August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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5. Bunte Lampen

In die Dämmerung des warmen Abends hinaus klang die türkische Musik, und allüberall in dem großen Wirtsgarten tanzte die Jugend – man tanzte auf dem Holzpodium, das viel zu klein war, man tanzte im Gartensaal, man tanzte auf dem geschorenen Rasen. Unter den Bäumen aber, an den grüngestrichenen Tischen, saßen die Professoren und Beamten und die vornehmeren Bürger mit ihren Frauen, saßen alle, die sich zum Stande der Honoratioren rechnen durften, und halfen, den Franken das Fest ihres Jahrtages feiern.

Brocken sprang vom Podium, wandte sich zu dem weißgekleideten Mädchen, das noch droben stand, und streckte sich ihr entgegen. Und mit Lachen sank sie in seine geöffneten Arme.

Behutsam stellte er die zierliche Blondine auf den Kies. Da blickte sie ihn schmachtend an, von unten herauf, mit geöffneten Lippen; und ihre Zähne blitzten – kleine, spitzige Zähne. Wohlgefällig sah der lange, dürre Brocken auf sie herab. Da hob sie den Arm empor und flüsterte kichernd ein paar Worte. Er verbeugte sich und lächelte boshaft: »Leider nicht zu bewerkstelligen.« Sie schmiegte sich zutraulich an ihn, und er führte sie zu den Ihrigen, verneigte sich und schlenderte den Baumgang hinauf.

Aus dem Gartensaale kam Gerhard mit Konstanze Töbing. Sie hatte die Hand leicht auf seinen Arm gelegt und blickte nachdenklich vor sich hin.

»Es ist sehr gewagt, Herr Frey, und ich sehe nicht ein, warum wir so Auffälliges unternehmen sollen.«

»Auffälliges?« flüsterte er. »In einer halben Stunde ist's dunkel, und wir begegnen uns droben hinter dem 392 Garten zwischen den Feldern. Das Korn steht hoch. Ich flehe Sie an. Sie werden mir's nicht verweigern. Sie können nicht so grausam sein. Ich muß zur Klarheit kommen.«

»Zur Klarheit?« wiederholte sie und senkte das Haupt tiefer. »So will ich's tun. In einer halben Stunde zwischen den Kornfeldern.«

»O dann wird alles, alles gut!«

Sie blickte ihn traurig an und schüttelte den Kopf. »Bringen Sie mich zu meinem Vater – und geben Sie sich keiner Täuschung hin!«


Der Brandfuchs hatte seine Tänzerin an ihren Tisch geführt und ging nun auch den Baumgang hinauf. Da schob ihm Brocken den Arm unter: »Na, du machst aber ein vergnügtes Gesicht, Frey! Hast du auch mit so einem gelungenen Besen getanzt?«

»Ich verbitte mir eine solche Bezeichnung meiner Tänzerin!«

»Ja so, pardon, die deine war ja die femme savante Töbing.«

»Auch das verbitte ich mir.«

»Pah, nichts für ungut,« sagte Brocken, rückte seine Mütze aus der Stirn und lachte vor sich hin. »Man sollt's kaum glauben. Heb' ich da vorhin die kleine Anna vom Podium – tanzt übrigens famos, der Käfer – stell' sie auf ihre Beinchen – und weißt du, was sie zu mir sagt?«

»Wie kann ich das wissen?« fragte Gerhard zerstreut.

»Heut is aber doch schrecklich heiß. Da greifen S' 'mal, Herr Baron, wie ich unterm Arm schwitz'!«

Gerhard lächelte flüchtig. »Höre, das möchte ich lieber nicht weiter erzählen.«

»Nicht weiter erzählen, Fuchs? Ei, so zartfühlend bin ich nicht.«

393 »Sie hat sich doch sehr kompromittiert,« meinte Gerhard nachdenklich;»denn wie kann ein Frauenzimmer – –?«

Brocken fiel ihm ins Wort: »Wie kann ein Frauenzimmer die erhabenen Ansichten, die sich ein edler Jüngling vom weiblichen Geschlecht zusammengeleimt hat, so grausam entleimen?«

»Ich begreife dich nicht!« brauste Gerhard auf.

Brocken klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. »Gerhard Frey, ich rate väterlich, gewöhne dir ab, Wesen besonderer Art in jenen langhaarigen, piepsenden Geschöpfen zu verehren. Im Vertrauen: sie essen, sie trinken, sie schnaufen und – sie schwitzen wie wir. Und wenn sie noch dazu so freundlich sind und gestehen's uns, dann müssen wir ihnen wohl glauben. Aber da schau hin, jetzt wird's Licht in der Finsternis.«

Unter den alten Kastanienbäumen glühte eine Papierlaterne nach der andern auf. Hoch empor ins dichte Astwerk erglänzten die Blätter. Die Musik verstummte, die Tänzer und Tänzerinnen wogten paarweise den breiten Weg zwischen den Bänken auf und ab; freundlich blinkten die hellen Kleidchen der Schönen, unternehmend leuchteten die Mützen der Studenten.

»Es ist prachtvoll,« rief Gerhard und sah mit frohen Augen über das festliche Gewimmel. »Wie große, stille Geschöpfe aus einer fremden Welt, diese feierlich glühenden Lampen in unsern stolzen Farben.«

»Buntes Papier, gewaschene Kleider und Komödienspiel in zahllosen Einzelszenen; das Ganze ein Schwindel, aber ein hübscher Schwindel bei gutem Bier – ganz wie unsere Jugend,« erklärte Brocken.

»Wäre mir leid, wenn meine Jugend ein Schwindel wäre,« fuhr Gerhard mit verhaltener Stimme auf. »Mir ist sie Wirklichkeit, wundervolle Wirklichkeit, und ich halte das 394 Leben in der festgeschlossenen Faust wie einen Römer, gefüllt mit goldenem Weine, und schlürfe und schlürfe –!«

»Fuchs, du rasest. Du kannst dich mit der Zeit noch zum Festredner der Gesellschaft entwickeln. Aber so viel weißt du doch auch, daß nirgends mehr geschwindelt wird als im goldenen Wein?«

Von der andern Seite her, dort wo die Heerstraße am Garten vorüberlief, klangen vereinzelte Hochrufe.

»Paß auf, jetzt ist er angefahren,« sagte Brocken und zog den Fuchsen mit sich in den Gang zurück.

