August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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5. Die Söhne der Freiheit

Die Franzosen begannen zu requirieren, und sie requirierten, was ihnen gefiel.

Bei Kanzleidirektors lag der Oberst der Chasseurs im Quartier; der war ein vorzüglicher Schachspieler. Und nach Tisch erkundigte er sich bei Frau Lotte, ob ein Schachspieler im Städtchen wäre. Da nannte sie diensteifrig den Arzt, und der Oberst requirierte den Arzt, daß er spiele mit ihm.


Es war Abend. Der Direktor lag noch immer in der Gaststube seines eigenen Hauses zu Bette, und neben ihm saß Frau Lotte.

Wie vordem hingen an der Wand der Wohnstube im Bilde die Männer und Frauen des Geschlechtes Blitz von Wolkenfels. Aber auf dem Tische vor dem achtbeinigen Sofa stand nicht mehr das feine Porzellan des gemütlichen Nachmittagkaffees, kein Silberschatz blinkte aus dem Glaskasten in der Ecke.

Gelb und hager saß der Oberst der Chasseurs auf dem Sofa, dampfte aus seiner Tonpfeife, bückte sich von Zeit zu Zeit und hob den Weinkrug vom Boden, hielt ihn andächtig an die Lippen und trank in vollen Zügen. Ihm gegenüber saß der Arzt, und zwischen den beiden, auf dem zierlichen Tische, stand das Schachbrett mit den kämpfenden Figuren. Vom Marktplatze herauf tönte der Lärm des Feldlagers.

Der Doktor saß mit grimmigem Gesicht. Er verwünschte seine Kunst, die ihn von Weib und Kind entfernt hielt, und spielte doch mit der Anteilnahme des Künstlers; er verwünschte seine Sprachkenntnis und antwortete doch dem Feind in den 92 gewähltesten Wendungen. Er fühlte sich willenlos gefangen und dem Menschen da drüben auf dem Sofa ausgeliefert zu Gnaden und Ungnaden. Solche persönliche Ohnmacht aber hatte er in seinem Leben noch niemals empfunden.

Es war kein ruhiges Spiel. Nicht fünf Minuten saßen sie ungestört. Im Hause des Kanzleidirektors hatten die Soldaten eine vorläufige Regierung eingesetzt, und der Oberst war der Regent. Alles was sich in diesen Stunden Wichtiges ereignete, fand seine Entscheidung am Schachbrett. Und der jammervolle Ernst des feindlichen Einfalles kam in einer schier endlosen Reihe von Spiegelbildern zur Kenntnis dessen, der zum Schachspiel an dieses Tischlein gebannt war.

Der Oberst hatte die Türe im Auge, der Arzt aber wandte ihr auf seinem Stuhle den Rücken. Und so traf der Oberst sitzend mit kurz herausgestoßenen Worten von Fall zu Fall die Entscheidung.

Nur einmal hatte der Arzt versucht, in eine Verhandlung einzugreifen. Da hatte ihn der Oberst mit verwunderten Augen gemessen und hatte gebieterisch auf das Schachbrett gedeutet. Der Doktor hatte die Zähne aufeinandergebissen und fortan geschwiegen. Was wollte er wider die Gewalt, er, der zum Schachspiel requiriert war, wie Nachbar Jakobs Kühe zum Schlachten?

So saß er, wandte sich nicht mehr und hörte nur die wohlbekannten Stimmen der Mitbürger angstvoll hinter seinem Rücken mit dem Gewalthaber verhandeln.

Der Schultheiß kam mit drei Ratsherren und zählte an den Fingern alle Unmöglichkeiten auf: Dreihundert Pferde gäbe es nicht auf zehn Meilen im Umkreis; zwölfhundert Paar Stiefel könne man nicht von heute auf morgen beschaffen. Der Dolmetsch gab mit eintöniger Stimme die angstvollen Einwände auf französisch wieder, und mit unbewegter Stimme sagte der Oberst zum Arzt: »Gardez votre 93 reine! Dann aber fügte er wie beiläufig hinzu: »Geht mich nichts an, ist Sache des Kommissärs.« Mit eintöniger Stimme übersetzte der Dolmetsch die abweisenden Worte des Gewalthabers ins Deutsche. Der Arzt aber saß und hörte, wie hinter ihm der Schultheiß mit Wucht in die Knie sank und wie auch die andern sich schwerfällig niederließen und um Gnade winselten. Da schlug ihm die Schamröte ins Gesicht, da konnte er sich nicht mehr halten und sagte mit bebender Stimme: »Sie hören ja doch, mein Herr Oberst, es ist eine Unmöglichkeit!« Mit unbewegtem Antlitz warf der Oberst die französische Antwort hin, und der Dolmetsch übertrug sie sogleich zu Nutz und Frommen aller, die in der Stube waren: »Wir sind die Herren, und wir können requirieren, was wir wollen: einen Schachspieler, dreihundert Pferde, zwölfhundert Paar Schuhe, zweitausend Brotlaibe oder ein halbes Hundert Jungfrauen. Seien Sie froh, daß ich menschlich bin und auf das Menschenfleisch verzichte.« Und während die Ratsherren mit schleppenden Schritten aus der Stube gingen, setzte er eine Figur, die den Doktor hart bedrängte.

Der Doktor saß und spielte. Und hinter ihm blieb die Türe keine fünf Minuten im Schlosse: Offiziere kamen und erstatteten Rapporte, Bürger kamen und jammerten, baten und flehten. Der Dolmetsch übersetzte hinüber und herüber, und der Oberst entschied. Und der scharfe Blick des Arztes erkannte die Freude gar wohl, die sich hinter dem regungslosen Gesichte des Fremden verbarg – die Freude am Quälen.


