August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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Drittes Buch
Aus tiefer Not

Jede Fähigkeit und jeder Trieb unserer Seele sind in ihrer eigenen besonderen Art der Verderbnis ausgesetzt: und im Menschen oder in der Außenwelt ist eine Macht oder ein Zustand des Bösen beständig bemüht, jede Herrlichkeit seiner Seele, jede Kraft seines Lebens zum äußersten Grade des ihnen möglichen Verderbens herabzuziehen. Je schöner sie sind, desto furchtbarer ist der Tod, der ihre Entartung ahndet.

John Ruskin.

1. Vortrunk

Die ersten Sterne waren am wolkenlosen Himmel hervorgekommen. Über die Wiesen kroch der Nebel – ganz am Boden hin. Herbstgeruch erfüllte die frische Luft.

Auf dem Pfädlein, das in vielen Krümmungen dem Bache folgte, schritten langsam, ja es schien, als wateten sie durch den Nebel, drei Gestalten, zwei Männer und zwischen ihnen eine Frau.

»Also morgen – morgen! Es ist mir immer weh ums Herz, wenn ich euch ziehen lassen muß, meine Söhne.«

»Unsre Gefühle teilen sich an solchen Tagen,« meinte der eine von den zweien. Und mit leisem Lachen fügte er hinzu: »Es wäre vielleicht sogar schrecklich, wenn wir jahraus, jahrein da heraußen sitzen müßten. Meinen Sie nicht auch, Mama?«

»Und doch tut mir das Scheiden immer bitter weh,« beharrte die Frau; »denn die Gefahren sind groß.«

»Verlassen Sie sich darauf, wir kennen die Gefahren, und wir wissen ihnen zu begegnen,« nahm nun der andere das Wort.

Da blieb sie stehen, verschlang die Hände und sah zum schwarzen Wald hinüber. Sie hatte ein schönes, fast noch jugendliches Antlitz. Die Stirne war hoch und auffallend gewölbt. Die feingeschnittenen Lippen zuckten, und langsam rollten ihr die Tränen über die Wangen.

Ergriffen standen die Söhne und sahen heimlich in ihre großen, dunklen Augen, sahen verlegen zu Boden und wußten gar nichts zu sagen.

Endlich nahm der Ältere das Tuch von seinem Arme und legte es ihr sorgsam um.

274 »Ich danke dir, Christian.« Sie schritt weiter und zog das Tuch fest um ihre Schultern.

»In zahllosen Häusern kommt es jetzt wieder zum Abschiednehmen. Erinnert ihr euch noch, wie wir vor einem Jahre diesen Weg gegangen sind?«

»Es ist am gleichen Tage gewesen,« antwortete der Jüngere.

»Ganz recht, Wolfgang.« Sie blieb wieder stehen und hob die Hand. »Es war der gleiche Tag, und es war der nämliche Abendstern, der auch heute dort über dem Walde leuchtet.«

»Wir wissen es und werden es niemals vergessen,« sagte der Ältere.

»Niemals,« antwortete die tiefe Stimme des Jüngeren.

Sie faltete die Hände und ging weiter durch den steigenden Nebel. »Ich habe euch nicht gefragt, meine Söhne, ob ihr noch freien Auges hinaufschauen könnt zu dem friedvollen Gestirne.« Sie hob das Haupt und vollendete nicht ohne Stolz: »Das weiß ich seit jenem Abend im Sommer, wo ihr in die großen Ferien gekommen seid.«

Die Söhne schwiegen.

»Heute aber will ich mein Gelöbnis wieder auf ein Jahr erneuern. Immer werde ich beten für euch – insonderheit aber jedesmal, wenn ich ihn abends herüberkommen sehe über den Wald, den göttlichen Stern.«

Die Söhne gingen schweigend neben der Mutter, und die Nebel stiegen höher und höher.

Ihre Stimme bebte, als sie fortfuhr in ihrer Rede. »Ihr sollt mir nichts geloben, nein, nur ich gelobe, daß ich bete für euch. Und wenn ihr ein Übriges tun wollt, dann denket jedesmal beim Anblick dieses Sternes: Nun hat die Mutter gebetet für uns.«

Der Jüngere war es, der tastete zuerst nach ihrer Hand. Aber als es der Ältere bemerkte, da legte auch er seine Hand 275 in die andere Hand der Mutter. Und so gingen sie schweigend zu dritt in der kühlen Herbstluft über die nebeligen Wiesen dem Dorfe entgegen, dessen Lichtlein vom Ende des Tales herabgrüßten.

Nach einer Weile sagte die Mutter: »Von dem, der beten kann, gehen Kräfte aus, es ist unsagbar und unbegreiflich und ohne Zweifel. Es müßte schön sein, vermöchte man mit der Geschwindigkeit des Blitzes in die Ferne zu schreiben, was einem das Herz erfüllt, und oft schon habe ich mir's gewünscht, wenn ich meiner Kinder gedenke, die da und dort leben, ferne vom Vaterhaus. Aber ich bedarf der Zauberkunst nicht: ich bete, und siehe, ich bin mit dem vereinigt, für den ich bete. – Beklagenswertes Kind, dessen keine betende Mutter gedenkt!«

Sie kamen näher dem Dorfe. Mit hellem Schlage fiel der Hammer achtmal auf die Glocke.

»Meine Söhne, es mag viele geben auf hohen Schulen, für die keine Mutter mehr betet. Ich habe ein Anliegen – seht ihr einen, von dem ihr solches vermutet, dann erbarmt euch seiner!«

Sie gingen schweigend neben ihr.

Nach einer Weile räusperte sich Wolfgang, der Jüngere: »Wir müssen ehrlich sein, Mama. Kein honoriger Bursche erwartet, daß man sich seiner erbarme.«

Da blieb sie stehen. Und es war ein gütiges, herzliches Lachen, das ihr entfuhr. »Kann mir's ja denken. Sind stolze Leute, die Herren Studenten, rauh und stachelig wie Roßkastanien in der Schale, und es wäre gänzlich verfehlt, wolltet ihr nun an Widerstrebenden Samariterdienste üben.« Sie lachte wieder so herzlich. »Vielleicht am Baron von Brocken oder am – wie heißt ihr ihn doch immer? – Truthahn – richtig – am Truthahn.«

Und nun lachten auch die beiden honorigen Burschen an ihrer Seite.

276 »Der Brocken hieße uns schön in die Kanne steigen und trinken, bis wir platzten,« ließ sich der Jüngere vernehmen.

»Und doch kommt mir's vor, als wären gerade diese beiden des Erbarmens bedürftig,« sagte sie nun wieder ernsthaft und sehr bestimmt. Und nach einer Weile setzte sie hinzu: »Ich denke an die furchtbaren Worte, die auf den ersten Blättern der Bibel stehen, an die Angeln, in denen sich alles Böse der Welt dreht.«

Sie schwieg. Da fragte der Ältere: »Welche Worte meinen Sie, Mama?«

»Die Worte, die Kain zu seinem Gotte sprach, als dieser ihn fragte nach Abel: Soll ich meines Bruders Hüter sein?«

Sie hatten das Dorf erreicht und gingen noch immer Hand in Hand zwischen den Hecken die Straße hinauf. Dann öffnete der Ältere das Pförtchen, das zwischen zwei Nußbäumen in den herbstlichen Garten führte. Zur Linken ragte die Kirche mit dem kurzen, dicken Turme finster und massig gegen den Himmel empor, vor ihnen stand die Längsseite des Pfarrhauses, blinkten freundlich die erleuchteten Fenster unter dem gebrochenen Dache.