Die Paare wandten sich alle nach einer Richtung, die Bänke leerten sich, und alle Welt drängte dem Eingang zu. Gerhard und Brocken ließen sich von den andern treiben und schieben.

»Kein Zweifel, er ist's,« lachte der Bursch.

»Jawohl, er hat Wort gehalten,« rief ein anderer.

»Wer denn nur?« fragte Gerhard ärgerlich und drängte sich seitwärts aus dem Strome heraus.

»Recht hast du, Frey, wir können ihn hier abwarten. Aber du da, he, Bierlupf, so ist's fein nicht gemeint –!«

Brocken war mit ein paar Schritten am nächsten Tisch und packte den ungeschlachten Menschen, der soeben ein halbgefülltes Glas an den Mund führte. »Säuft der Mann die fremden Gläser aus, und die Leute kommen doch wieder! Da, Bierlupf –,« er griff in die Tasche und zog den Beutel – »da hast du einen Zwölfer, und der Fuchs gibt dir auch einen – vorwärts Frey! Und merk dir's, Bierlupf, üb immer Treu und Redlichkeit bis in den Straßengraben, und siehst du wo ein volles Glas, du mußt es nicht gleich haben.«

»O, vielen Dank,« sagte der Verbummelte, nahm das Geld und streckte dem Fuchsen die flache Hand entgegen.

Der legte ein großes Geldstück darauf und wandte sich ab. »Ekelhaft,« sagte er halblaut.

395 Da fühlte er eine schwere Hand auf seiner Schulter, und als er herumfuhr, sah er über sich das breite Gesicht des Bierlupf, sah zwei traurige Augen auf sich gerichtet und hörte seine tiefe, heisere Stimme: »Ist freilich ekelhaft, mein Bruder, da hast du recht.«

»Pardon!« murmelte Gerhard.

Aber noch schwerer legte sich die Hand auf seine Schulter: »Nichts pardon; es ist so ekelhaft, daß man's ohne das liebe Bier gar nimmer zu tragen vermöchte. Denn es ist vorzeiten anders gewesen, und wenn man daran denkt, dann – hilft oft nicht einmal mehr das liebe Bier, dann muß 'was Stärkeres her. Aber zu dem allen gehört das liebe Geld. Und da hapert's zuweilen.«

Dem Brandfuchsen war es zu Mute, als sollte er nun dem armen Menschen etwas sagen, etwas Freundliches, Tröstliches. Es fiel ihm nichts ein. Der Bierlupf aber wandte, sich ab und schlich seitwärts zwischen das Gesträuche, wo da und dort vereinzelt ein rundes Tischlein stand.

Brocken war ein paar Schritte nach vorn gegangen. Nun kam er zurück. »Wahrhaftig, er ist's. Na, heute kannst du noch etwas hören, Fuchs. Denn das sag' ich dir, der ist mit einer Rede geladen, und wenn er sie nicht auf dem natürlichen Wege von sich geben kann, dann muß er elendiglich platzen.«

»Aber wer denn?«

»Wer denn? Wenn ich eine gewaltige Rede ankündige –? Da schau dir ihn an, da wälzt er sich her, umringt von den Burschen wie ein römischer Triumphator von seinen Trabanten. Schau ihn genau an, das Vorbild eines Burschen aus alter Zeit, den berühmtesten Fechter versunkener Generationen, den gewaltigsten Trinker, den unbesiegbaren Herzenbrecher – jetzt nebenbei auch Rechtsverrenker, Agent und Hofrat dreier standesherrlicher Häuser.«

396 »Alzibiades?« fragte der Fuchs.

»Hoch Alzibiades!« schrie nun Brocken und schwenkte seine Mütze.

»Hoch die Gesellschaft!« rief der Mann mit dem stattlichen Bauche und dem rosigen, glatten Gesichte zwischen den steif emporstehenden Spitzen seines Vatermörders heraus.

»Hoch die Gesellschaft!« brüllten die Burschen, und die Mädchen piepsten darein.

Und wieder schrie der berühmteste Bursche aus alter Zeit mit seinem gewaltigen Basse: »Nun wollen wir aber vergnügt sein, Kinder! Habt ihr nicht einen Schluck Bier?«

Ein Dutzend Krüge streckten sich ihm entgegen, und jubelnd riefen sie ringsumher: »Prosit!«

Da flüsterte Brocken dem Fuchsen ins Ohr: »Schade um seine Zähne. Die untere Reihe hat er nun wahrhaftig schon herausgeschrieen. Sic transit gloria mundi.«

*

Gerhard stahl sich aus dem Gedränge und ging zwischen starkduftenden Jasminbüschen auf schmalem Wege. An einem runden Tische saß der Bierlupf. Einen Augenblick hielt der Fuchs an. Es war ihm, als müßte er hinübergehen. Aber nein – er hatte keine Zeit. Noch einen scheuen Blick warf er auf den einsamen Menschen, der regungslos dasaß, sich auf die Ellbogen stützte, die Fäuste an die Ohren gepreßt hielt und vor sich hin stierte. Dann schritt er vorbei.

Er trat aus dem Garten ins Freie. Es war dunkel geworden; aber am wolkenlosen Himmel funkelten die Sterne. Er atmete tief auf und ging den schmalen Rain entlang zwischen den Feldern. Zu seiner Rechten und Linken stand das hohe Korn, und er atmete den Duft seiner Blüte. Es war ihm auf einmal elend zu Mute, und er wußte doch nicht recht, warum. Er hatte die große Entscheidung heraufbeschworen, und nun war ihm angst, daß er bebte.

397 Die traurigen Augen des Bierlupf –? Pah, der Bierlupf war ein verkommener Kerl. Man gab ihm zuweilen einen Sechser. Doch was kümmerten einen die traurigen Augen des Bierlupf?

Er wandte sich und atmete tief, er ließ die Ähren zwischen den Fingern hindurchgleiten und streifte ihre Blüten ab. Unter ihm dehnte sich der Garten. Zwischen den Bäumen hervor blinkten hier und dort die roten und gelben Laternen. Gedämpft klang die Musik herauf.

Aus dem Tale, von den Niederungen des Flusses herüber, tönte unablässig das Quaken der Frösche durch die laue Frühlingsnacht – genau so, wie es vor Jahren aus dem Tale über den Garten des Vaterhauses in die Stube des Knaben getönt hatte.