Es war dunkel geworden.

Etliche von den Franzosen aber besaßen Katzen, große, kluge Katzen mit absonderlichen Schwänzen; so dicke Katzenschwänze hatte man noch niemals im Städtchen gesehen. Diese Katzen hockten beim Marsche auf den Schultern ihrer Herren oder auf ihren Tornistern, und im Quartier taten die Franzosen 94 nichts lieber als spielen mit ihren Katzen. Und manche von den Soldaten hatten auch zierliche Kugelspiele in den Taschen, Holzkugeln von verschiedenen Farben. Und wie die einen so gerne spielten mit ihren Katzen, so spielten die andern mit ihren Kugeln – und je zuweilen taten sie sich zusammen und spielten mit Katzen und Kugeln.

Und es begann den Leuten zu grauen vor diesen Katzen mit den dicken Schwänzen und den großen, funkelnden Augen und vor diesen Zauberkugeln, die allemal dorthin rollten, wo man sie durchaus nicht zu sehen gewünscht hätte. –

Es pochte an der Türe des Gastzimmers, und Frau Lotte erschien auf der Schwelle. Ein Soldat stand vor ihr, hielt einen Leuchter mit brennender Kerze und lächelte höflich. Ein blutjunger, schwarzhaariger Geselle mit einem dicken Wulst um den Hals. Sie aber legte den Finger auf den Mund, spitzte die Lippen und flüsterte: »O pardonnez, mon épous il est très malade.« Und es klang ganz anders als damals, wo sie zu den Räten gesagt hatte: »Schonend, meine Herren, schonend, ich bitte Sie!« Der Fremde nickte und lächelte höflich: »O sehr gut, Sie sprechen französisch.« Und er zwirbelte sein Bärtchen. Dann aber wisperte er ein paar Worte, und was er sagte, war so zwingend, daß Frau Lotte leise die Türe schloß und – wenn auch mit zögernden Schritten – sich hinter ihm zur Küche begab. Höflich machte der Franzose halt, öffnete die Türe und ließ der Dame den Vortritt.

Die Küche war finster, als Frau Lotte über die Schwelle schritt; aber vom Ausgusse herüber glühten zwei Augen durch die Dunkelheit, daß sie zusammenschrak. Dann kam der Schwarze mit seiner brennenden Kerze, und sie sah, daß auf dem Ausgusse ein zweiter Soldat hockte. Auf dessen Schulter saß eine Katze.

»Wir tun Ihnen nichts zuleide,« sagte der Führer. »O nein, wir müssen Sie nur bitten, uns ein wenig Gesellschaft 95 zu leisten.« Er rückte ihr einen Schemel zurecht. »Und machen Sie keinen Lärm, wenn Ihnen an Ihrem Leben gelegen ist.«

Frau Lotte war sehr bleich, als sie sich niederließ.

Auf dem Herde, unter dem gähnenden, schwarzen Kamine flackerte das Licht der Talgkerze, und vom Ausgusse herüber funkelten die Augen der Katze.

Fast unhörbar glitt nun der andere vom Steinborde des Ausgusses und kam mit seiner Katze heran. Es war ein alter, grauköpfiger Mann.

Der Schwarze schob den Riegel der Küchentüre vor. Da griff Frau Lotte wieder in das Strandgut ihrer feinen Bildung, faltete die Hände und brachte stoßweise hervor: »O monsieur, je vous prie, avez grand pitié!«

Der Schwarze grinste und sprach: »Haben Sie keine Angst, wir krümmen Ihnen kein Haar.« Dann ließ er sich auf den Boden nieder und lockte die Katze.

Er saß mit gekreuzten Beinen und gekreuzten Armen, und sein Gesicht war schwach beleuchtet vom flackernden Lichte.

Die Katze schnurrte und glitt am Leibe des Alten herunter, machte einen hohen Rücken und begann den Schwarzen zu umkreisen. Der schnalzte kaum hörbar mit der Zunge, da stand sie auf seiner Schulter und rieb sich an seinem Ohre.

Frau Lotte saß regungslos auf ihrem Schemel; sie hatte die Hände in ihr Kleid gekrallt und starrte mit entsetzten Augen auf den Franzosen und seine Katze.

»Sie müssen sich immer ganz ruhig verhalten,« mahnte nun der Alte auf deutsch und trat seitwärts zwischen sie und seinen Kameraden.

Frau Lotte hielt den Atem an.

»Katzen sind kluge Tiere,« sagte er und warf eine kleine Kugel auf den Boden.

Die Katze ließ sich nicht stören. Sie stand noch immer 96 mit hohem Rücken auf der Schulter des Schwarzen und rieb sich an seinem Ohr.

Es fiel eine zweite und eine dritte Kugel.

Mit hohem Rücken stand die Katze, rieb sich und schnurrte.

Da begannen sich die Kugeln von selber zu bewegen. Mit Grauen sah Frau Latte zu. Sie zog das Kleid an sich und wollte den Schemel wegrücken. Aber der Alte flüsterte drohend: »Rühren Sie sich nicht!« Und die Kugeln begannen zu hüpfen, und der Alte raunte mit dumpfer Stimme die Melodie eines Tanzes. Immer geschwinder bewegten sich die Kugeln, immer wilder klang der raunende Sang.

Hatte der Schwarze mit der Zunge oder mit den Fingern geschnalzt? Mit den Fingern kaum; denn er hockte noch immer mit gekreuzten Armen. Die Katze aber sprang plötzlich von seiner Schulter und begann im ungewissen Lichte zu spielen mit den tanzenden Kugeln.

