Nach einiger Zeit murrte er: »Das wird sich geben. Kommt Zeit, kommt Rat.«

Sie preßte die Hand aufs Herz und sagte: »Ich kann nicht bleiben. Nach Neujahr muß ich wandern.«

Als er nichts mehr sagte, ging sie bescheiden aus der Türe.

In der folgenden Nacht lag er schlaflos in seinem Bette. ›Was mag nun werden? Sie hat ihre Ehre eingesetzt für meine Frau, und es ist ihr so erbärmlich ergangen. Und ich? Was wäre ich ohne sie? Ein toter Mann.‹

Er setzte sich auf. ›Wie nun, wenn du auf einer einsamen Insel wärest, allein mit ihr und den Kindern?‹ Er ballte die Hände. ›Was tätest du? Ei, das Natürliche!‹ Er atmete tief auf. ›Und was ist denn – das Natürliche?‹ Tastend, gleichsam mit geschlossenen Augen dachte er sich an das heran, was doch schon hell und klar vor ihm stand, und ganz laut sagte er vor sich hin: ›Leben um Leben!‹

Dann legte er sich zurück und entschlief. Und es träumte ihm, er läge mit offenen Augen, und am Spiegel drüben stände seine verstorbene Frau und kämmte ihr dichtes, blondes Haar. Angstvoll sah er hinüber und wartete, was sie wohl sagen werde. Lange Zeit stand sie mit dem Rücken gegen ihn; er aber wartete und wartete. Da endlich drehte sie sich um und kam heran. In der linken Hand hielt sie eine starke Flechte, und ihre Rechte schob den Kamm hindurch, daß es leise knisterte. Und wie damals, wo er vom Obersten der Chasseurs gekommen war, sprach sie – aber nicht mit verstörtem Gesicht sondern mit wundervoll friedlichem Lächeln: »Du, vor der hab' ich Respekt.« 187


Die Tage kamen und gingen, und in den Adern des Arztes strömte das Kraftgefühl der Genesung. Keines von beiden, nicht der Herr und nicht die Magd, hatten wieder vom Gehen gesprochen.

Desto mehr sprachen die Leute im Städtlein. Warum? Ja, wer hätte das sagen können?

Und so geschah es, daß die Blitzin der Baronin von Goldeneck einen Besuch machte, daß die Baronin von Goldeneck der Blitzin den Besuch erwiderte, und daß die Blitzin der Baronin, als der Cousine der seligen Doktorin, ganz im Vertrauen –. ›Unmöglich, meine Liebste!‹ ›Unmöglich? Was ist da unmöglich?‹ ›Grundlose Vermutungen.‹ – ›Beweisen kann ich's freilich nicht; aber wir werden ja sehen. Solch ein schrecklicher Ideologe!‹

Die Baronin lebte während des Sommers gewöhnlich auf einem kleinen Gute, und des Winters bewohnte sie ein schönes Haus im Städtchen. Sie war verwitwet, kinderlos und stand in den Fünfzigern. Deshalb konnte sie ohne Gefahr mit dem Doktor ein offenes Wort reden. Sie mußte es tun, es war ihre heilige Pflicht.

Und so saß sie eines Nachmittags im Zimmer zur ebenen Erde, linkerhand vom Eingang, auf dem achtbeinigen Sofa, und roch stark nach Moschus.

»Sagen Sie mir, verehrter Cousin, nur ein einziges beruhigendes Wörtlein.«

»Und was belieben Sie zu hören, gnädigste Cousine?«

Ihre kleinen, grauen Augen bewegten sich hastig hin und her, sie vermied es, in sein ruhiges Gesicht zu blicken. Es war doch nicht leicht, so etwas schlankweg zu fragen. Sie spielte mit ihrem Spitzentüchlein, sie hob es an die Wangen und betupfte sich, sie ballte es zusammen auf ihrem raschelnden Kleide. »Nur das eine Wort, liebster, bester Cousin, es ist nicht wahr, die Leute sind verrückt, ich heirate nie und nimmer unter meinem Stande.«

188 »Mit Vergnügen, Cousine.« Er machte ein spöttisches Gesicht. »Ich bin überzeugt, daß Sie niemals unter ihrem Stande heiraten werden.«

»Sie, Sie, nicht ich.« Sie hob die gefalteten Hände: »O, scherzen Sie nicht in dieser ernsten Sache!«

Er machte ein finsteres, abweisendes Gesicht.