Er kreuzte die Arme und gedachte der letzten Worte seines Mädchens. Und es kam über ihn die unendliche Traurigkeit, die sich zuweilen auf uns herabsenkt, wenn die ewigen Sterne das winzige Stück Endlichkeit, unser Leben genannt, mit ihrem Glanze mitleidig übergießen, wenn der Duft erdentsproßter Blüten hinzieht über die nächtliche Erde wie ein Hauch der Vergänglichkeit, und wenn sich in eintönigen, dem Ohre unverständlichen Stimmen die Sehnsucht der Kreatur kundgibt, die Sehnsucht, die so wenig gestillt wird wie das tiefste Sehnen des pochenden Menschenherzens.

Dann aber schüttelte er sich und warf den Kopf zurück. Er hatte keine Ursache zur Traurigkeit; denn da kam Konstanze mit raschen Schritten heran zwischen dem blühenden Korn.

»Nur auf einen Augenblick, Herr Frey. Und nur um der Klarheit willen!«

»Die Liebe ist ein seliges Trinken ohne Aufhören, und ist doch gar kein Durst mehr vorhanden!« Er stieß es leidenschaftlich heraus und wandte seinen Blick nicht von ihrem schönen, blassen Antlitz.

398 Sie hob die verschlungenen Hände ein wenig, ließ sie wieder sinken und lächelte wehmütig: »Liebe ist Sorge und Angst, und wäre sie dabei nicht, ach, so bittersüß, sie wäre oft nicht zu ertragen.«

Es ging ein froher Schimmer über sein Gesicht: »Teure Demoiselle, Ihre Worte fachen die Hoffnung mächtig an; ich glaube sie zu verstehen. Aber seien Sie überzeugt, es wird sich alles zum Guten kehren, wenn ich auch noch jung und unbedeutend bin.«

»O könnte ich Ihnen die Enttäuschung ersparen!« Sie wandte das Haupt und pflückte eine Ähre.

»Wenn aber zwei Menschen die Liebe so ernst nehmen wie wir, dann muß es gelingen, Demoiselle.«

Sie ließ die Ähre fallen und verschlang ihre Hände unter der Brust. »Herr Frey!« Ihre Stimme klang angstvoll. »Es täte mir von Herzen leid, wenn ich Ihnen trotz aller Vorsicht falsche Hoffnungen erweckt hätte.«

»Sie haben von der Liebe gesprochen wie von einer guten Vertrauten,« rief er fröhlich. »Sie kennen die Liebe – also sagen Sie nur ein Wort, nur noch ein kleines Wort, und ich will als ein glückseliger Mann meinen Weg weitergehen mit der Hoffnung im Herzen.« Er ballte die Hände. »Dies eine Wort wird mich zum Riesen machen. Ich werde arbeiten für uns beide, ich werde nichts mehr denken als das Ziel. Sie haben's in der Hand, Sie können mich hoch emporheben über alle Gemeinheit des Lebens. Sie können der Engel werden, der alles, was gut ist in mir, befestigt –«

»Hören Sie auf, Herr Frey!« Sie hob flehend die Hände. »Sünde ist's, wenn ich Sie nur anhöre.«

»Sünde, wo ich mit dem Engel meines Daseins rede?«

»Sünde!« wiederholte sie klagend.

Er tastete nach ihrer Hand, aber sie wich angstvoll zurück.

»Sie haben Macht über mich und mein Leben, liebe 399 Demoiselle. Sagen Sie das eine Wort und beginnen Sie die unumschränkte Herrschaft. Wenn Sie mich aber umsonst bitten lassen –«

»Herr Frey, um Gotteswillen, wodurch habe ich diesen Ausbruch der Leidenschaft verschuldet?«

»Womit du das verschuldet hast?« Seine Stimme klang heiser. »Weil mich deine wundervollen Augen verfolgen im Wachen und im Traum, weil ich deiner Stimme holden Klang höre, wo ich bin und stehe, weil ich unter all den Hunderten nur dich sehe, ahne, fühle, hoffe –«

»Halten Sie ein! O, dürfte ich reden! Ein einziges Wort müßte Sie zum Verstummen bringen.«

»Ich verstumme nicht. Dein stolzes, freies, deutsches Wesen hat's mir angetan, dein süßer Mund, von dem die klugen, guten Worte perlen, und die Zuneigung, die ich in der Tiefe deines Blickes habe glimmen sehen von Anfang an.«

»Herr Frey, Sie erschüttern mein Gemüte, Sie zerreißen mir das Herz, Sie rühren ahnungslos an ein Geheimnis, das uns beide allerdings enge verbindet, aber ganz anders als Sie wähnen. Ich wiederhole, es ist Sünde, wenn ich Sie auch nur noch anhöre, und Sie selber begehen unbewußt das größte Unrecht.«

»Dann gibt es nur eine Möglichkeit, Demoiselle: Sie haben Ihr Herz einem andern geschenkt. Aber nein –!« Er lachte fröhlich auf. »Das ist ja nicht möglich. Kenne ich Sie nun nicht schon ein halbes Jahr lang und weiß ich nicht ganz genau, wer im Hause Ihres Vaters verkehrt? Und ich wüßte keinen, gegen den Sie so freundlich wären wie gegen mich.«

»Ahnungsloser Mann!« Sie begann zu weinen; leise, mit halb unterdrücktem Schluchzen.

»Glücklich, wer weinen kann!« rief er zornig. »Mir graut. Eine unglückliche Liebe? Demoiselle, dazu bin ich nicht geschaffen. Verschmäht – verworfen – –?«

400 »O, wie können Sie das harte Wort sagen?«

»Verworfen, Demoiselle, und ausgeschlossen von allem Guten –. Wissen Sie, daß es hienieden keinen leeren Raum gibt? Das ist ein Gesetz der Natur.« Er hielt inne. Dann sagte er langsam, jedes Wort betonend: »Und wenn die Engel das Feld räumen, dann beginnen die Teufel zu tanzen.«

»Herr Frey!« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sah ihn flehend an. »Ich beschwöre Sie. Wir stehen allerdings in einem nahen Verhältnis, aber es ist anders, als Sie denken –«

»Freundschaft!« sagte er verächtlich.