Immer höher hüpften die Kugeln, immer wilder wurde die Katze, und nun bewegten die tanzenden Kugeln und die springende Katze sich von der Mitte der Küche dorthin, wo die zwei dickbauchigen Wasserkannen auf dem niedern Schemel blinkten.

Noch immer hockte der Schwarze auf den Steinen. Jetzt raunte er: »Bitte, Madame, wollen Sie sich ein wenig wenden!«

Und unermüdlich summte der Alte, gespenstig hüpften die Kugeln, fast lautlos tanzte und spielte die Katze. Und es war, als ob die Katze die Kugeln mit Bedacht gegen die Wasserkannen lenkte. Zuweilen glitten die Kugeln zur Seite, einmal kamen sie wieder fast bis in die Mitte der Küche zurück. Aber gleich war die Katze hinter ihnen her; und wieder rollten und hüpften sie gegen die Kannen.

»Katzen sind kluge Tiere,« sagte der Schwarze und sprang auf die Beine. Die Kugeln klapperten tanzend unter dem Schemel, und wie toll tanzte die Katze mit ihnen.

97 Frau Lotte saß mit verzerrtem Gesicht.

»Allez – wir wissen genug!« rief der Schwarze mit gedämpfter Stimme. Da hüpften die Kugeln wie von selbst zurück, dorthin, wo der Alte stand, und sprangen hoch empor an ihm, und er fing sie auf und steckte sie in die Tasche.

»Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?« fragte nun der Schwarze höflich.

Frau Lotte schwieg.

»Daß Sie sich ganz ruhig verhalten müssen und auch nachher keinem Menschen ein Sterbenswörtlein davon sagen dürfen, Madame. Haben Sie mich verstanden?«

Frau Lotte bewegte mit Anstrengung die trockenen Lippen. Sie hatte den Sinn notdürftig verstanden und stöhnte ihr Ja.

Sie mußte zusehen, wie die Franzosen den Schemel zur Seite rückten, die Steine hoben und das schwere Kistchen mit dem Silberzeug herausholten. Und sie saß regungslos, als die beiden Stück für Stück in den Händen wogen. Nur als sie den Adelsbrief zu unterst hervorzerrten, wollte sie jählings emporspringen. Aber der Schwarze zischte ihr so herrisch entgegen, daß sie kraftlos zurücksank.

Lange berieten die beiden Franzosen miteinander. Dann äußerte sich der Schwarze: »Madame, wir möchten Sie keineswegs berauben. Denn was fingen wir an mit den schweren Löffeln und Messern? Wir schlagen Ihnen einen ehrlichen Handel vor. Sie behalten Ihr Silber und bezahlen uns – sagen wir zwanzig Louisdor, dann ist Ihnen geholfen und uns.«

Frau Lotte bewegte die zitternden Lippen. Aber sie brachte zunächst gar nichts heraus.

Sie stand auf. »Ich werde – den Oberst – holen.«

Da trat der Schwarze hart vor sie: »Das steht Ihnen frei. Nur lassen Sie sich dann auch eine Wache vors Schlafzimmer legen und beten Sie trotzdem zu Gott und den Heiligen für Ihr Leben. Ich dächte, Sie könnten den Handel annehmen.«

98 Frau Lotte ging mit schleppenden Schritten hinaus. Nach kurzer Zeit kam sie wieder und zählte das Gold auf den Hackblock. Mit ernsthaften Gesichtern standen die Franzosen und prüften jedes Stück. Zwei Louisdor fanden keine Gnade vor ihren Augen, und Frau Lotte mußte noch einmal zurück ins Schlafgemach. Dann bekam sie ihr Silberzeug. Der schwarze Franzose aber löste den dicken Wulst von seinem Hals und schob die Goldstücke hinein, wie in eine Geldkatze.

Es graute ihr; sie packte das Kästchen unter den Arm und entwich. Des Adelsbriefes gedachte sie nicht mehr.


Der Oberst und der Arzt waren allein. Auf dem Marktplatz drunten brüllte die Soldateska, und der Rauch ihrer Kochfeuer zog sich durch die Ritzen der Fenster.

Auf dem Tischlein brannten drei Kerzen – rechts vom Schachbrett zwei und links eine.

Der Arzt hatte einen roten Kopf und starrte auf das Spiel. Der Zorn schüttelte ihn im Innersten seiner Seele, während er äußerlich unbewegt vor dem Brette saß. Zorn und Scham rissen seine Gedanken hin und her, und dabei verfolgte er krampfhaft das Spiel.

Wo war denn sein Weltbürgertum von gestern? Was hatte er denn noch gemein mit dem dort auf dem Sofa und mit seinen brüllenden Soldaten drunten auf dem Markte? Wo waren denn all die schönen Ideen, die tönenden Phrasen geblieben, an denen er sich seit Jahren berauscht hatte? Sie waren verraucht angesichts der Brutalität der Fremden und der Schmach seiner Volksgenossen. Dafür aber wuchs in dem deutschen Ideologen von Viertelstunde zu Viertelstunde höher empor der gesunde Haß des Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Er begann seine und der Seinen Ohnmacht zu messen an ihrer Übermacht; er begann zu fragen – warum denn das alles, warum und wozu?

99 Anfangs hatte er gespielt, weil er mußte. Nun spielte er, um zu gewinnen. Er hatte einen Einsatz gemacht – ganz heimlich, wie Kinder zu tun pflegen. Er hatte sich leise gesagt: Ich stelle die Frage ans Schicksal. Gewinne ich, dann gut. Verliere ich, dann sind wir reif.

Stundenlang wogte das Spiel hin und her. Längst wußte er, seine Kunst war dem da drüben weit überlegen; aber auch das fühlte er mit jedem Zuge: der andere war kälter als er.