Der Gartenweg war breit, und so konnten sie zu dritt nebeneinander zwischen den scharfriechenden Buchsrabatten dahingehen.

Unter der Haustüre, zu oberst auf den ausgetretenen Steinstufen, stand ein kleines Mädchen. Das hüpfte von einem Bein aufs andre und klatschte in die Hände. »O, da seid ihr ja endlich! Und heute abend gibt's 'was Feines. Wißt ihr, was? Milchsuppe, Kartoffeln, Butter und Häring. Das Abschiedsessen. Aber so kommt nur! Bruder Christian –«

Der Ältere war die Stufen emporgesprungen und hob die zappelnde Kleine in die Höhe.

»Bruder Christian –!« Sie kreischte vor Vergnügen.

277 »Und gelt, heut abend spielst du noch einmal Domino mit uns Kleinen?«

»Darf ich auch mittun, liebe Maus?« fragte der Jüngere.

»O, Bruder Wolfgang – alle, alle spielen wir Domino.«

»Und die Mutter gibt dürre Zwetschgen dazu,« sagte die Pfarrfrau.


Christian und Wolfgang Eysen bewohnten gemeinsam eine Stube im obern Stockwerk.

Es ging auf Mitternacht, als sie die Stiege emporkamen. Die kleinen Fenster standen offen, und kühle, starke Luft erfüllte den Raum.

Wolfgang stellte den Leuchter mit dem Talglicht auf den Tisch; dann trat er ans Fenster, atmete tief auf und beugte sich hinaus.

Im silbernen Lichte des Mondes lag das Tal – stundenweit schweifte der Blick über endlose Wiesen zwischen niedern, bewaldeten Höhen.

Der ältere Bruder stand am Bücherbrette und suchte etwas. Da sagte der Jüngere: »Herrgott, Christian, was haben wir doch für vortreffliche Eltern!«

»Das hast du wohl erst heut entdeckt?«

»Wenn wir einmal ganz alte Knaben sind und schauen zurück – ich vermute, das Haus da wird uns im Sinne liegen als das verlorene Paradies.«

»Da könntest du recht haben,« sagte Christian. Und nun hatte er auch gefunden, was er wollte. Er ging mit einem offenen Buche an den Tisch und setzte sich vor das flackernde Licht.

»Und wenn ich nun denke, was die gute Mama uns alles gesagt hat, so fein, so echt weiblich – o mein Bruder, die Menschheit wäre doch längst in Sumpf und Moor gegangen, wenn sie sich nicht fortwährend erneuern dürfte in der selbstverständlichen Reinheit der Frau.«

278 Der Ältere sah in sein Buch und las laut: »Dem Guten steht das Schlechte wohl feindlicher gegenüber als dem Nichtguten. Ebenso behaupten wir, daß gerade die bestbegabten Seelen durch schlechte Erziehung besonders schlecht werden.« Und nun klappte er sein Buch zu, setzte sich auf sein Bett und zog die Stiefel aus.

»Plato?« fragte der Bruder nach einer Weile vom Fenster her.

»Plato,« antwortete der Ältere mit Nachdruck.

»Ich weiß, wo du hinaus willst.« Der Jüngere kam heran.

»Hinaus willst, ganz richtig.« Der Ältere lachte spöttisch.

»Also wirklich aus der Gesellschaft hinaus?« fragte der Jüngere mit bebender Stimme.

»Kann sein bei der nächsten Gelegenheit,« murrte Christian Eysen. Dann stand er auf und ging in Strümpfen zum Tisch. Und heftig, halblaut, zuweilen nur scharf flüsternd, sagte er: »Das ist's eben, von Haus aus sind wir mit all unserm Fühlen und Denken aufs Gute gerichtet, und darum laufen wir Gefahr, durch die schlechten Einflüsse auf hoher Schule ganz besonders schlecht zu werden. O, der verfluchte Zwiespalt!«

»Ich bezweifle die Richtigkeit des Plato'schen Satzes,« rief Wolfgang.

»Und ich denke an die gesunden Äpfel, die mit den faulen in einem Korbe liegen,« sagte Christian.

»Im brausenden Leben bewährt sich die Kraft der Grundsätze.«

»Ich glaub's ja, daß du nicht untergehen willst im Saufen und Raufen, und daß du ehrbar zu leben gedenkst wie so mancher unter uns.«

»Ganz recht, wie du und so mancher. Hat uns als Füchse keiner gehindert, werden wir auch übers Jahr als 279 Altburschen der guten Mama froh und frei unter die Augen treten können.«

»Du mußt doch vieles hinnehmen, was dir nicht gefallen kann, und zu manchem schweigen, was ein scharfes Wort verdiente.«

»Unsere Gesetze sind gut; sie geben einem wohlgesinnten Burschen starke Handhaben. Der Bursch kann manches sagen, was dem Fuchsen niemals erlaubt war.«

»Es ist ein buntscheckiges Volk, das zu den Farben unserer Gesellschaft geschworen hat.«

»Genau so buntscheckig wie draußen die Menschheit.«

»Ich zöge vor, nur mit Meinesgleichen zu leben.«

»Gerade in der Mannigfaltigkeit erkenne ich die Schönheit und freue mich ihrer.«

»Vereine Gleichgesinnter, das ist's, was wir brauchen.«

»Langweilig, für die Allgemeinheit wenig ersprießlich. Faulkissen des Hochmuts.«

»Wissenschaftliche Vereine schweben mir auch vor.«

»Also Gesellschaften von Theologen, Juristen, Philosophen –?«

»Ganz recht.«

»Vor solcher Eintönigkeit würde mir grauen. Gerade im täglichen Verkehr mit Juristen, Medizinern, Philosophen finde ich mein bestes Vergnügen. Da käme man schließlich noch zu lutherischen und kalvinischen Studentenverbindungen.«

»Ganz richtig, Wolfgang –!«

»Und die Katholiken tun sich natürlich auch zusammen –?«

»Meinetwegen auch diese.«

Der Jüngere hob entsetzt die Hände. Dann aber lachte er laut auf. »Jetzt wär' mir aber doch fast übel geworden bei deinen schlechten Witzen.«

Der Ältere zuckte die Achseln und stand auf. »Hier denken wir halt verschieden.«

280 »Mach's wie ich, Christian. Sei nun einmal ein Semester lang mit Leib und Seel ein Franke. Denke gar nichts anderes, als: ich habe mich den Farben Gold-rot-gold ergeben, und es ist meine verdammte Pflicht, sie mit allen meinen Kräften zu lieben. Und dann wollen wir weiterreden an Ostern.«

»Du bist ein Phantast, Wolfgang.«

*

Am nächsten Morgen war's.

Der Baron von Brocken ließ die Fenster seiner Arbeitsstube niemals öffnen, nicht Winters und nicht Sommers. Er behauptete, im Winter brauche man zwischen seinen vier Wänden keine kalte und im Sommer keine warme Luft.