Sie schüttelte traurig das Haupt und zog die Hand zurück. »O dürfte ich Sie in dieses Herz blicken lassen, die reinsten, die selbstlosesten Gefühle könnten Sie darinnen entdecken. Aber mein Herz muß verschlossen bleiben wie mein Mund, ich – ich besitze den Schlüssel nicht mehr.«

»So ist's also doch ein anderer? O, wie ich ihn hasse. O, wenn ich ihn da hätte – diesen meinen Todfeind!«

»Wehe!« Sie rang die Hände und sagte zum zweiten Male: »Wehe!«

»Werde ich denn jemals einer Lösung des Rätsels gewürdigt werden?« fragte er nach einer Weile höhnisch.

»Vielleicht schon in den nächsten Tagen,« antwortete sie mit Festigkeit. »Ich aber bin zum Tode betrübt.«

»Und ich stehe wie ein Knabe vor der verschlossenen Weihnachtstüre.«

»O, Herr Frey, ich bitte Sie demütig, beugen Sie sich unter das Unabänderliche!«

»Das Licht vom Weihnachtsbaum funkelt mir aus dem Schlüsselloch ins Auge. Aber es ist ein böses Licht, und die Augen tun mir weh. Denn ich bin ausgeschlossen. Darf ich Ihnen meinen Arm reichen?«

401 »Ich will nun leise, ganz allein zurück und meinen Vater bitten, daß wir das Fest verlassen. O Gott, Herr Frey!«

Er verneigte sich und sagte halblaut: »Ich aber will trinken –.«


Sie war längst zwischen dem Korn verschwunden. Er stand noch immer da und regte sich nicht. Plötzlich aber warf er sich der Länge nach auf den Weg und raufte mit beiden Händen büschelweise die Ähren.

Die blühenden Ähren dufteten wie vorher, die Frösche lärmten wie vorher im Tale, und die Sternlein funkelten noch heller als vorher vom unergründlichen Himmel hernieder.

Er sprang auf und stampfte. Dann sagte er ganz laut: ›Klein kriegen lass' ich mich nicht. Und merken soll mir keiner 'was!‹


Als er in den Garten zurückkam, sah er die Menge der Festgenossen dichtgedrängt unter dem Podium stehen und einem Redner lauschen.

Auf den Fußspitzen ging er an den Menschenwall heran und stellte sich neben Brocken. Mit weithin schallender Stimme sprach der berühmte Fechter aus alter Zeit, der Agent dreier standesherrlicher Häuser, genannt Alzibiades:

»Was also ist unsere Gesellschaft? Ich will's Euch künden: Ein goldener Ring, an dem drei Diamanten funkeln. Und wie heißen diese Diamanten? Freundschaft, Tapferkeit, Tugend.«

Er hielt inne und blickte mit rollenden Augen umher. Da und dort tönten Bravorufe zu ihm empor.

Er streckte die Hände vor sich und bewegte die Handflächen von unten herauf gegeneinander, als wollte er einen großen Knödel formen, und mit dröhnender Stimme, als säße er in einem Fasse, wiederholte er: »Freundschaft!« 402 Und dabei klappte er die Hände zusammen, als wäre der erste Knödel fertig und gar, und brüllte, als spräche er auf einen schisserigen Renoncen ein, »Tapferkeit!«, formte den zweiten Knödel, brummte weithin vernehmlich »Tugend« und formte den dritten Knödel. Dann schöpfte er Atem und fuhr fort: »Freundschaft – wir stehen alle für einen und einer für alle, und ist, als hätten wir uns alle untergefaßt und zögen in tiefen Reihen, einer gestützt vom andern, einer des andern Stütze, die steile Straße des Lebens hinauf, dem Morgenrote froher Taten entgegen.«

»Bravo – bravo – bravo!« schrieen sie ringsumher, und der Redner stand mit herabhängenden Armen und starrte vor sich auf die Bretter, als wollte er nun noch ganz Köstliches aus der Tiefe des Podiums holen. Brocken aber raunte am Ohre des Fuchsen: »Gelt, da schaust?«

»Tapferkeit!« brüllte der Redner, trat mit dem linken Bein zurück und nahm Fechterstellung an. »Es gibt nur eines, wovor der honorige Bursche erbleicht, und das ist die Feigheit. Wir sind alle Tage bereit, für die Ehre unserer Farben unser Blut zu verspritzen, und hätten wir zwanzig Leben, wir gäben sie mit stolzem Lächeln dahin für die Rettung von Gold-rot-gold. Und so wird's bleiben, so lange noch ein honoriger Bursche schwört zu Gold-rot-gold, und wenn der letzte unseres Bundes den Untergang der Welt erlebt, dann wird sein letzter Gedanke nicht seinem Weib, nicht seinen Kindern und nicht dem eigenen Schicksal gehören, sondern einzig und allein den heiligen Farben Gold-rot-gold.«

Der Redner kreuzte die Arme und blickte über die Menge. Hörbar raunte Brocken: »O, da möcht'st doch verrecken!« Aber die unehrerbietige Äußerung wurde verschlungen von hundertstimmigen Bravorufen und wildem Händeklatschen.

»Heute übertrifft er alle seine früheren rhetorischen 403 Leistungen, und das will viel heißen«, sagte ein geistlicher Herr, der vor den beiden im Haufen stand, und warf einen unwilligen Blick rückwärts auf Brocken.

Der aber sagte ganz laut zu Gerhard: »Paß recht auf, jetzt kommt die Tugend dran!«

Stille war's. Die Lampen glühten, der berühmte Bursche aus alter Zeit hatte die Hände über dem Spitzbauche gefaltet und fuhr in feierlichem Tone fort: »Freundschaft – Tapferkeit – Tugend. Jawohl, Tugend meine Freunde und Brüder. Zwar geht ein gemeines Sprichwort, Jugend habe keine Tugend. Wir aber heben getrost das Haupt und sagen: Als dritter Edelstein am Ringe unserer Gesellschaft funkelt die Tugend. Was für eine Tugend, meine Brüder? Es gibt Mägdleins-Tugend« – die Stimme des hochgräflichen Agenten säuselte wie Äolsharfenklang über die Versammlung – »es gibt Frauentugend« – seine rollenden Augen verdrehten sich nach oben – »und es gibt Mannestugend.« Wie einen Schlachtruf brüllte er das Wort Mannestugend zum zweitenmal hinaus. »Und unsere Gesellschaft ist –«

»Eine Brutstätte jeglicher Mannestugend,« raunte Brocken am Ohr des Fuchsen.