Vergebens wollte er sich seine Torheit ausreden, verwarf selber den Einsatz und holte ihn gleich darauf wieder hervor. Nein, er konnte nicht mehr zurück, er kam nicht mehr los von dem Gedanken – verlierst du, dann sind wir verloren.

Verloren? Was denn? Die Grafschaft? Das Reich? Ach was – mochte die Grafschaft zu Grunde gehen, mochte das Reich gar zerfallen. Das war's nicht, was ihn quälte. Und doch: wieder und wieder mußte er denken – verloren! Ja um Gottes willen, was denn? Etwas Unbeschreibliches, etwas, das ihm von Minute zu Minute zu höherer Wertschätzung emporwuchs, etwas, das er, der Weltbürger von gestern, sich noch nicht zu nennen getraute mit einem bestimmten, nüchternen Worte.

Und so kämpfte er mit den Beinfiguren um das Unnennbare. So kämpfte er, ohne es klar zu wissen, in Gedanken um die hart gefährdete deutsche Art.

Als aber zehn Schläge von der Turmuhr dröhnten über all das Geschrei des Lagers herein in die stille Stube, da sagte sein Gegner mit leiser Stimme verächtlich: »Matt!«

Der Arzt erhob sich zu seiner ganzen Länge und begann in fließendem Französisch: »Herr Oberst, ich bin der Besiegte. Aber ich erbitte mir nun für ein paar kurze Fragen Ihr Gehör.«

Der Oberst lehnte sich zurück und sog an seiner Pfeife. »Sie wünschen?«

100 Es klang so unsäglich hochmütig, daß der Doktor die Hände ballte.

»Herr Oberst, ist es Ihnen bekannt, daß man hierzulande die Franzosen als Freunde zu begrüßen geneigt ist?«

Der Oberst bückte sich, hob den Krug und tat einen tiefen Zug: »Ich und meine Offiziere haben die roten Jakobiner mit Lachen gesehen.«

»Sie aber, Herr Oberst, Sie behandeln uns zum Dank als Feinde, als Besiegte, die Ihnen auf Gnade und Ungnade unterworfen sind.«

Der Oberst richtete die glitzernden Augen auf den Arzt: »Mein Herr, ich habe Sie meines Wissens zum Schachspiel eingeladen?«

»Requiriert,« sagte dieser. »Nun aber bin ich hier, und ich hielte mich für einen Feigling, wenn ich den Mund nicht auftäte für meine armen Mitbürger. Mann gegen Mann, Herr Oberst –!«

Er hatte seine Stimme erhoben, und der Leutnant im Vorzimmer öffnete die Türe.

»Man lasse uns allein!« rief der Oberst. »Es hindert mich zwar nichts, Sie sofort in Ketten legen zu lassen, mein Herr –«

»Nichts als Ihre Ehre, Herr Oberst.«

»Meine Ehre – wie soll das?« Der Oberst erhob sich.

»Ihre Ehre, die Ihnen verbietet, sich an einem Wehrlosen zu vergreifen.« Dem Arzte war, als ob sich die enge Stube weitete. Um zwei Köpfe überragte er den Fremden. Und er sah ihn plötzlich in seinem wahren Werte – als den viel kleineren Mann – lediglich ausgerüstet mit der Macht des Zufalls. Und ruhig fuhr er fort: »Die Leute haben von Ihnen die Freiheit erhofft.«

Der andere erwiderte höflich mit unbewegtem Antlitz. »Und woher vermuten Sie, daß wir uns im Besitze dieses Gutes befinden?«

101 Der Arzt hatte das Richtige getroffen: Er stand nun nicht mehr vor dem Machthaber, sondern vor einem im Grunde wohlerzogenen Franzosen.

»Seit Jahren ertönt der Ruf der Freiheit von Westen über mein Vaterland, Herr Oberst.«

»Und wissen Sie nicht, mein Herr, daß die Hungrigen am heftigsten nach Brot schreien?«

»Ja, was wollen Sie uns dann überhaupt bringen, Herr Oberst?«

»Bringen?« Der Oberst lächelte. »Ich wüßte nicht, mein Herr, was wir Ihnen bringen sollten.«

Wiederum war dem Arzte das Blut ins Gesicht gestiegen. Er kam sich so kindlich vor diesem Fremden gegenüber: »Ja, warum sind Sie dann über den Rhein gekommen?«

Zum zweiten Male zitterte das Lächeln um den schmalen Mund des Obersten. »Eine seltsame Frage, mein Herr. Weil ich Soldat bin.«

»Aber Sie fühlen sich doch als Träger einer besonderen Mission?«

»Derselben Mission, die den Alexander nach Indien und den Cäsar über die Alpen nach Gallien gehen hieß,« lautete die stolze Antwort.

»Aber Sie wollen doch den Völkern die Früchte der großen Revolution bringen?«

Der Franzose kreuzte die Arme. »Und woher wissen Sie, mein Herr, ob wir, ich und meinesgleichen, nicht den ganzen Unrat der Revolution von Herzen zum Teufel und für uns und unsre Truppen die einzige Institution wünschen, die nach meiner Ansicht ein Recht hat im Leben der Völker –?«

»Und diese wäre?« Der Arzt blickte erregt auf den Franzosen.

»Das Königtum, mein Herr,« sagte der Fremde mit Lachen. »Aber beliebt's, so gebe ich Ihnen Revanche.«

102 »Dann wäre alles, was von da drüben kommt, Phrase, Lüge, Betrug? Dann gäbe es unter unsern Feinden sogar Royalisten?«

»Im Heere Jourdans gibt es nur Soldaten, mein Herr.«

Vom Marktplatze tönte wildes Lachen und Schreien. Dann schrillte der Hilferuf eines Weibes durch die Luft.