Da war's nun allerdings kühl in dem großen, gewölbten Raum, sehr kühl an diesem Oktobermorgen. Aber die eingesperrte Luft war dumpf, und es roch nach Tabaksrauch von gestern, nach dem Lederzeug der Sättel und Geschirre, die in einer Ecke lagen, nach den Sämereien, die auf einem Tische in Pappschachteln aufgestapelt waren, und nach drei oder vier Hunden, die sich auf einem zerrissenen Teppich am kalten Ofen dehnten.

Der Baron saß in einer tiefen Fensternische an seinem mächtigen Schreibtisch und starrte mit gerunzelter Stirne und zusammengezogenen Brauen in eine eiserne Kassette. Der Sohn aber, der neben ihm stand, lächelte verstohlen auf ihn herunter. Und es war ein seltsam verbissenes Lächeln: er hatte den linken Mundwinkel zurückgezogen wie ein Jagdhund, der auf dem Anstand steht, und es war, als wollte er sagen: – na ja, jetzt hat er halt wieder das Kassettengesicht, der Alte.

Zwei, drei, vier Röllchen nahm der Baron heraus und legte sie mit spitzen Fingern auf die Tischplatte. Vier Röllchen. Nun lächelte der Sohn nicht mehr. Vier Röllchen? Wahrhaftig, der Alte benahm sich honett.

281 Er war ein schlanker, hochgewachsener Mensch geworden seit jenem Palmtage, der junge Hanskarl Brocken, ein geschmeidiger Bursche mit dichtem, schwarzem Haar und dunkeln, scharfen Augen unter eng zusammengewachsenen Brauen. Die Stirne war ein wenig zu niedrig, die hagern Wangen waren etwas gelblich. Aber das schwarze Schnurrbärtchen legte sich keck heraus über rote Lippen. Und als ihm nun der Vater das Geld hinschob, da lächelte der Junge sonnig, unbekümmert, fast mädchenhaft, und der Alte hatte den Mundwinkel zurückgezogen und hatte das seltsam verbissene Lächeln des Jungen von vorhin. Aber es war doch anders anzusehen, das Lächeln des Zweiundzwanzigjährigen als das Lächeln des Fünfzigjährigen. Denn aus dem Mundwinkel des Jungen leuchteten blinkweiße Zähne; im Mundwinkel des Alten klaffte die Lücke.

»Sie sind überaus gütig, Papa.«

»Glaub's wohl, Herr Sohn. Aber bitte, da steck nun zum Abschied mal deine Nase herein.«

Er hatte die Kassette gehoben und hielt sie dem Burschen hin.

»Es könnte wohl mehr darinnen sein,« lächelte Hanskarl.

»Ganz richtig, Herr Sohn. Und es wäre auch mehr darinnen, wenn du im vergangenen Jahre nicht an die elfhundert Gulden verputzt hättest.«

»Sie scherzen! So viel Geld kann ich mir ja gar nicht einmal vorstellen.«

Er lächelte noch immer, und wieder blinkten die Zähne aus dem halbgeöffneten Mundwinkel. Doch es war nicht mehr das sonnige Lächeln von vorhin. Und er beeilte sich, die Röllchen in die Tasche zu stecken.

»Der wirtschaftliche Sinn meines Herrn Papa wird diese Kassette in Bälde wieder bis an den Rand füllen.«

Der Alte stand auf, warf den Deckel zu, drehte den Schlüssel um und sagte barsch: »Dummer Junge, spare 282 deine Sprüche zum Teetisch auf. Bei mir sind sie nicht angebracht. Und daß du's nur weißt: Ich bin weder der Fugger in Augsburg, das heißt ein Geldpfeifer, noch auch des Vetters hochgräfliche Exzellenz, sondern ein armer Landedelmann von der obskuren freiherrlichen Seitenlinie. Deinem Urgroßvater kam unter sotanen Vermögensumständen der Grafentitel lächerlich vor, und der Baron Brocken war ihm lieber als die wurmstichig-hochgräfliche Pracht.«

»Leider,« sagte der Junge und machte ein betrübtes Gesicht.

»Und wenn du so weiter wirkst, dann kannst du zuletzt auch noch den Freiherrntitel einsalzen und dich von Kümmerlich schreiben. Deine fünf Schwestern wissen ja von Kindesbeinen an, daß sie nicht mehr als zweitausend Gulden Aussteuer kriegen, eine jede, und damit basta. Aber das Hungertüchlein kann und darf ich ihnen denn doch nicht mitgeben. Verstanden? Also denk zuweilen daran. Gute Lehren geb' ich dir nicht mit ins fünfte Semester; denn du pfeifst mir doch nur ein Liedel darauf. Wenn du's toll treibst, so ist das deine eigene Sache. Nur das eine bitt' ich zu bedenken: Der Ofen da –« er tippte den Sohn auf die breite Brust – »der Ofen da mag einen guten Zug haben. Aber wenn ich nichts mehr ins Schürloch stopfen kann aus der da –« er schlug mit der flachen Hand auf den Deckel der Kassette – »dann geht dein Schnaufer von selbst aus. Ich hab's gesagt, und nun ade.«

Er reichte dem Sohne die Hand und sah ihm von der Seite her ins Gesicht.

Der Sohn verbeugte sich tadellos. »Leben Sie wohl, Papa, und vielen Dank.«

Draußen im Korridor wartete ein Mädchen: »Auf einen Augenblick, mon cher!« Sie öffnete eine Türe und trat in die Stube.

283 »Auch du, meine Schwester?« Es war wieder das sonnigste Lächeln. »Aber mach's gnädig. Ich habe noch den ganzen Mund voll Bitternis.« Er schluckte und schnitt ein klägliches Gesicht.

Das schöne Mädchen in dem einfachen Kleide kämpfte zwischen Lachen und Weinen.

»So ernsthaft ist's, Jeannette?«

»Hanskarl, ich habe in deinem Koffer dreiundvierzig Champagnerpfropfen gezählt – damals, zu Beginn der Ferien.«

»I was, Kleine, nichts als eine harmlose Korksammlung vom Semester her.«

»Hanskarl!« Sie faltete die Hände und sah ihn bittend an. »Ich meine, wir sollten nicht Komödie miteinander spielen. Freilich, es will mir oft scheinen, als wär's ein Theater: vor den gemalten Kulissen agierst du, hinter den Kulissen stehen wir und sehen die groben Lattengerüste und die Wirklichkeit. Es waren schöne Ferien, und ich bin getreulich bemüht gewesen, dir nichts von Latten und Bindfäden zu zeigen. Und du warst uns auch ein lieber Bruder, untadelig, und es wird uns and[?] nach dir tun. Aber verzeih mir halt, wenn ich jetzt nicht nur ade sage. Wer soll's denn besorgen? Die Mutter müßt's. Aber die kann's ja nimmer. Also bleibt's an mir hängen.«

»Mach's gnädig, Jeannette, kleine Mama!«

»Hanskarl, gnädig mußt du's machen. Im Frühjahr hat Minette Hochzeit. Wir müssen jetzt an die Aussteuer gehen.«

»Ei, so geht halt!« rief er kläglich.