Sie aber hielt ihm beide Hände hin: »Nun also, Herr Cousin, ich darf hinausgehen und den Leuten sagen, redet nur nicht so töricht, er denkt nicht daran.«

Der Doktor rührte sich nicht.

Sie saß mit offenem Munde. Nach einer Weile fragte sie: »Also doch –?«

»Und wenn, gnädigste Baronin?«

»Wenn?« Sie ballte das Taschentüchlein. »Wenn – dann sage ich, es ist unglaublich, einfach unglaublich. O, meine arme, arme selige Cousine!«

»Lassen Sie die Entschlafene ruhen. Sie ist jenseits der Torheiten, mit denen die Menschen sich ihre Lebenswege verbauen.« Der Arzt erhob sich und trat ans Fenster.

»Und Ihre bejammernswerten Kinder?« Die Baronin rang die Hände.

»Ich wüßte keine bessere Erzieherin für meine Knaben. Aber im Vertrauen, Baronin, ich weiß nicht – ob sie mich mag.«

Sie sprang auf: »Also wäre es noch gar nicht so weit?«

»Wie weit?« fragte er drohend und wandte sich vom Fenster.

Sie wurde glührot. »Die Leute,« murmelte sie. Dann stöhnte sie: »Man hörte ja auch so mancherlei, was mit dem Franzoseneinfall zusammenhängt.«

»Sehr richtig, Baronin, was aufs engste damit zusammenhängt. Und ich möchte niemand raten, sie nur mit einem Wörtchen an das zu erinnern, was ihre stolze Seele schmerzen muß.«

189 Die Baronin hatte die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt. Mit veränderter Stimme begann sie: »Herr Cousin, ich bitte Sie, denken Sie nur einen Augenblick an unsere ästhetischen Abende. Dort saß ich neben Ihrer Seligen, wie glücklich waren wir, als Sie uns einführten in die Tiefen der Dichtung aller Zeiten. Das ist nun freilich vorüber. Ich aber soll in Zukunft nicht einmal mehr Ihr Haus betreten können.«

»Mein Haus wird Ihnen immer offen stehen, Cousine.«

»Und das alles um einer Magd willen!« rief sie leidenschaftlich. Dann aber änderte sie abermals den Ton. »Sie degradieren sich selbst. Sie degradieren Ihre Söhne, Ihre Familie.«

Er ballte die Hand. Sie aber bemerkte es nicht und fuhr flüsternd fort: »Dazu heißt es eben, die Magd befinde sich –«

Grollend, aus tiefer Brust kam seine Antwort: »Ganz recht, Baronin – sie befindet sich. Sie befindet sich in den Umständen, die unter Umständen sogar in einer Mätresse ohne weitere Umstände das Gefühl der Schutzbedürftigkeit erwecken können. Solche Umstände sind vielleicht auch Ihrer Freundin bekannt und geläufig.«

»Meiner Freundin – welcher Freundin?«

»Ihrer Freundin, die hinter dem allen steht. Und so bitte ich, halten Sie einen Augenblick den Begriff der Schutzbedürftigkeit fest – dann haben Sie den einzigen Punkt, an dem sich das Schicksal der unschuldigen Magd berührt mit dem Schicksal einer andern, die gesellschaftlich so weit von ihr entfernt steht, daß ich die beiden niemals ohne Not beisammen zu sehen wünsche. Grüßen Sie Ihre Freundin von mir.«

Sie hatte ihre Fassung wieder gewonnen. »Es gäbe vielleicht doch einen andern Ausweg,« sagte sie kühl und reichte ihm die Fingerspitzen. »Voilà tout, ich habe meine Pflicht getan.«

190 »Ein erhebendes Bewußtsein, gnädigste Cousine, ein Bewußtsein, zu dem auch ich mich in meinem Falle um jeden Preis durchringen möchte.«

An der Türe blieb sie stehen: »Unserer Freundschaft soll's dennoch keinen Eintrag tun, Cousin.«

»Sehr gütig,« sagte der Arzt.