Der Arzt sprang ans Fenster und riß es auf. »Herr Oberst, Ihre Soldaten vergreifen sich an einer Wehrlosen!«

Der Franzose trat neben ihn und sah hinab in den rotqualmenden Dunst. Noch einmal ertönte in der Mitte des Platzes, hinter dem Grafenbrunnen, der Hilferuf.

»Herr Oberst – im Namen der Menschlichkeit – helfen Sie!«

Der Franzose wandte sich ab und sagte verächtlich: »Nicht der Rede wert. Das ist der Krieg.«

»Herr Oberst, ich empfehle mich.«

»Sie bleiben!« sagte der Oberst. »Man bringe Wein und Tabak!« herrschte er gegen die Türe hin.

»Ich muß heim, ich weiß ja nun, daß nicht einmal unsre Frauen und Kinder sicher sind vor Ihren Soldaten.«

»Sie bleiben, mein Herr! In Ihrem Hause liegt eine Schutzwache.« Der Oberst setzte sich an den Spieltisch und nahm die frische Pfeife aus der Hand eines Soldaten. »Noch eine Partie, dann können Sie gehen.«

Und nun spielte der Arzt mit zusammengepreßten Lippen, mit starren Augen im Scheine der flackernden Kerzen. Und er setzte Zug auf Zug und achtete nicht auf den dritten Schrei, der vom Marktplatze herübergellte. Er spielte, als ob es um sein Leben ginge, und er hatte nur noch den einen, den brennend heißen Gedanken: Siegen über den da drüben und über die da drunten. Und er stellte Figur vor Figur und griff mit solcher Wucht an, daß der andere sein Spiel gar nicht zu entwickeln vermochte. Mit zuckenden Lippen saß der Franzose. Die Pfeife war ihm ausgegangen, mit 103 zitternden Fingern setzte er seine Figuren. Er hatte seine Ruhe verloren. Der Deutsche aber rückte fast im Takte vorwärts. Nach zwanzig Zügen war der Franzose in die Enge getrieben, und nach ein paar weiteren Zügen sagte der Deutsche verächtlich: »Matt!«

Und nach Jahren noch erzählte er von diesem Spiel mit dem Feinde am Abende des 12. August 1796, und jedesmal fügte er bei: »Es war mir so ruhig, so tröstlich zu Mute. Und ich sah so klar – wir dummen Deutschen können ja doch viel mehr als sie, nur das Vertrauen müssen wir haben.«

Der Oberst bezwang seinen Verdruß und erhob sich: »Mein Herr, ich danke Ihnen.«

Von unten herauf ertönte lauter Gesang.

»Die Leute amüsieren sich,« sagte der Oberst gleichgültig. »Wollen wir zusehen?«

Schweigend trat der Arzt ans Fenster neben ihn.

Im weiten Kreise hielten die Soldaten und sangen ein wildes Lied. Mitten im Kreise aber stand ein großes Faß, über dem eine bläuliche Flamme wallte.

»Sie sehen, wie sich unsere Soldaten die Gottheit vorstellen. Wünschen Sie diese Art des Gottesdienstes in Ihrem Vaterlande? Nur zu! Die Kosten des Kultus sind unbedeutend.«

»Noch verstehe ich das Ganze nicht,« sagte der Arzt.

»Der Kessel auf dem Fasse ist mit Schnaps gefüllt, und in den Flammen des brennenden Schnapses verehren die Kerle das höchste Wesen.«

Der Gesang wurde wilder. Etliche hatten sich bei den Händen gepackt und tanzten in den freien Raum hinein. Andere schlossen sich an. Länger und länger wurde die Kette der Tanzenden und wand sich endlich wie eine Riesenschlange um das Feuer. Die Flamme wallte züngelnd, und wie die Teufel tanzten die Soldaten um das bläuliche Licht. Andere und andere wurden hineingezogen in den Strudel der 104 Singenden, Schreienden, Jauchzenden, und zuletzt wogte alles in einem einzigen, hüpfenden, unentwirrbaren Knäuel. Rings in den offenen Fenstern drängte sich Kopf an Kopf. Wachtfeuer brannten allüberall, und die Giebelwände leuchteten im roten Widerscheine. Drunten aber brannte züngelnd, als wollte sie überquellen über den Kesselrand, die blaue Flamme, und die Fremdlinge rasten in wahnwitzigem Wirbel um sie herum und tobten im Dienst einer Gottheit, die sich ihnen geoffenbart hatte im brennenden Schnapse. Und es war, als ob die Giebelwände der biederen, alten, deutschen Häuser erglühten vor Scham bis unter die Schindeln.

»Pfui Teufel, die Hunde!« sagte der Arzt auf deutsch. Dann aber besann er sich und übersetzte die Worte in die französische Sprache.

»Was wollen Sie, mein Herr Doktor? Jeder auf seine Art.«

»Ich habe nun die Ehre, mich zu empfehlen, Herr Oberst.«

»Sie sind ein guter Schachspieler, mein Herr,« sagte der Franzose und hielt ihm die Hand hin. »Man wird die Schutzwache nicht von Ihrem Hause nehmen, solange wir hier sind. Und Sie sind nicht nur ein guter Spieler – die Tapferkeit grüßt die Tapferkeit.«

Der Arzt nahm die Hand nicht. Und er bedankte sich nicht für die Schutzwache. Er schüttelte nur den Kopf und sagte: »Ich bin getröstet, mein Herr Oberst. Ihre Soldaten mögen fürchterlich sein – aber Sie kommen mit ihnen nicht weit.«

Gleichmütig antwortete der Offizier der französischen Republik: »Bestien sind's, aber sie schlagen sich gut.«

*

Der Doktor schlich nahe an den Häusern um den stinkenden Marktplatz. Er schämte sich der allgemeinen Schmach.