»Wir haben noch keinen Pfennig vom Papa herausbekommen.«

Der Bruder schwieg.

»Wir Schwestern wissen ja –«

»O schweig, Jeannette, es ist so jämmerlich.«

284 »Es ist nicht jämmerlich; denn es ist gute Sitte von altersher. Das Haus muß stehen bleiben. Man kann nicht Steine aus der Mauer reißen. Aber –«

»O schweig, ich weiß doch, was du sagen willst.« Er zog sie an sich und drückte einen Kuß auf ihre Stirne.

»O Bruder!« Sie schluchzte. »Ich gehe nun getrost in den Winter. Du denkst doch gewiß an deine Schwestern. Und vor allem wirst auch du keine Steine aus den Grundmauern nehmen. Gelt? Und wirst nimmer so schrecklich viel Champagner trinken – gelt?«

Hanskarl sah in diesem Augenblick wirklich recht hübsch aus. Es war eine Mischung von Nachgiebigkeit, Zärtlichkeit und Zerknirschung, die ihm vorzüglich zu Gesichte stand. Ganz gerührt blickte das liebliche Mädchen zu ihm empor. Ach Gott, was sie doch für einen scharmanten Bruder besaß! –

Noch einen flüchtigen Kuß auf die Stirne des Hausmütterchens! Dann hinaus in den kühlen Flur, wo die vier andern warten mit nassen Augen. So, nun jeder einen Kuß gegeben, jede einmal herumgewirbelt, jeder noch ein Scherzwort zugeflüstert – und dann hinaus, über die Steinstufen hinunter in den offenen Wagen – noch einmal – – ei, da steht ja der Herr Papa hinter den Schwestern, also etwas Ehrerbietung in den letzten Gruß geheuchelt – – und nun, heisa, um die Ecke, heisa, ins fünfte Semester! –

Uff! Doch eine rechte Anstrengung, dieses Abschiednehmen unter den verschiedensten Voraussetzungen. Aber war er denn nicht der sieghafte Kerl, der sich so oft schon gerühmt hatte, daß er mit seinen Gesichtsmuskeln alle menschlichen Stimmungen nach Belieben und nach Bedürfnis wiedergeben könne?

Der Wagen rollte an der niedern Parkmauer hin, die Ulmen und Linden strichen vorüber, nun rollte er über die Steinbrücke hinaus zwischen die Pappeln. Der Student 285 hatte sich behaglich zurückgelehnt und setzte die kurze Pfeife in Brand. Rauchwölkchen zogen hinter dem Wagen her.

Auf den weitgedehnten Wiesen im breiten Tale grasten die Rinderherden, und zahllose Halsglocken bimmelten friedlich durcheinander. Ehrerbietig grüßten die Leute, gnädig dankte der junge Herr.

Ein Himmel von wunderbarer Bläue war ausgespannt. Und schon lag der gelbe Schimmer des Herbstes auf den Waldhügeln.

Eine halbe Stunde rollte der Wagen die Chaussee hinab. Dann ging's mit dumpfem Gepolter über die Holzbrücke des Städtchens, durch den finstern Torbogen, über die Katzenköpfe des Pflasters.

Richtig, da stand er, oben auf der Freitreppe des Amtshauses.

Ein lustiges Winken aus dem Wagen, ein Winken von den Steinstufen. »Morgen, Leibfuchs!« Der Wagen hielt.

Mit einem Ruck hatte der Studio im Wagen sein Gesicht in andere Falten gebracht, in die einzig richtigen Falten. Jetzt war er nicht mehr der bezaubernde Bruder, nicht mehr der gnädige Herr Baron – jetzt war er nur noch der Altbursch Hanskarl von Brocken.

Ein kleiner, schlanker Mensch hatte seine Reisetasche dem Kutscher zugeworfen und sprang in den Wagen.

»Na, Truthahn, wie geht's?«

»Wie wird's gehen? Gottsjämmerlich geht's, Leibbursch.«

Der Wagen rumpelte über das Pflaster, und lachend blickte der Schwarze dem andern ins zornige, rote Gesicht, aus dem die spitze Nase so frech nach oben stand. »Morgensegen zum Abschied mit feierlicher Fürbitte – was?«

»Dreiviertel Stunden lang, hab' auf die Uhr gesehen,« schrie der Kleine. »Dreiviertel Stunden lang ist der Alte am Fenster gestanden. Zuerst das Morgenlied, dann ein Kapitel 286 aus dem alten Testament, dann eines aus dem neuen, dann ein Reisesegen aus Arndts Gebetbuch und endlich mit aufgehobenen Händen ein langmächtiges freies Gebet um Segen zur wissenschaftlichen Arbeit, um Gesundheit Leibes und der Seele und um Erhaltung –«

Baron Brocken hatte den linken Mundwinkel zurückgezogen und die Augen zusammengekniffen und ergänzte des andern Rede: »Um Erhaltung der Tugend des mit Haut und Haaren gefährdeten Sohnes.«

Der Truthahn lachte höhnisch. »Gib mir Tabak, Brocken. Es ist ja 'was ganz Gemütliches um Religion, sie ist ja wohl auch immer gewesen, namentlich auf dem Lande; aber man muß sie maßvoll genießen. Jeden Tag schöpflöffelweise von Jugend auf, das hält kein Roß aus.«

»Na, jetzt kannst du ja wieder ausruhen bis Weihnachten,« sagte der Leibbursch mit trockenem Lachen und reichte dem andern seinen gestickten Tabaksbeutel hinüber.

Der Wagen rollte zwischen Obstbäumen einem Dorfe entgegen.

»Die beiden Eysen wollen auch mitfahren,« sagte Brocken.

Der Truthahn stopfte seine Pfeife und machte ein grimmiges Gesicht. »Das hab' ich mir nicht besser gehofft. Fehlen mir heute grad noch, die Musterknaben.«

Der Schwarze zog die Stirne in Falten. »In ihrer Art doch zwei Prachtkerle, diese Eysen. Der Ältere mit seinem haarscharfen Verstand und der Jüngere mit seinem gutmütigen Witz und seinem todsichern Auge. Mir vielfach konträr – aber allen Respekt vor ihnen. Und das ist gerade so nett in unserer Gesellschaft, daß vielerlei Menschen unter den gleichen Farben vereinigt sind. Lauter solche, wie du einer bist, bekäme man auch bald satt.«

»Besten Dank,« sagte der Truthahn. »Bin mir oft selber im Wege. Aber glaub mir's, wenn einem von Jugend auf 287 zwei solche Musterknaben als Vorbilder hingestellt werden, dann muß man sie natürlicherweise mit der Zeit hassen.«

»Kann mir's denken,« sagte Brocken. »Solche Versuche hat mein verehrter Papa mit mir allerdings niemals gemacht.«

»Du hast auch einen vernünftigen Alten, Leibbursch.« Der Truthahn blies eine starke Rauchwolke nach oben.