Am gleichen Abende sprach er mit seiner Magd.

Sie hatte die Kinder zu Bett gebracht, kam noch einmal in die Stube und legte das offene Haushaltbüchlein neben ihn auf den Schreibtisch.

Er sah flüchtig auf die sauber geschriebenen Zahlenreihen und gab es ihr zurück. »Was für eine schöne Handschrift. Ich kenne wenige Frauenzimmer, die so rein und fehlerlos schreiben wie du.«

»Aber Sie haben's ja wieder gar nicht gelesen?«

»Warum auch? Das ist doch alles in den besten Händen.« Er stand auf und ging etliche Male hin und her.

Sie warf einen scheuen Blick auf ihn und wich zur Türe. »Haben Sie noch etwas zu besprechen?«

Er vertrat ihr den Weg und lehnte sich an die Türe. Seine Stimme bebte, als er ihr antwortete: »Jawohl, wir haben noch etwas zu besprechen.«

Sie hob die Augen zu ihm empor. Da traf sie sein leuchtender Blick, und sie wurde rot bis unter die Haare. Mit gesenkten Augen stand sie vor ihm und preßte das Büchlein an ihre Brust.

»Klara, ich hab's nun vollends zu Ende gedacht.«

Er hielt inne, die Wanduhr tickte laut. Auf dem Schreibtisch, hinter der Magd, brannte die kleine Flamme der Kerze. Ihr Antlitz war im Schatten; das des Doktors war schwach beleuchtet.

Sie hob die Augen und sagte ängstlich: »O nicht, Herr!«

191 »Ich möchte dich zum Weibe.«

Sie erbebte und sprach ganz leise: »Aus Mitleid, Herr.«

Da streckte er ihr die Hände entgegen.

Aber sie wich vor ihm zurück und wiederholte: »O nicht, Herr, o nicht!«

Er blieb stehen und ließ die Hände sinken: »Weil ich dich liebe.«

Sie schüttelte traurig den Kopf. Ein Schluchzen brach ihre Stimme, als sie sagte: »Haben Sie Mitleid mit mir!«

Die Wanduhr tickte überlaut.

»Aber Klara, ich verstehe dich nicht.«

»Herr Doktor –«

»Ich sehe, du hast mich nicht lieb.«

Da hob sie das Haupt, blickte ihn voll an, strich über ihren schwarzen Scheitel und atmete tief auf.

Er hatte ihren Blick verstanden und breitete seine Arme aus. »Ist's nicht, als wären wir beide allein auf einer glücklichen Insel?«

Da wich sie zurück bis an den Schreibtisch und sagte ängstlich: »Nein, Herr, Sie irren, das sind wir nicht.«

»Klara!«

»O lieber Herr, morgen, ich bitte Sie, morgen!«

»Wie du willst. Morgen abend, wenn alles wieder so still ist, wie jetzt.«

Er war ehrerbietig zur Seite getreten und gab ihr den Weg frei.

»Morgen abend,« wiederholte er.

»Morgen abend,« murmelte sie und griff nach der Klinke.

»Ich reite morgen zum ersten Male wieder über Land und komme abends zurück.«


Es war am andern Vormittag.

Draußen fiel in dichten Flocken leis und weich der erste 192 Schnee. Im grauschimmernden Lichte dehnte sich der Marktplatz. Mühsam stapften etwelche Leute dahin und dorthin.

Behaglich warm war es in der großen Wohnstube. Klara saß auf der Bank neben dem Ofen. Der kleine Gerhard spielte zu ihren Füßen mit seinen Bausteinen und sang halblaut, wie Kinder tun, vor sich hin.