Als er die Freitreppe an seinem Hause emporstieg, tönte aus dem Fenster zur Rechten wilder Gesang trunkener Männer.

105 Er sperrte auf.

Aus der offenen Türe des Zimmers schrieen sie ihm entgegen, was er wolle. Und einer kam auf die Schwelle, schwankte, hielt sich am Pfosten und rief auf welsch, er solle hinaus, dies Haus werde von ihnen bewacht.

Mit verhaltener Stimme erklärte der Arzt, er sei hier der Hausherr. Aber der Franzose zog den Säbel und vertrat ihm den Weg.

Da schrie einer aus der Stube, er wisse, daß der Mann recht habe, und ein anderer schrie, der Doktor solle hereinkommen und mit ihnen trinken. Und sie streckten ihm die Gläser entgegen. Da mußte er hinein und einem jeden Bescheid tun. Sie lachten und schlugen ihn auf die Schulter, schrieen wirr durcheinander und verlangten Wein, immer noch mehr Wein.

In der Küche saß der Knecht und machte ein jämmerliches Gesicht. »Ich täte ihnen schon Wein holen, aber die Klara hat die Kellerschlüssel.«

»Wo sind die Frauen?«

»Haben sich eingesperrt in der Gaststube droben.«

»So komm!«

Er sprang die Treppe empor. Er pochte: »Liebste, ich bin's, mach auf!«

Schritte näherten sich der Türe. Aber eine angstvolle Stimme rief: »Nicht aufmachen, Klara!«

»Frau Doktor, der Herr ist's.«

Zaghafte Schritte kamen ganz nahe an die Türe.

»Ich bin's, mach doch auf!«

»Ich glaub' nun fast, er ist's.« Sie schob den Riegel zurück und öffnete einen Spalt.

»Aber Liebste!« Ungeduldig drängte er sich in die Stube.

»O gelt, Hermann, jetzt bleibst du immer bei uns?« Sie umklammerte ihn.

106 »Du Arme, ich war ja wie ein Gefangener.«

Sie schluchzte, sie bebte am ganzen Leibe: »Gottlob, sie haben dir doch nichts getan!«

Liebkosend strich er über ihren Scheitel: »Die Franzosen haben euch hoffentlich nicht geängstigt?« Er wandte sich gegen das Fenster, wo die Magd stand.

Klara kam heran. »Nicht, gar nicht, Herr Doktor. Aber die Frau hat sich so sehr vor dem Singen gefürchtet.«

»Wenn sie nichts Böseres täten, Liebste!« Der Arzt beugte sich zu seinem Weibe hinab.

»Ach, wenn ich die Klara nicht gehabt hätte –,« flüsterte sie. »Du, vor der hab' ich Respekt!«

»Ich bleib' immer bei Ihnen, Frau Doktor,« tröstete die Magd.

»Draußen steht der Knecht, gib ihm den Schlüssel, Klara; die Soldaten wollen Wein.«

Sie flüsterte: »Ich trau' ihm nicht, Herr Doktor. Ich will selber in den Keller gehen.«

»Nein, du gehst mir nicht allein im Hause umher.«

»Aber ich trau' ihm nicht.«

»Gib ihm den Schlüssel, ich will es.«

Der Doktor hatte seine Frau an einen Stuhl geleitet. Da saß sie nun, ließ die Arme schlaff herabhängen und sah unter halbgeschlossenen Augenlidern vor sich hin: »Weiß wohl – bin schwach – erbärmlich schwach und muß mich schämen. Aber ich fühl's ja doch, das Herz ist's, das Herz hält keinen Schrecken aus.«

Er nahm ihre Rechte und fühlte den Puls.

Eifrig flüsterte die Magd auf der andern Seite: »Aber wir sind ja bei Ihnen. Da ist der Herr, und da bin ich. Wer sollte Sie denn erschrecken?«

»Geh zur Ruhe, Liebste,« sagte er und trat an das eine von den beiden Betten.

107 »Bleibst du jetzt auch ganz gewiß bei uns?« flüsterte die Frau.

»Gewiß, wenn man mich nicht zu einem Kranken ruft.«

Er stand vor dem Bette. Da lagen seine Knaben nebeneinander und schliefen. Sie hatten rote Wangen, und ihre Mündlein waren halb geöffnet. Sie atmeten tief und ruhig. Er stand und sah mit feuchten Augen auf die zarten Kinder herab. Hinter ihm tröstete die Magd leise an seiner Frau. Da faltete er die Hände.

Die Magd war auf die Knie gesunken und streichelte die Hände der Frau. Die Hände der Frau waren schmal und weiß, die Hände der Magd stark und rot und rauh.

Und aus weiter Ferne kroch an die beiden Frauen das Unheil heran. Die eine saß mit geschlossenen Augen, ihre feinen Nasenflügel zitterten, es war, als witterte sie das Kommende, und lang ehe es kam, war sie zusammengebrochen. Die andere aber sah mit hellen Augen auf das Nächstliegende und hatte keine Zeit, sich vor dem, was etwa kommen konnte, zu fürchten. Während sie tröstete, bedachte sie, daß der Herr wohl noch etwas zu essen wünsche. Und sie erhob sich.

Er ließ sie nicht allein auf die Stiege und schloß die Frau und die Kinder ein.