Der Baron von Brocken lächelte ein wenig überlegen und zuckte die Achseln. »Mag sein. Aber auch er hat in seiner Art den Morgensegen gebetet mit mir. Und wenn wir im nächsten Semester etwas weniger flott leben, dann kann's uns nicht schaden.«

»Weniger flott leben?« Der Truthahn bekam seinen roten Kopf. »Ich will meinen Rachen weit aufreißen und will alles hineinsaufen, was es an Lust und Genuß gibt auf hohen Schulen, und wenn ich müde werden möchte, dann will ich erst recht aushauen nach allen Seiten und will mit Lachen denken an den ehrwürdigen Herrn Amtmann, wie er am Fenster steht und mit aufgehobenen Händen betet um die Tugend seines Herrn Sohnes. Ja, das will ich, Leibbursch, und so fahr' ich nun ins Semester.«

»Armer Kerl,« sagte der Baron. »So ekelhaft ist dir's zu Hause geworden?«

Der Jungbursche Truthahn, eines Königlichen Amtmannes einziges Kind, sog den Rauch aus seiner Pfeife tief ein. Dann blies er ihn aus und sagte stoßweiße: »In meiner Jugend hat er mich verprügelt, jetzt verbetet er mich. Weiß wohl, es ist nicht schön – aber ich hasse meinen Alten.«

»Na, na, Truthahn, das gibt sich alles mit der Zeit,« bemerkte Brocken und klopfte seinen Pfeifenkopf am Wagenschlage aus.

Sie rollten den Dorfweg hinauf und hielten vor den Nußbäumen des Pfarrhauses.

288 »Eine ganze Prozession,« bemerkte der Truthahn mit spöttischem Seitenblicke und öffnete den Wagenschlag.

»Mit vierzehn Kindern können zwei Eltern schon einen Aufzug veranstalten,« sagte Brocken und sprang aus dem Wagen. »Übrigens eines hübscher als das andere. Schau nur die Frauenzimmer!«

Der lange Brocken war nun wieder der Kavalier ohne Tadel. Er küßte der Pfarrfrau die Hand, er verneigte sich vor dem stattlichen Pfarrer, sagte den Töchtern Artiges und begrüßte die beiden Burschen. Des Königlichen Amtmanns Sohn stand mit verbissenem Lächeln daneben.

»So vornehm ist man zu meiner Zeit nicht ins Semester gefahren,« lachte der Pfarrer. »Da ging's per pedes apostolorum

»Bah, Herr Pfarrer!« Brocken warf einen schiefen Blick auf die Pferde. »Mein Papa hat mir die ältesten Ackergäule mitgegeben.«

»Es sind starke Pferde,« meinte der Pfarrer begütigend.

»Schindmähren sind's – pardon, Frau Pfarrer,« rief der Baron. »Aber die Kutschenpferde gibt er ja nur alle heiligen Zeiten heraus. Wundert mich schon lange, warum er sie nicht allabendlich in unsere Gastbetten legt.«

Sie lachten. Der Baron aber verneigte sich mit einseitigem Lächeln gegen die Pfarrfrau und schloß seine Rede: »Einerlei, wir Söhne haben uns den verehrten Eltern bescheiden zu fügen.«

»Was allen guten Söhnen sehr wohl ansteht,« meinte die Pfarrfrau und hob einen blondlockigen Knaben auf den Arm.

»Apropos, meine Herren,« rief nun der Pfarrer, »daß ich's nicht vergesse, ehe Sie abfahren! Meinen Söhnen hab' ich's ja schon gesagt.« Er zog einen Brief aus der Tasche. »Gestern ist mir dies von einem alten Jugendfreunde 289 zugekommen. Wenn Ihnen ein Fuchs namens Gerhard Frey begegnet – er bezieht in diesen Tagen die Universität – dann nehmen Sie sich seiner freundlich an. Der Vater ist gräflicher Leibarzt.«

Brocken warf den Kopf zurück, verzog das Gesicht und rief: »Bei meinem Onkel?«

»Ganz recht, Herr Baron.«

»Den kenn' ich.«

»Um so besser,« sagte der Pfarrer.

»Den kenn' ich,« wiederholte Brocken. »Vor einigen Jahren ist's gewesen. Ich sehe ihn noch sitzen – jawohl. Es war bei Tisch. Ein französischer Kapitän hatte sein Champagnerglas gehoben und vive l'empereur gerufen. Alle standen. Nur der junge Frey saß wie angepappt. Na, wenn der so weiter gewachsen ist – da können wir 'was erleben.«

Wolfgang Eysen hatte sich herangedrängt. Seine Schwestern horchten aufmerksam. »Und ist sitzen geblieben? – Und was hat der Franzose gesagt? – So 'was kann einen freuen –« schwirrte es durcheinander.

»Ein teutonischer Held,« sagte der lange Brocken, verneigte sich spöttisch und lachte einseitig, daß man seine weißen Zähne sah.

Wolfgang Eysen aber rief: »Donner und Doria, der muß in unsere Gesellschaft!« –

Nach kurzer Weile rollte der Wagen mit den vier Burschen die Landstraße entlang, und aus vier Pfeifenköpfen qualmte der Rauch.

*

Gerhard Frey hatte den höflichen Kandidaten Körbelius ganz zufällig im Postwagen kennen gelernt, und gesprächsweise war's zu Tage gekommen, daß beide im gleichen Hause wohnen würden.

290 Als sie nun vor dem alten, zweistöckigen Gebäude standen, bemerkte der Kandidat: »Zahllose Geschlechter studierender Jünglinge haben die Steinschwelle abgetreten, über die Sie jetzt in Ihre künftige Heimat eintreten.«

Gerhard schwieg. Er wußte auf diese selbstverständliche Wahrheit nichts zu erwidern. Der andere zog die Glocke.

Im düstern Hausflur kam ihnen eine große Mannsgestalt entgegen. Bescheiden drückte sich der Kandidat an die Mauer und grüßte. Auch Gerhard lüpfte den Hut. Der Riese nickte und ging aus dem Hause.

»Ein Student?« fragte der Fuchs.

»Der Bierlupf,« raunte Körbelius. »Wir hätten nicht so ängstlich ausweichen müssen.«

»Ich bin doch nicht ängstlich ausgewichen?« brauste Gerhard auf.

»O, es gibt Leute auf hohen Schulen, denen man weit aus dem Wege geht, Herr Frey; der aber ist ganz ungefährlich. Ein heruntergekommener Student, ein alter Kerl, eine Ruine; trotzdem bei allen wohlgelitten.«

Körbelius klopfte an der nächsten Türe, und eine tiefe Frauenstimme rief herein. Der Kandidat schob den Fuchsen vor sich her in die Stube. Unwillig machte sich dieser von seiner Hand frei.

Nicht ohne Feierlichkeit trat nun Körbelius vor und verneigte sich. Vom Antritt am Fenster kam eine große, hagere Frau und blieb würdevoll inmitten der Stube stehen. Ein junges Mädchen, noch nicht ganz flügge, hob den Kopf von der Näherei und sah neugierig herüber.

»Jungfer Groß, ich habe die Ehre, Ihnen den neuen Mieter, Herrn Studiosus Gerhard Frey, ganz ergebenst vorzustellen, und empfehle ihn Ihrer Obsorge, die Sie mit des Himmels gnädigem Beistand schon an einer unübersehbaren Reihe von Studenten rühmlichst geübt haben.«

291 »Sie belieben ganz ernsthafte Dinge durch allzu feierliche Betonung zu verzerren, Herr Kandidat,« sagte nun die Jungfer und trat näher.