»Unsere Gesellschaft ist, daß ich beim Bilde bleibe, die goldene Fassung alles dessen, was man bezeichnet als Mannestugend. Ihr Mütter, die ihr den geliebten Jüngling mit begreiflichem Zittern und Zagen aus den Armen treubesorgter Zärtlichkeit entlasset, seid getrost, wir nehmen ihn auf in unsern Bund, wir sorgen treulich für sein besseres Ich, wir bilden ihn zum braven Manne, wir pflanzen ihm alle die Tugenden ein, mit denen er im Kampfe des Lebens bestehen, im irdischen Berufe wirken, im Frieden der Häuslichkeit Wärme spenden, mit denen geschmückt er endlich getrost vor den ewigen Richter hintreten und sagen kann –.«

404 Der Redner hob die gefalteten Hände: »Vater, sieh her, da hat nun ein honoriger Bursche all seine Semester durchlaufen und steht an der Grenze der Zeitlichkeit; er hat Freundschaft gehalten mit vielen der Edelsten deiner Geschöpfe, er ist tapfer seinen Weg gegangen, auch den Weg durchs dunkle Todestal; entscheide du, ob seine Mannestugend genügt, und hilf ihm durch sein letztes Examen hinein in die Ewigkeit.«

»Amen!« rief Brocken diesmal ganz laut, so daß sich viele Köpfe nach ihm wandten.

Der berühmte Fechter aus alter Zeit aber schloß seine Rede: »Und so sollen dauern unsere Farben Gold-rot-gold, solange noch bestehen diese drei, Freundschaft, Tapferkeit und Tugend, und sollen also leben festverschlungen hoch – und hoch – und hoch –!«

Tosend fiel die Menge ein, die Burschen schwenkten die Mützen, die Mägdlein und Frauen ließen die Tücher wehen, die Musik spielte einen Tusch. Der Redner aber wischte sich die Stirne mit seinem blauen Taschentuch; denn er war ein Schnupfer.

Brocken wandte sich grinsend zu Gerhard und sprach: »Wenn ich jetzt das Pech hätt' und wär so ein Spießer oder ich wär' in irgendeiner andern Gesellschaft und nicht bei den Franken – wer weiß, vielleicht hing' ich mich auf wie eine Papierlaterne.«

Da geschah Unerwartetes.

Der berühmte Bursche aus alter Zeit war vom Podium herabgeklettert, stand in der Menge und drückte die vielen Hände, die sich ihm entgegenstreckten. Da drängte sich eine große Gestalt durch die Reihen, kletterte schwerfällig auf das Podium, wandte sich, ballte seine Hände, öffnete und schloß keuchend und wortlos die Lippen.

»Der Bierlupf!« schrieen sie da und dort. »Der Bierlupf will auch reden, Silentium für den Bierlupf!«

405 Der verbummelte Student begann. Die ersten Sätze verhallten unverstanden. Dann aber wurde es stille.

»Du hast so schön gesprochen von unserer Jugend, Alzibiades, daß ich nicht schweigen kann. Weiß freilich nicht, ob meine Worte so lieblich duften wie die deinen, du altes Gefäß der Tugend, du Patensohn des großen atheniensischen Biedermannes. Tugend und Jugend – wie schön sich das reimt. Darum, Alzibiades, wollen wir jetzt einmal reden von deiner und von meiner –«

»Schluß, Bierlupf!« rief einer mit mächtiger Stimme hinauf. Es war der Senior. Und etliche diensteifrige Füchse riefen: »Bierlupf, 'runter!«

»Soll ich wirklich 'runter, Alzibiades?«

»Bleib droben, du hast Narrenfreiheit!« antwortete ihm der hochgräfliche Konsulent und lachte gezwungen. Andere schrieen: »Redefreiheit, droben lassen, der Bierlupf soll reden!« Sie lachten und freuten sich des Spaßes, und die Frauenzimmer klatschten in die Hände.

»Paß auf, der Bierlupf schwingt heute seinen moralischen Kater,« raunte Brocken. »Ist nämlich in seinen jungen Jahren auch ein Mordsredner gewesen.«

»Wollen wir uns also unterhalten von unserer Jugend, Alzibiades!« rief der große, dicke Mensch über die Menge hin. Keuchend vor Aufregung stand er ganz vorn am Rande der tannzweigbekränzten Bretter. »Mußt schon erlauben, daß ich meine Jugend neben die deinige hinstelle; denn meine Jugend und deine Jugend sind aus demselben Erdreich gewachsen. Und was hast du nun gesagt, so schön, daß mir's das Wasser in die Augen getrieben hat? Tapferkeit –! Hast recht, wir haben uns wacker gerauft, wir Burschen von damals.«

»Bravo, bravo!« schrieen etliche.

»Aber, Alzibiades, mir dünkt, es ist eine wohlfeile 406 Tapferkeit gewesen, unsere Tapferkeit ist so windig gewesen wie unsere Freundschaft.« Er schüttelte die Fäuste und schrie, daß sich seine Stimme überschlug: »Ihr Väter da drunten, glaubt's doch nicht, ihr Mütter, es ist ja erlogen. Wer hat den andern gestützt, daß er die steile Straße hinaufkam? Keiner. Da ist einer getorkelt, dort ist einer getorkelt, jeder hat an sich gedacht, und nur auf das eine haben wir alle gesehen: jeder hat müssen seinen Weg torkeln als ein honoriger Bursch – vor den Leuten. So sind die Starken durch ihre Semester gekommen. Wenn aber einer schwach war? Alzibiades, wie oft habt ihr mich von meinen Büchern weggepfiffen, wie oft habt ihr all meinen guten Willen im Bier ersäuft! Oft – alle Tage! Und einmal ist's ganz schrecklich gewesen und hat mir den Rest gegeben.«

Der alte Mensch hielt inne, er versuchte, weiterzusprechen, seine Zähne schlugen aufeinander. Und es war stille im Umkreis.

»Meine fromme Mutter war gestorben, mein Vater hatte mich an ihrem Sarge mit aufgehobenen Händen gebeten –«

»Schluß!« rief der Senior.

»Reden lassen!« riefen nun etliche Alte da und dort.