Sie hatte die Hände im Schoße gefaltet und blickte ins Leere. Unter ihren Augen waren dunkle Schatten. Sie hatte wenig geschlafen in dieser Nacht.

Sie glitt von der Bank, schlang den Arm um das Kind und drückte es an ihre Brust: »Gerhard, o das wär' aber schön.« Das Knäblein wollte spielen; es zappelte in ihrem Arme, hielt einen Baustein in der Faust weit ab von sich und strebte zu seinem Turme.

Sie gab ihn frei.

Dann ging sie zum Fenster, auf den Holztritt, und blickte zwischen den Blättern des Wachsblumenstockes hinaus auf den Marktplatz – wie damals. Und es war ihr auf einmal, als sagte die Frau hinter ihr mit leiser Stimme: »Mir ist so angst, unsagbar angst.«

Sie wandte unwillkürlich den Kopf zurück. Am Ofen spielte das Kind.

Sie ging herab vom Antritt, nahm den großen Schlüsselbund vom Haken, verließ die Stube und begann eine Wanderung durchs ganze Haus. Sie stieg empor auf den Speicher, sie ging in die Giebelstuben des dritten Gadens, sie betrat das Schlafzimmer, wo noch das verlassene Bett neben dem Lager des Herrn stand. Sie suchte einen kleinen Schlüssel am Bunde, öffnete den Wäscheschrank, strich mit zitternden Fingern über die blühweiße Pracht und sog den süßen Duft getrockneter Kräuter in tiefen Zügen ein. Dann hob sie eine flache, runde Pappschachtel heraus und legte sie vorsichtig auf das Bett der seligen Frau, hob den Deckel ab und 193 besah sich den dürren Myrtenkranz. Tränen tropften über ihre Wangen herab.

Da schreckte sie zusammen. Hatte das Kind ihren Namen gerufen?

Sie rannte über den Flur, die Stiege hinunter ins Wohngemach. Singend stand das Knäblein und baute an dem Turme, der ihm bis an die Brust reichte.

Wieder kniete sie neben das Kind und streichelte seine Locken. Aber das Kind war ungnädig, schüttelte sich und sagte: »Geh weg, sonst fällt er ein!«

Sie ging zurück in das Schlafzimmer, schloß die Schachtel und legte sie sorgsam zurück in den Schrank.

So kam sie von Gemach zu Gemach, so öffnete sie alle Kästen in dem alten Hause und sah noch einmal den ganzen Hausrat an, den drei Geschlechter zusammengebracht hatten.

Zuletzt ging sie in die Stube des Herrn, strich liebkosend über die Rücken der Bücher auf dem großen Gestelle, setzte sich an den Schreibtisch, legte die gefalteten Hände auf die Platte und sah hinauf zu den beiden Bildern an der Wand.

Es war noch Wärme in dem großen Kachelofen, und es roch nach Tabaksrauch. Das Schneien hatte aufgehört; kaltes Winterlicht kam zu den drei Fenstern herein.

Klara saß im gepolsterten Stuhle des Herrn; sie war umschlossen von den festgefügten Mauern eines angesehenen Hauses – sie saß lind und warm. In dieser Stube, dort an der Türe, hatte er's ihr gesagt, er selbst, der Herr des Hauses, sie solle sitzen lind und warm Zeit ihres Lebens.

Es war traumhaft stille. Nur zuweilen tappten draußen dumpfe Schritte durch den Schnee.

Noch einmal blickte sie hinauf zu dem gütigen Antlitze des geliebten Herrn. Es war ein langer, heißer Blick, bis ihr die Augen übergingen. Dann streifte sie über das lächelnde Gesicht der seligen Frau, zog die Schublade auf, 194 wo der Doktor sein Briefpapier verwahrte, nahm die Feder, prüfte den Spalt auf dem Daumennagel und begann zu schreiben, indes die Linke von Zeit zu Zeit die rinnenden Tropfen von den Wangen wischte.