»Erlauben Sie –!« rief Körbelius.

Doch mit wohllautender Stimme sagte sie, unbeirrt durch seinen Einspruch: »Ich heiße Sie willkommen, Herr Frey.« Sie streckte ihm die Hand entgegen, und Gerhard verneigte sich wortlos. Als er die Hand drückte, sah er in große, schwarze Augen, die freundlich und forschend auf ihn blickten.

»Erlauben Sie, daß ich –,« begann Körbelius aufs neue. Aber die Jungfer beachtete ihn nicht weiter und sagte. »Sie werden mich vielleicht nicht auslachen, Herr Frey, wenn ich trotzdem schließe: Ihren Eingang segne Gott!«

»O, gewiß nicht, o nein, durchaus nicht,« stotterte er und begann sein Bärtchen zu zwirbeln.

»Ist mir auch schon begegnet,« meinte sie und wandte sich mit einer Handbewegung nach dem Fenster: »Meine Pflegetochter.«

Das Mädchen kam vom Antritt herab und zögerte einen Augenblick. Dann war's, als wollte es näher treten. Aber die Jungfer befahl: »Es ist gut, du kannst nun in die Küche gehen.« Da entfernte sich das Kind.

»Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen widerspreche,« kam nun endlich der Kandidat zu Worte. »Schon mein künftiges Amt verbietet mir, Ernsthaftes ins Scherzhafte zu kehren – und ich habe auch vorhin durchaus ernsthaft gesprochen. Im übrigen empfehle ich mich. Wir bummeln später noch miteinander, Herr Frey?« Damit ging er zur Türe hinaus.


Die Studentenmutter stieg mit ihrem neuen Mieter ins zweite Stockwerk hinauf und führte ihn einen halbdunkeln Gang hinter. »Obacht, drei Stufen aufwärts!« rief sie, öffnete 292 eine Türe und trat voran in ein geräumiges, niederes Zimmer. »Hier werden Sie wohnen.«

Er sah sich neugierig um.

»Eines der besseren Zimmer in hiesiger Stadt,« erklärte sie nicht ohne Stolz. »Und es ist ja richtig, was der wackere Körbelius vorhin ein wenig salbungsvoll gesagt hat – ich hasse nämlich die gesalbte Rede – aber es stimmt, schon viele Generationen von Studenten haben hier gewohnt, erst bei den Eltern meiner verstorbenen Base, dann bei dieser und endlich bei mir.« Sie ging an das Pult, das vor einem der beiden Fenster stand, drehte den Schlüssel und hob den Deckel. »Hier haben sich alle Ihre Vorfahren verewigt. Es ist das Album der Bude.« Sie lächelte und strich mit der flachen Hand über ihre schwarzen, gescheitelten Haare.

Er war hinzugetreten und sah neugierig auf die Namen – zwei, drei, vier Reihen. Plötzlich legte er den Finger auf einen Namen der zweiten Reihe: »Mein Vater –!«

»Ganz recht,« sagte sie und nickte nachdenklich. »Hab' es auch sofort gewußt, als Sie die Bude mieten ließen.«

Sie stand mit gekreuzten Armen und blickte an ihm vorüber zum Fenster hinaus.

Hermann Frey, Sommersemester 1780 bis Sommersemester 1784, las er und sagte: »Das ist lange her.«

»Ein Menschenalter, ganz wie sich's gehört,« bemerkte sie. »Und wie geht es Ihrem Herrn Vater?« fragte sie nach einer Weile mit leiser Stimme.

»O gut, sehr gut,« beeilte er sich zu erwidern. »Haben Sie meinen Papa noch gekannt?«

»Ich bin lange nach seiner Zeit in dieses Haus gekommen,« sagte sie und blickte noch immer zum Fenster hinaus. Dann aber lächelte sie ihn an: »Es trifft sich hübsch, Herr Frey – nicht wahr? Nun hat doch diese Bude sogleich eine 293 Tradition und wohl auch etwas Heimatliches für Sie – nicht?«

Er blickte verwundert auf. Wie klug sie sprach, diese alte Jungfer!

Sie aber wurde rot und setzte leise hinzu: »Hoffentlich nehmen Sie es nicht übel, daß ich so mit Ihnen rede? Ich bin halt, müssen Sie wissen, eine rechte Studentenmutter.«

Nun sah er ihr voll in die Augen und schüttelte den Kopf. »Aber gewiß nicht, Jungfer. Es ist mir auch schon ganz heimisch in Ihrem Hause.«

»Recht so,« sagte sie leichthin. »Dann werden Sie mir ja vielleicht auch die kleine Bildersammlung an ihrem Platze lassen und auch einmal bei Gelegenheit Ihr eigenes Bild dazu stiften?«

Sie war an das lange, mit zerdrückten Kissen belegte Sofa getreten und wies auf die vielen Schattenrisse, die an der Wand in kleinen, runden Rahmen zwischen etlichen gemalten Bildern hingen. »Ihr Vater ist nicht dabei; denn die Sammlung ist erst zwanzig Jahre alt. Nun aber will ich Ihnen Ihre Schlafstube zeigen.«

Im schmalen Zimmer nebenan stand ein Bett, gegenüber ein kleiner Waschtisch.

»Und diese Türe?« Er war näher getreten und besah die schweren Eisenriegel.

Sie stieß beide Riegel zurück: »In diese Kammer können Sie die leeren Koffer bringen. Obacht, eine Stufe herunter – bücken! Es ist ein altes, winkeliges Haus; Sie haben wohl auch die Jahrzahl 1621 über der Haustüre gelesen.«

Sie trat voran in die große, hohe Kammer, die durch zwei einander gegenüber liegende Fensterchen ihr Licht bekam. »Die Studenten fechten hier gerne. Ich habe auch nichts dagegen; denn unmittelbar darunter ist nur eine Rumpelkammer, also wird niemand gestört durch das Gestampfe.«

294 Gerhard sah sich in dem kahlen Raume um. Sie aber stand mit gekreuzten Armen und beobachtete ihn. Da fiel sein Blick auf große, dunkle Flecken am grauen, morschen Fußboden.

»Und nun lassen Sie sich gleich etwas sagen, junger Herr.« Sie tippte mit der Fußspitze an einen der Flecken. »Das ist Blut – verstehen Sie?«

»Blut von Zweikämpfen?«

»Aha –!« Sie lächelte verächtlich. »Also sind Sie auch so einer?«

»Auch so einer? O, ich bin allerdings auch so einer, der sich gar nichts gefallen läßt.«

»Gar – nichts – gefallen läßt?« Sie wiederholte es so gedehnt als möglich. Dann warf sie den Kopf zurück. »Sehen Sie, junger Herr, genau so hab' ich vor fünfzehn Jahren auch noch gesagt. Aber ich vermute, das Schicksal fragt uns Menschen durchaus nicht, ob wir uns dieses gefallen lassen oder jenes, sondern es befiehlt uns – du mußt!«

»Ich denke doch, ein jeder ist seines Schicksals Schmied?« Er zwirbelte verlegen an seinem Bärtchen. O wie dankbar war er immer wieder für diese zart sprossenden Härchen!