»Er hatte ja recht, und ich gab ihm die Hand und kam vom Grabe zurück ins Semester. Mit einem Koffer voll guter Vorsätze. Und an demselben Abend war's. Da seid ihr gekommen mit vollen Krügen und brennenden Pfeifen und habt das Schloß an meiner Türe gesprengt. Ich dummer Affe ließ mir beifallen und rief euch bittend entgegen: Ich hab's doch meinem Vater versprochen. Da hast du, Alzibiades, das Lied angestimmt, und die andern haben's dir nachgebrüllt:

Was mach der lederne Herr Papa, ci ça Herr Papa?«

Die Stimme des alten Menschen brach, und es klang wie Schluchzen, als er in die lautlose Menge hineinrief: 407

»Er grämt sich fast zu Tod, er grämt sich fast zu Tod,
ci ça fast zu Tod, er grämt sich fast zu Tod.«

Dann aber schüttelte ihn die Wut, er hob die Fäuste gegen den berühmten Burschen von damals und schrie: »Bei uns daheim roch's nach Sargkränzen, und meine Schwestern hatten hohle Wangen, ich aber warf euch nicht aus meiner Bude, o nein, ich sang das Lied mit euch und soff mit euch die ganze Nacht. Und von der Nacht an – hört ihr's, Füchse, Burschen da drunten? – von der Nacht an war's gar aus mit mir. Alles Böse, was ich sah, das tanzte ich nach, ich junger Affe. Also ekelt mir heute vor deinen drei Worten. Wohl waren Wackere unter uns, die Tapferkeit übten und Tugend nicht verloren. Ich aber und der große Haufe, wir haben gesoffen und haben gerauft und haben ein Drittes geübt, das nichts zu tun hat mit Mannestugend, gar nichts. Also klag' ich euch an, ihr Starken. Seid falsche Brüder gewesen, habt uns Schwache fallen lassen unter die Räuber und Mörder unserer Jugend und habt uns liegen lassen wie Priester und Levit.«

»Bierlupf,« rief nun die gewaltige Stimme des Seniors, »du hast reden dürfen, aber du kannst uns das Fest nicht verderben. Hast du jemals schon einen abgesoffenen Studenten gesehen, der sich selber die Schuld gab? Du mußt nicht deine Brüder von damals anklagen, sondern die akademische Freiheit. Wird damals gewesen sein, wie es immer gewesen ist, wie es heute ist und wie es sein wird, so lange in deutschen Landen Hochschulen bestehen. Freiheit ist eine zweischneidige Waffe – der eine haut sich damit eine Gasse ins Leben, dem andern zerschneidet sie die Hand und macht ihn zum Krüppel. Darum und trotzdem, liebe Brüder, die akademische Freiheit soll leben hoch!«

Alle fühlten sich erleichtert, weil sie nun geradehinaus zu schreien verpflichtet waren, und mächtig brausten die 408 Hochrufe unter den buntglühenden Lampen. Und als sie verklungen waren, rief der Senior: »Zwei Füchse holen den Bierlupf herunter und schwemmen ihm die Melancholei aus der Gurgel hinab in den Magen. Musik!«

Die Musikanten setzten mit einer lustigen Weise ein, und mit Schalle sang die Menge den Text.

Der Bierlupf aber stand noch immer droben, ganz vorn über den Tannengewinden. Nicht mehr hochaufgerichtet, sondern zusammengesunken, mit vorgeneigtem Kopfe. Er wischte die hohe Stirn und lächelte verlegen vor sich hin und nickte, als wollte er sagen: ›Ihr habt ja recht.‹ Und er lächelte dem Rudel Füchse entgegen, die ihn mit Geschrei umringten, er lächelte blöde, als sie ihn mit Stampfen hinabzerrten, er setzte sich willig unter die bunten Lampen und begann gierig am Kruge zu saugen.

Auf halb erloschene Glut war ein Blatt Papier gefallen. Da war eine Flamme emporgeschlagen, hatte ein paarmal gezuckt und war furchtsam zurückgekrochen unter die Asche. –

»So, jetzt hast du den einen gehört, Frey,« sagte Brocken, »und hast nicht minder den andern gehört; hast den Avers der Münze und hast auch ihren Revers gesehen. Und mußt dir nun selber beantworten, wer recht hat von den zweien – der sich salviert hat oder der am Wege liegt.«

»Beide!« rief der Fuchs.

»Sehr weise entschieden. Nun aber wollen auch wir weiter torkeln durch unsere Semester, und ich wäre dir dankbar, wenn du mir und dir zu diesem Zwecke frische Krüge besorgen wolltest.«

Gerhard ging zur Schenke. Er kam nahe am Bierlupf vorüber. Einer der Konfüchse stopfte Tabak aus seinem Beutel in die Pfeife des alten Menschen. Der saß mit zufriedenem Gesicht hinter seinem Kruge und guckte dem andern zu. Gerhard ging weiter und kam vorüber an Alzibiades, dem 409 berühmten Burschen aus alter Zeit. Der stand an einen Baum gelehnt und machte ein vergnügtes Gesicht. Ein anderer sprach eifrig auf ihn ein. Da wischte der große Fechter von ehedem mit der Rechten nachlässig durch die Luft, und weil er alles zu schreien gewohnt war, so hörte Gerhard die Worte: »Steht ja schon im ersten Buch Mosis zu lesen. Sollt' ich meines Bruders Hüter sein? Zum Lachen. Das wäre zu viel verlangt von einem lustigen Studenten. Da sieh du doch selbst zu. Steht auch irgendwo in der Bibel, hab' aber die Stelle vergessen.«

Gerhard blieb stehen, und es kam wieder einmal über ihn, daß er reden mußte, ob er nun wollte oder sich sträubte, und mit heller Stimme rief er hinüber: »Das haben die Pharisäer dem Judas gesagt, und dann ging er hin und henkte sich auf.«

Er war selbst erschrocken über seine Frechheit. Einen Augenblick verzerrte sich auch das lustige Gesicht des alten Herrn. Aber schon rief er lachend: »In die Kanne steigen, bibelfester Fuchs, und saufen, bis dir der Nabel glänzt!«


Es ging auf Mitternacht. Die schöne Welt kehrte zu Fuß und zu Wagen ins Städtchen zurück, mancher Bursch und mancher Fuchs schloß sich an. Der Rest der Franken aber ballte sich im Gartensalon zusammen zum Männertrunk.

Sie hatten rote Köpfe, sie schrieen und sangen.