Oben an der Stiege blieb sie stehen und sah mit großen Augen zu ihm empor: »O Herr, wie bin ich froh, daß Sie da sind!«

»Du sollst dich nicht fürchten, Klara.«

Trotzig schüttelte sie den Kopf. »Fürchten? O nein. Aber es graut mir. Da drunten ist ein Soldat, größer um einen Kopf als Sie, und vor dem, jawohl, vor dem graut mir.« Sie hatte es geflüstert. Und nun ging sie voran. Er antwortete nur das eine: »Jetzt bin ich im Hause.«

Sie trug das Licht und schützte die Flamme. Als sie die 108 Kammer neben der Küche aufsperrte, hielt er das Licht, und sie brachte Brot heraus. Mehr war nicht vorhanden. Dann gingen sie beide zurück.

Aus dem Zimmer zu ebener Erde tönte Gesang. Aber es waren nur noch zwei Stimmen, die ein schwermütiges Lied sangen.

»Bring nun die Frau zu Bett,« befahl der Arzt. »Ich wache im Zimmer nebenan.«

»Die arme Frau,« murmelte sie.

Und aufrecht ging sie dem Unheil entgegen. Ihr graute, aber sie sparte unbewußt ihre Kraft. Und sie blieb stark, das Unheil zu überwinden.

*

Schneider Koram gehörte zu den wenigen, die mit den Ereignissen zufrieden waren. Er hatte in seine zwei Stuben nur einen einzigen Soldaten bekommen. Der litt an Fieber und lag still im Bette, starrte mit glänzenden Augen an die Decke empor und lispelte sein merci madame, wenn ihm die mitleidige Schneiderin einen labenden Trunk reichte. Der Schneider selbst kam den ganzen Tag nicht heim. Und bis spät in die Nacht hinein sah man seine rote Mütze auf dem Marktplatze. Ja, er und noch drei von den Bürgern tanzten im Knäuel der Fremden um die blaue Flamme des höchsten Wesens und berauschten sich mit dem Branntwein, den man hernach in irdenen Schüsseln kreisen ließ am qualmenden Feuer. Spät erst fand er sein Haus. Lallend blieb er mitten in der Stube stehen. Sein Weib deutete auf zwei Strohsäcke, die im Winkel lagen, und murrte: »So leg dich halt hin und schlaf ihn aus.«

Aber Koram wollte noch nicht zur Ruhe gehen. Er nahm seine Mütze vom Kopfe, schwenkte sie, torkelte von einem Fuß auf den andern und stieß zornig heraus: »Es ist schändlich, genau weiß ich's jetzt. Lug und Trug ist's, was sie uns 109 gelehrt haben von Kindesbeinen an – nix ist es mit unserer ganzen Religion.«

»Da kannst du recht haben,« meinte die Koramin.

»Gelt, du sagst's auch! Ganz genau hab ich's jetzt erfahren. Da ist einer dabei, ein Pfälzer, der hat mir alles haarklein bewiesen. Mich soll aber noch einer von den Pfaffen in der Kirche sehen – gar nix ist's mit unserer ganzen Religion –«

»Mit deiner Religion, da hast du recht Koram,« bestätigte sie. »Aber jetzt schlaf!«

Er sah sie mißtrauisch an, als besänne er sich. Dann aber murrte er. Es war ihm nicht recht, daß sie ihm so beistimmte. »Von meiner Religion ist da gar keine Rede, daß du's weißt. Von der ganzen Pfaffenreligion, vom Grafen seiner und von der Gräfin ihrer und von deiner eigenen Religion.«

»Leg dich nur schlafen!« rief sie und stellte das schwelende Licht auf den Tisch.

»Ich muß aber doch noch die Hosen zusammenrichten.«

»Welche Hosen?«

»No, die vom Stelz Hannes und die vom Schmied Görg und – und – und –«

»Das hat morgen auch noch Zeit; die werden s' heut nimmer brauchen.«

»Ach die!« Er torkelte brummend gegen den Schneidertisch. »Die brauchen s' freilich nicht. Rekeriert sind s'– verstehst mich?«

»Ei, du wirst aber doch nicht die guten, geflickten Hosen –?« Sie schlug die Hände zusammen.

»Gegen bare Bezahlung –!« lallte er.

»Du wirst aber doch an deinen Kunden nicht zum Dieb werden wollen, Koram?«

»Ach was – gegen bare Bezahlung!« Er wurde nun sehr zornig und torkelte auf sie zu. »Wo sind die Hosen?«

110 »Geh schlafen!«

»Auf – der Stell – gibst mir die Hosen oder ich schlag alles kurz und klein.«

Da erschrak die Frau, denn so hatte er schon öfter im Rausche gehandelt. Und sie ging hinaus in die Schlafkammer und holte die Hosen unter der Bettlade des Franzosen hervor.

Koram hatte sich auf den Tisch gesetzt und murmelte vor sich hin. Die Frau kam und legte die Hosen neben ihn. Da griff er zu und begann zu zählen – von eins bis fünfe.

»Sechs Hosen sind's gewesen.«

»Koram, die eine, die ist ja noch so gut wie neu – die vom Herrn Dekan.«

»Grad die will ich. Gibst sie gleich 'raus?«

»Sie gehört dir aber nicht.«

Da nahm er den irdenen Krug vom Tisch und warf ihn mitten in die Stube. »Gibst sie jetzt 'raus, die Hos'?«

Zitternd brachte sie die sechste Hose, die gute schwarze Hose des hochwürdigen Herrn Dekan. Und nun torkelte Koram mit den sechs Hosen im Arm zum Strohsack und sank darauf. Das Weib aber suchte die Scherben zusammen.

*

Nacht war's. Die Feuer auf dem Marktplatz waren in Asche gesunken.

Kein Sternlein leuchtete. Nur lautlose Blitze flammten. Aber es kam zu keinem Gewitter, kein Regen löschte den Staub der Straße.