»Also hören Sie, junger Herr,« fuhr sie fort. »Sie dürfen diese Kammer zum Fechten benutzen, wie's Ihnen beliebt. Aber zu ernsthaften Geschichten gebe ich sie meintag nicht her. Verstanden?«

Er nickte und ging durch das Schlafkabinett zurück ins Wohngemach.

»Auf gute Freundschaft!« Sie streckte ihm die Hand hin.

Er legte seine Hand in die Hand der Jungfer und zwirbelte sein Bärtchen.

Die Türe schloß sich hinter der hohen, schwarzen Gestalt.

295 Er zwirbelte noch immer sein Bärtchen. Dann ging er ans Pult, hob den Deckel und strich liebevoll über den eingeschnittenen Namen seines Vaters.

*

Es war am Abende jenes Tages.

Graublaue, schwere Wolken trieben tief über dem Lande, und in einem kupferigen Abendrot versank die Sonne. Träge rann das Flüßlein im Wiesengrunde; von den Höhen kam der beißende Rauch der kleinen Feuerstätten, an denen die Hirtenbuben ihre Kartoffeln brieten. Regenlachen blinkten auf der Landstraße. Weiber mit schweren Holztrachten zogen Schritt vor Schritt im Abendschein nach Hause.

Die Bäume der Lindenallee standen gelb im Laub, und sachte fielen die toten Blätter zur Erde. Bis an die Knöchel wateten die beiden im rauschenden Streuwerk, der Kandidat und der Fuchs, dem Städtlein zu.

In den Gassen spielten die Kinder; eine große Glocke dröhnte in tiefen, langsamen Schlägen.

»Nun bin ich rechtschaffen hungrig und möchte zu Abend essen.« Gerhard blieb stehen und besah sich das Schild eines alten Hauses: »Gastwirtschaft zum Anker? Ich denke, wir verankern uns hier – nicht, Herr Körbelius?«

Da packte ihn der Kandidat am Arme und raunte ängstlich: »Ums Himmels willen, was fällt Ihnen ein – hier, wo die drei Gesellschaften ihre gemeinsame Privatkneipe haben?«

Gerhard Frey machte sich los: »Ist's denn kein öffentliches Gasthaus?«

»Ohne Zweifel, aber nur für die vornehmsten Studenten.«

»Für die vornehmsten Studenten? Ich denke, Studenten sind freie Leute und samt und sonders gleich untereinander. So hab' ich's immer gehört und anders nicht. Und also rechne ich mich von vornherein unter die Vornehmsten.«

»Wo denken Sie hin, Herr Frey!« Körbelius hatte die 296 Hände gefaltet. »Die Vornehmsten sind die Senioren der drei Gesellschaften, die andern Chargierten, die alten Häuser, die Altburschen, die Jungburschen, jawohl, und dann erst kommt der große Haufe der Renoncen und Obskuranten. Und ich rate Ihnen, gehen Sie nicht hinein da.«

Gerhard sprang die steinernen Stufen empor und sagte trotzig: »Wollen Sie mit? Ich habe Hunger und gehe hinein.«

Mit gesenktem Haupte schlich der Kandidat hinter dem Fuchsen die Treppe empor und raunte: »Hoffentlich sind die Ärgsten noch nicht ins Semester zurück.«

Groß, aber niedrig war die Gaststube. Die Decke hatte wohl vor Zeiten weiß geleuchtet; jetzt war sie schwarz geräuchert wie das Innere eines Pfeifenkopfes. Auf den breiten Simsen vor den kleinen, bleigefaßten Fenstern standen etliche Blumentöpfe mit Meerzwiebeln und Kakteen. Die Stube war fast leer. Nur in einer Ecke saß ein halb Dutzend Studenten. Sie aßen, sie tranken und schwiegen.

Der Kandidat drängte sich vor den Neuling und strebte mit abgezogenem Hute in die entgegengesetzte Ecke, an einen Tisch nahe dem Ofen.

Es war schon sehr dämmerig. In leise klappernden Pantoffeln kam der kleine Wirt und legte schweigend die Bierfilze vor die beiden. Dann hatschte er zurück, brachte Bier und legte einen Laib Brot auf die Platte.

Gerhard bestellte sich ein Stück Käse. Er tat es mit lauter Stimme. Da sagte Körbelius nahe an seinem Ohre: »Ums Himmels willen, ich bitte Sie, leise, leise!«

Wieder öffnete sich die Türe, etliche Hunde rannten herein, ein Trupp Studenten kam in die Stube. Sie hatten grüne, mit buntfarbigen Bändchen gezierte Lederkappen auf den Köpfen, trugen das Gesellschaftsband über der Brust, und ihre Beine staken in hohen Kanonenstiefeln. Geräuschvoll setzten sie sich, gehorsam krochen die Hunde unter die 297 Stühle. Der Wirt brachte die vollen Krüge. Da tranken sie sich schweigend zu, saßen und schwiegen.

»Sind Sie bald fertig, Herr Frey?«

»Bald fertig? Es gefällt mir ganz gut hier. Ich denke, wir bleiben.«

Eine Magd stellte kupferne Leuchter mit brennenden Talgkerzen auf die Tische und legte daneben die Putzscheren.

Gerhard trank und besah sich die grell gemalten Bilder an der Wand: den Kaiser Napoleon, den König mit seinem gutmütigen Pfannkuchengesicht und der Königin überirdische Schönheit.

Allgemach füllte sich die Stube mit Studenten. Unruhig rückte der Kandidat hin und her auf seinem Sitze.

Schweigend kamen die Studenten, schweigend hoben sie ihre Mützen und nickten sich zu, schweigend setzten sie sich, aßen und tranken.

Jetzt waren alle Tische voll, bis auf den einen, an dem die beiden saßen, der Fuchs und Körbelius.

»Wir wollen gehen,« flüsterte der Kandidat dringend.

»Warum nicht gar.«

»Sehen Sie nicht, wie man uns mustert?«

»Meinetwegen, ich mustere wieder.« Gerhard zog Pfeife und Beutel aus der Tasche, stopfte die Pfeife, entzündete einen Fidibus und steckte den Tabak in Brand.

Draußen war's nun finster, und von den schwarzen, angelaufenen Fensterscheiben strahlte das rote Kerzenlicht zurück.

Noch einmal öffnete sich die Türe, und ein langer, hagerer Student betrat die Stube. Er war anders gekleidet als die übrigen, er trug einen grünen Frack, weiße Reithosen und schwere Reitstiefel. Ein Reitersäbel rasselte hinter ihm über die Bretter, und in der Linken hielt er eine mannslange Pfeife mit baumelnder, dreifarbiger Bundestroddel. Wortlos lüpfte er das Käppchen, wortlos hoben die andern ihre Mützen.

298 An zwei Tischen rückten sie enger zusammen, damit er sich zwischen sie setze, und einer rief: »Pleßbach!« Er aber winkte dankend ab, ging stracks an den Tisch neben dem Ofen, stellte seine Pfeife in die Ecke und nahm dem Kandidaten und dem Fuchsen gegenüber Platz.

»Wir wollen gehen!« flüsterte Körbelius und saß mit gesenkten Augendeckeln und gefalteten Händen.

»Wir bleiben,« erklärte der Fuchs.