Gerhard saß in einer Ecke und trank und trank. Vergeblich suchte ihn Brocken aufzumuntern. Der Fuchs stierte vor sich hin und trank und trank. Knurrend rückte der Bursche von ihm ab.


Es war lange nach Mitternacht. Da rückte Gerhard wieder zu Brocken und sprach mit lallender Zunge: »Als 410 wir Kinder waren, sangen wir oft ein Lied, das ging also an:

Halli, hallo, mein Schatz ist tot.
Nun bitt' ich alle Bauern,
daß sie mit mir zu Grabe geh'n
und meinen Schatz betrauern.«

»Weiter!« sagte Brocken.

»Ich weiß nimmer weiter,« lallte der Fuchs.

»Aber ich! Höre:

Ein Mägdelein mit zwanzig Jahren,
mit braunen Augen und gelben Haaren,
mit schmalen Lenden und weißen Händen,
mit der ich wollte mein Leben enden –

Halli, hallo, mein Schatz ist tot,
das will ich überwinden.
Ihr dummen Bauern, fragt nicht wie?
Es wird sich finden, finden!«

»Brocken –!«

»Jawohl, ich sah dich zwischen den Feldern mit ihr.«

»Willst du mich verhöhnen?«

Sie blickten sich nahe in die Augen. Da lachte Brocken hell auf: »Jetzt, wo du dich zu meinem Vergnügen häutest wie ein rechtschaffener Salamander? Prosit, Fuchs, sauf's! Jetzt ist der Weg frei. Ewig schade wär's gewesen um dich. Jetzt erst kannst du dein Leben genießen.«

»Und wie geht nun das Lied weiter?« fragte Gerhard und stierte vor sich hin.

»Den Text mußt du selber machen. Die Melodie werd' ich dir besorgen.«

»Brocken, ich sattele um – ich werde Jurist.«

»Umso besser mein Sohn.«


411 Frau Sonne kam über die Waldhügel, die Lerchen jubelten, Gras und Kraut funkelte im Tau; am Flüßlein klangen die Sensen unter dem Wetzstein.

Auf der staubigen Straße zogen die Franken vom Feste heim.

Und es war ja richtig, was der große Fechter aus alter Zeit gesagt hatte. Oder hielten sie sich nicht untergefaßt, einer den andern? Oder stützten nicht die Stärkeren die Schwachen? In tiefen Reihen torkelten sie dahin, hatten die Mützen weit in den Nacken zurückgeschoben, ihre Wangen waren fahl, ihre Augen blickten stier. In tiefen Reihen torkelten sie, aber etliche waren in jeder Reihe, die stramm einherschritten, und diese waren's auch, die den Burschengesang aufrecht hielten. Zwar kollerten die Strophen durcheinander, etliches wurde zwei-, dreimal gesungen, aber im Laufe der Zeit kam doch alles an die Reihe, und es war ein schönes Lied, es war ein tapferes Lied, das da zum blauen Morgenhimmel emporstieg:

Wir sind die Freien, die Franken,
und blinzeln lustig ins Licht;
es kommt uns alles ins Wanken –
nur einzig die Ehre nicht.

Wir quälen uns nimmer mit Fragen,
gibt's Rätsel, wir lassen sie ruh'n,
wir machen die Nächte zu Tagen
und schnarchen in Strümpfen und Schuh'n.

Es rollen wie schäumende Wellen
im lachenden Einerlei
an uns die Tage, die schnellen,
an uns die Semester vorbei.

Wer will, der kommt ja zum Ziele,
wer nicht, der geht halt irr –
es ward uns alles zum Spiele,
zu Tanz und Waffengeklirr. 412

Wir spielen mit unsern Leibern,
wir spielen mit unserer Zeit,
wir spielen mit Würfeln und Weibern
und mit der Ewigkeit.

So stehen unsere Sachen
trotz Tod und jüngstem Gericht;
es ward uns alles zum Lachen –
nur einzig die Ehre nicht.

Gerhard ging mitten in seiner Reihe im Staub der Straße; er ging fest eingehängt in seine Brüder zur Rechten und Linken. Er ging vornübergeneigt; denn die Füße wollten nicht recht mehr gehorchen. Zuweilen sang auch er einen Vers; dann trollte er wieder schweigend dahin.

So kamen sie ans Tor der Stadt und warteten in einem Haufen, lachend und schreiend, bis der Stadtsoldat die Pforte aufschloß. Und sie drängten sich hinein wie eine Herde. Drinnen aber faßten sie sich wieder unter den Armen und zogen in tiefen Reihen, im gleichen Schritt und Tritt, so gut's noch glücken wollte, über das holperige Pflaster.

Und wieder stimmte einer das Lied an und gröhlend fielen die andern ein:

Wir machen die Nächte zu Tagen
und schnarchen in Strümpfen und Schuh'n.

Einer nach dem andern löste sich aus der Schar. Da torkelte einer allein an seine Türe, dort führten sie zu zweit einen dritten in eine Seitengasse.

Als Gerhard vor sein Haus kam, waren's ihrer noch achte.

»Die letzte Strophe!« lallte er. Und die andern brüllten:

So stehen unsere Sachen
trotz Tod und jüngstem Gericht;
es ward uns alles zum Lachen –
nur einzig die Ehre nicht.

413 Gerhard starrte hinauf am Töbing'schen Hause. Da war ihm, als bewegte sich der Vorhang des dritten Fensters, und er glaubte die Hand zu sehen, die das Gewebe ein wenig zur Seite schob. Er riß sich los. Einer der Burschen wollte ihn nicht allein lassen, griff nach seinem Arm und sagte gutmütig: »Komm, Fuchs, ich führ dich gar hinauf.«

Doch abermals riß er sich los und sagte drohend: »Glaubst wohl, ich brauch' dich?«

Und er nahm alle Kraft zusammen und gewann seine Türe.

Singend zogen die andern die Gasse hinunter.

Als er den Schlüssel ansteckte, öffnete sich die Türe von selbst. Fast wäre er über die Schwelle hineingefallen. Und zornig sah er auf die dunkle Frau, die in die Dämmerung zurückgetreten war. »Sie sind's?«

Spöttisch gab sie zurück: »Jawohl, Herr Frey. Aber sind's denn Sie auch?«

»Ich möchte den sehen, der daran zweifelt,« brachte er mühsam heraus.