Wie ein vielhundertfaches Raubtier lag der Feind auf dem Städtlein. Fest saßen die Dächer auf den Häusern, die hohen Schindeldächer auf den alten Häusern, und die Stuben und Kammern waren umschlossen von Wänden und Dielen und Decken. So hörte man nicht viel voneinander. Und das war gut. Konnte sich doch kein Bürger um den andern 111 bekümmern; hatte ein jeder genug zu tragen an eigener Last. Zuweilen drang freilich aus einem dunklen Hause ein dumpfer Schrei. Die Nachbarn hörten ihn. Aber wer getraute sich, dem andern über die Straße zu Hilfe zu kommen? Zu Hilfe? Wer konnte überhaupt helfen in jener lichtlosen Nacht? Die Brüder aus Westen saßen unter den Schindeldächern der deutschen Stadt, und die Brüder aus Westen waren die Herren. –

In seinem Lehnstuhle ruhte der Arzt. Er wollte wachen die ganze Nacht.

Anfangs hörte er noch das Schreien und Lachen der Soldateska, das Stampfen der Rosse. Dann senkte sich allmählich die Ruhe herab aus der Tiefe der unermeßlichen Wälder. Da wurden seine Lider schwer, und sein Haupt sank auf die Brust. Etliche Male fuhr er noch auf und lauschte. Dann begann er zu schlafen.

Ein Uhr schlug's. Da wachte er auf, und das Bild seiner Frau stand in rührender Hilflosigkeit vor seiner Seele. Sehnsucht, sie leise zu küssen, ergriff ihn. Aber das war ja nicht möglich; denn die Magd schlief in der Kammer der Frau. Da stand er auf, schlich an die Verbindungstüre und lauschte. Tiefe Atemzüge der Schlafenden klangen durcheinander. Auf den Fußspitzen kam er an seinen Lehnstuhl zurück.

Mit gefalteten Händen saß er und starrte ins Dunkle.

Und es war ihm, als sollte er sich winden in dumpfer Sehnsucht nach einem Schutzherrn. Doch wer war dieser Herr? Wo war dieser Herr? Das wußte er nicht. Er selbst erinnerte sich keines solchen Herrn, seine Eltern hatten ihm auch von keinem erzählt. Aber andere Stämme, andere Völker hatten solche Herren gehabt; aus der Vergangenheit seines eigenen Volkes tönte verworrene Kunde von solchen Herren – in der Tiefe der Geschichte flammte manch ein scharfes Schwert, funkelte manch eine Königskrone, ganz von ferne strahlten 112 sie, gleichwie aus leise zitternden Märchen, herein in eine armselige Gegenwart.

So träumte dieser Deutsche mit brennenden Augen. So sehnte er sich. Er, der gestern noch die ganze Welt in träumender Sehnsucht umfangen zu müssen – gewähnt hatte.

Und es ist gewißlich wahr – solche Nächte der Angst haben in zahllose deutsche Herzen die Samenkörner gestreut, die kleinen Samenkörner, aus denen hernachmals die tausend und abertausend mannhaften Gedanken emporwuchsen und der hochauflodernde Wille zur Einheit. –

Gegen das Ende der schrecklichen Nacht sank er wieder in Schlaf. Und Zeit seines Lebens gedachte er des Traumes, den er nun sah:

Es war etwas Wüstes geschehen. Er, er allein hatte Kunde davon; denn alle die andern schliefen. Und siehe, er war Student und lag in seiner Stube. Er hatte die hohen, weiten Stiefel an den Beinen, und in der Rechten hielt er den blanken Hieber. Und es war ihm, als läge er mit vielen Schnüren an den Fußboden gefesselt. Aber die Gefahr kam näher, und er mußte empor; denn er allein kannte die Gefahr. Er zerrte an seinen Banden, und sie gaben nach. Er sprang auf und rannte die Treppen hinunter, hinaus in die stille Gasse. Er schwang den Hieber und rief mit gellender Stimme: »Burschen heraus! Burschen heraus!« Er sprang und schrie von Gasse zu Gasse und hörte es wohl, hinter ihm rannten sie aus allen Häusern, schwangen ihre Hieber und schrieen gleich ihm: »Burschen heraus! Burschen heraus!« Und er sprang und schrie vor ihnen her. Dann standen sie alle auf dem Marktplatze vor der Universität. Fackeln glühten, Musik spielte. Sie standen im weiten Kreise, und wie Meeresbranden tönte ihr Gesang zum sternfunkelnden Himmel empor. – Aber wie seltsam, es war nicht das Gaudeamus, das sie sangen, sondern der alte Choral: Nun danket alle Gott –!

113 Er fuhr auf und rieb sich die Augen, er dachte nach und fand sich wieder zurecht. Über dem Rathause war der Himmel blutrot gefärbt, und eine Trompete weckte mit Schmettern die Schläfer. Der Tag begann.

Der Traum versank hinter dem Erwachten. Aber seine Augen blickten zornig hinab auf den Marktplatz, wo sich die kleinen, wüsten Kerle vom Lager erhoben und mit den Fingern das Stroh aus den Haaren kämmten, wo die Pferde mit gesenkten Köpfen reihenweise standen. Und es klang ihm in die Ohren der uralte Kampfruf der Studenten – Burschen heraus! Der Ruf des Bedrängten, dem jeder folgte, wenn er kein Feigling war, wenn er nicht verscherzen wollte die Freuden des gemeinsamen Lebens. Und wie träumend wiederholte er halblaut den Ruf, und von fernher klang aus den tiefer gelegenen Gassen der Ruf der französischen Trompete zur Antwort. 114

 


 


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