Sie schrieb, und die Feder knirschte und kreischte, und sie gedachte des Wortes, das er gestern gesprochen: »Was für eine schöne Handschrift. Ich kenne wenige Frauenzimmer –.«

Nein, heute schrieb sie schlecht, ganz schlecht.


Der Brief war fertig. Sie faltete ihn kunstgerecht. Dann ging sie in die Küche und entzündete am Herde den Wachsstock, kam zurück und siegelte den Brief mit dem Petschaft des Herrn.

Scharf ausgedrückt leuchtete ihr das Bild des Wappens im roten Siegellack entgegen. Es war der Pelikan, der seine Brust aufreißt und mit dem eigenen Blute die Jungen labt.

Ein uraltes Sinnbild. Uralt und abgegriffen wie eine landläufige Münze.

Nicht so. In leuchtender, in ewig junger Schönheit hütete der edle Vogel den Inhalt dieses Briefes. –

Fernes Poltern und klägliches Kindergeschrei schreckte sie empor. Wehklagend lief ihr Klein-Gerhard Frey auf der Stiege entgegen: Der Turm, den er zu bauen unternommen, war in sich zusammengestürzt.

Die Glocke ging, und der größere Knabe kam aus der Schule. Sie nahm ihm die Mütze ab und half ihm den Schnee von den Absätzen klopfen.

Dann deckte sie den Tisch, trug die Suppe auf, band den Kindern die Schürzen um und sprach das Gebet.

Nach dem Essen kleidete sie die Knaben sonntagsmäßig und brachte sie hinunter in die Bachgasse zur Baronin, bat sie und sprach: »Ich muß über Land. Darf ich Ihnen die Kinder geben?«

195 »Über Land?« Die Baronin machte ein verwundertes Gesicht.

»Weit fort; denn es muß sein,« sagte die Magd.

Die Augen der Baronin wurden groß. Das Herz wollte ihr stille stehen vor Freude. Dann aber schlug's ihr bis an den Hals herauf. Und sie verhielt sich regungslos, während die Magd niederkniete und die Knaben herzte und küßte.


In den nächsten Tagen erfuhr das ganze Städtchen, wie tatkräftig und umsichtig die Magd gehandelt, wie sie ihre Truhe gepackt und zum Fuhrmann gefahren, einen Schlitten bestellt und den Fahrpreis im voraus erlegt hatte bis zur nächsten größeren Stadt. Und Frau Lotte von Blitz erzählte nicht ohne Rührung jedem, der es hören wollte: »Sie ist auch bei meinem Männchen gewesen und hat ihn um ein obrigkeitliches Zeugnis gebeten. Und er hat's ihr gerne gegeben; denn sie kann ja gewiß nichts dafür – man versteht mich ja wohl.«

Der Brief aber, den der Doktor am Abend in seinem verödeten Hause gefunden hatte, schloß also:

»Deswegen, liebster Herr, kann ich nicht für das Natürliche halten, was Ihnen als natürlich erscheint. Sie sind gewohnt, in die Ferne zu sehen, und Sie übersehen die spitzigen Steine im Wege. Sie haben's doch nicht ganz zu Ende gedacht. Ich aber hab's getan und will meine Schmach auch in Zukunft allein tragen. Heute fühle ich mich noch stark. Morgen könnte ich wieder schwach sein. Deshalb gehe ich heute noch. Sorgen Sie sich nicht um mich; forschen Sie nicht nach mir. Ich komme durch. In Gottes Namen. Es ist die Pflicht Ihrer gehorsamen Magd Klara Groß.«


»Eine ganz außerordentliche Person,« sagte die Gräfin. »Eine ganz außerordentliche Person,« sagten die Frauen im 196 Städtlein. Dann aber begannen sie sich liebevoll mit der Zukunft des Witwers zu beschäftigen.

Tage wurden hell, und Tage versanken in Finsternis. Und wie dürres Laub legten sich die vielen, vielen Tage auf diese Geschichten.

Lange noch herbstelte der Doktor. 197

 


 


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