»Na, gehen Sie nur hinauf!« Sie sagte es in beruhigendem Tone. »Droben wartet einer auf Sie die ganze Nacht.«

»Auf mich?«

Er zog sich am Geländer empor. Da rief eine Stimme von oben herab halblaut seinen Namen.

Er fuhr zusammen und hob den Kopf.

»Du bist's, Karl?«

Er kam empor. Der Bruder schlang die Arme um ihn und wollte ihn küssen. Da wandte Gerhard sein Gesicht ab: »Laß, jetzt nicht, bin ekelhaft, habe entsetzlich gesoffen.«

»O Gerhard, du machst dich unfrei,« sagte der andere und ließ die Arme sinken.

»Willst – du – mich – schulmeistern?«

414 »Beileibe nicht. Aber nun schlafe aus!«

Gerhard polterte gegen die Türe, schwankte durch die Wohnstube, stieß die Türe der Schlafstube auf und sank auf sein Bett.

*

Karl Frey ging zum Pulte zurück, an dem er geschrieben hatte, und tauchte die Feder ein.

Es war stille in der alten Studentenbude. Nebenan atmete der Trunkene tief und schwer. Knirschend zog die Feder übers Papier.


›Ich sehe mit brennenden Augen zurück, meine Ohren sind geöffnet und lauschen dem, was gewesen ist.

›Jahrtausende werden durchsichtig wie Glas; Zufälliges zerflattert wie ein mürbes Gewand.

›In endlosen Scharen ziehen sie empor aus der Tiefe, und in jedes Antlitz hat seine Zeichen gegraben das Leid.

›Meine Ohren horchen hinab – doch da ist kein Jubelton, der mich täuschen könnte; denn es ist noch keiner auf Erden erklungen, der nicht endlich verklungen wäre im Röcheln des Todes.

›Alles vergeht; bleibend ist nur das Leid.

›Sie zeugen Kindlein, und aus ihren Kehlen preßt den ersten Schrei das Leid.

›Es wird klein geboren mit den Kleinen, es wächst mit den Wachsenden, es ist groß mit den Großen.

›Es kommt und geht und kommt; denn es hat ein Ewiggeld ruhen auf der Hütte deines Leibes.

›Bald liegt es als großer Stein vor deiner Türe, bald senkt es sich rauschend mit schweren Flügeln auf deine Schultern, schlägt dir die Fänge ins Fleisch und hakt deinen Scheitel. Dann hebt es sich hoch empor, und wenn du aufatmend mit schwimmenden Augen den schwarzen Punkt im 415 Äther verfolgst, dann sitzt es am Rande des Weges und bietet dir lächelnd im Becher das Gift.

›Aber alles, was irgendeinmal zum Himmel geseufzt hat, ist ohne Zweifel auch endlich verstummt oder wird über ein Kleines verstummen.

›Geschlossen sind die Augen, die vor hundert Jahren geweint haben im Lichte der ewigen Sterne. In kurzer Frist werden dürre Blätter tanzen auch über meinem Grabe, und wieder nach hundert Jahren wandelt vielleicht der Fuß meines Guckenkels ahnungslos über die Grube dessen, der auch ihm einst übermittelt hatte aus geheimnisvollen Tiefen seinen Anteil am Leid.

›Mein Guckenkel? Nein, ich werde es keinem andern vererben. Mit mir wird sterben mein Leid.‹


Er hielt inne und trat ans offene Fenster. Da krallten sich seine Finger um den Kreuzstock.

Drunten lief ein Bäckerjunge mit dem Korbe auf dem Rücken pfeifend seinen Weg. Da und dort zog er die Klingel, Türen öffneten sich und schlossen sich knarrend.

Karl war zurückgetreten bis in die Mitte der Stube. Dort stand er mit gefalteten Händen und blickte hinüber.

Konstanze goß ihre Blumen.

Karl bewegte lautlos die Lippen, und zwei Tropfen rannen über seine Wangen herab.

Sie war längst wieder vom Fenster verschwunden. Da raffte er sich auf, zog das Pult in die Stube herein und schrieb weiter:

›Keinem? O doch, ich habe mich geirrt. Es kann ja nicht sterben. Jeder, aber auch jeder gibt's weiter.

›Nur das eine gelobe ich mir: Du Reine, du Geliebte sollst keine Ahnung haben von dem Feuer, das mich vernichtet. Einmal noch muß ich den Ton deiner Stimme hören, 416 muß ich dir nahe in die Augen blicken. Und dann vorwärts auf meinem einsamen Weg!

›Du aber, o Gott, gib mir die Kraft, daß mich die Welt nicht abziehe von meiner erkannten Pflicht. Laß mich vergessen, was ja doch vergeht, und laß mich nur sehen, was bleibt. Vorwärts – aufwärts!

Ich will nun wandern die Lebensstraßen
und den andern beileibe nichts merken lassen
von meinen heimlichen Herzensgedanken,
die mich eng und immer enger umranken.
Will fürbaß meine Strecke gehen
und auf zu deinen Bergen sehen,
wo sie sich dehnt die hochragende Stadt,
von der mir so lang schon geträumet hat.‹


Er setzte sich in die Ecke des alten Sofas, faltete die Hände und sah hinüber zu ihrem Fenster. Ihre Blumen leuchteten im Sonnenschein; aber das Fenster blieb leer.

Lange, stundenlange saß er regungslos und wartete.

Sie kam nicht wieder.

Endlich stand er auf, trat an das Pult, nahm das beschriebene Papier und begann es in kleine Stücke zu zerreißen. Dann wischte er die Schnitzel in die hohle Hand und trug sie hinüber zum Ofen, ging wieder zum Sofa, setzte sich in die Ecke und wartete weiter. –

Es war schon tief im Vormittag, als Gerhard mit wüstem Gesichte unter die Türe trat.

Karl erhob sich und hielt ihm die Hand hin. Der andere drückte sie.

»Gerhard, ich habe nur noch ein paar Stunden Zeit und muß mit Demoiselle Töbing sprechen – kannst du mir dazu helfen?«

Der Bruder wich zurück und rief entsetzt: »Du –?«

417 »Jawohl; sie ist meine Braut. Aber was hast du?«

Gerhard lachte wild auf. »Und da soll ich euch vielleicht auch noch den Liebesboten abgeben?«

»Bruder, du erschreckst mich –?«

»Rühre mich nicht an!« schrie Gerhard.

Dann lief er in die Schlafstube, holte seine Mütze und stürmte hinaus. 418

 


 


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