Allgemach hatten die an den anderen Tischen ihr Abendessen beendet, überall flammten die Fidibusse auf, überall stiegen Tabakswolken zur niedrigen Decke empor. Sie saßen schweigend, die stolzen Herren Landsmannschafter, die sich hier fast täglich zum Essen und Vortrunk versammelten, ganz ohne Unterschied ihrer Farben.

Der vornehme Student, der zuletzt gekommen war, saß hinter seinem Kruge und blickte zur Decke empor, als säße er ganz allein in dem Gemache. Nachlässig saß er da, die Rechte hatte er auf die Eichenplatte gelegt, die gestiefelten Beine weit in die Stube gestreckt. Ein starker Siegelring gleißte am Zeigefinger der Rechten.

Nun geruhte er, die Pfeife aus der Ecke zu nehmen und das Mundstück zwischen die Zähne zu schieben. Dann kramte er in seiner Fracktasche, zog einen schlappen Tabaksbeutel heraus – und warf ihn über den Tisch, vor den Kandidaten: »Hier hat Er guten, roten Quack, stopf' Er mir damit meine Göttinger Pfeife!«

Verstohlen hatte der Fuchs den gewaltigen Studenten betrachtet. Aber nun riß er die Augen auf, und es entfuhr ihm ein halblauter Ausruf.

Nachlässig wandte sich der Bursche, rückte das Mützchen weit zurück aus der Stirne und sagte: »Es war mir doch, als hätte jemand etwas bemerkt, Körbelius?«

299 »Vielleicht einer, der mit den Gebräuchen dieser Hochschule noch nicht hinreichend vertraut ist, Herr Baron,« antwortete der Kandidat, stand auf, nahm den Tabaksbeutel, zog ihn auseinander, ging mit gesenktem Kopf um den Tisch herum und bückte sich auf den Boden, wo der leere Pfeifenkopf seiner Fütterung harrte.

Die an den nächsten Tischen wandten ihre Köpfe. Grinsende Gesichter waren dem Kandidaten zugekehrt.

»Niederknieen!« befahl der Bursche.

Gerhard hatte sich halb emporgerichtet und sah mit entsetzten Augen über den Tisch hinüber. Gehorsam kniete der Kandidat auf die Dielen. Der Bursch aber rümpfte die Nase, schnüffelte und bemerkte nachlässig: »Wie ist mir denn? Ich vermute, es riecht hier nach krassen Füchsen.«

Gerhard setzte sich. Er war rot geworden; krampfhaft hielt er sein Pfeifenrohr. Aber unverwandt blickte er dem Burschen ins Gesicht.

»So wird's nun schwerlich gehen, Körbelius,« belehrte der andere sein Opfer in väterlichem Tone. »Wie oft muß ich's noch sagen, bis Er sich's merkt? Nieder auf alle Viere und mit der rechten Vorderpfote stopfen – so, Hundsvieh!«

Körbelius kauerte auf Händen und Füßen vor dem Burschen.

»Hallo, Hallo!« riefen sie da und dort an den Tischen. Die meisten aber saßen still und warfen verächtliche Blicke auf das Opfer und seinen Peiniger.

Der Baron entzündete einen Fidibus an der Kerze und reichte ihn dem Kandidaten.

Nun erhob sich Gerhard. Die Pfeifenspitze behielt er fest zwischen den Zähnen, die Fäuste stemmte er auf den Tisch, und so brachte er zwischen den Zähnen hervor: »Ei, Herr Körbelius!«

Der zuckte zusammen. Aber mit gesenktem Kopfe blieb er hocken und steckte den Tabak in Brand.

300 Der Baron sog etliche Wolken aus dem Rohre, richtete sich ein wenig in die Höhe und rief über den Tisch: »Nun wird er aber frech, der krasse Fuchs! Was will er denn eigentlich da herinnen bei uns? Heda!«

Es war still geworden in der rauchigen Stube. Gerhard setzte sich wieder und betrachtete seinen Gegner mit großen Augen. Der Kandidat aber raffte sich auf, schlich mit eingezogenen Schultern dem Ausgang zu, riß die Türe auf und entwich.

»Wundere mich nur –,« begann der Fuchs mit heiserer Stimme. Er stockte, er schluckte, nahm die Pfeife aus dem Munde, räusperte sich und rief nun laut über den Tisch: »Wundere mich, daß Ihnen der dort nicht die Faust zwischen die Augen gepflanzt hat.«

»Und hättest du dies getan, mein Sohn?« erkundigte sich der Bursche.

»Da schau her, du –!« schrie nun Gerhard, hob die Faust und schlug sie mit aller Kraft auf das Tisch-Eck, daß es krachte und die Krüge umstürzten und das Bier über die Platte hinabrann. »Siehst du wohl?« Er riß das Tisch-Eck vollends ab, warf es auf die Platte vor den Burschen, steckte die Pfeife wieder zwischen die Zähne, paffte und stand auf.

»Bravo!« rief einer aus dem Haufen, der nun die beiden umdrängte.

Zornbebend und paffend standen sie sich gegenüber, gleich zwei kampfbereiten Doggen, die mit gefletschten Zähnen knurrend gewärtig sind dessen, was kommen muß, und den Staub der Straße wütend gen Himmel schleudern.

»Wer sind Sie?« schrie der Bursche.

»Ich heiße Gerhard Frey – und bin einer – der sich niemals etwas gefallen läßt – verstanden?«

»Ich bin der Baron Pleßbach, Sie aber sind ein dummer 301 Junge,« sagte nun der andere von oben her, paffte noch eine Rauchwolke über den Tisch, wandte sich und ging aus der Stube.

»Zweizöllig Holz,« erklärte einer der Burschen und nahm das Stück von der Platte.

»Wurmstichig?« fragte ein anderer, bückte sich und prüfte den Bruch. Drei, vier andere prüften mit der Kennermiene von Holzhändlern das abgeschlagene Stück. »Kerngesund,« lautete der Entscheid.

Gerhard stand noch immer neben seinem Stuhl, paffte und blickte feindselig auf die Burschen ringsumher.

Da drängte sich der Wirt durch den Haufen. »Zu dem Zweck, Herr Studioses, hab' ich fein den Tisch nit hereingestellt, daß Sie's nur wissen.«

»Ich heiße Gerhard Frey und komme für den Schaden auf,« erklärte der Fuchs so vornehm als möglich, zog seinen Beutel und warf einen Taler auf die Platte.

»Dann ist es gut, Herr Studioses, dann können Sie mir alle Abend ein Tisch-Eck abschlagen.«

Die Burschen lachten, und einer sagte zum Wirt: »Ich hoff' ja, Sie werden nicht zu kurz kommen bei dem Handel.«

Neben Gerhard trat nun einer mit gold-rot-goldenem Band über der Brust und raunte: »Wollen Sie auf einen Augenblick mit mir kommen?«

Wortlos folgte ihm der Fuchs auf die Straße.

Im trüben Lichte einer Öllaterne standen sie voreinander. Ein feiner Regen sprühte auf das glitschige Pflaster.

»Ich stelle mich Ihnen vor, ich heiße Wolfgang Eysen. Und Sie sind also Gerhard Frey? Neu angekommen?«

»Heute nachmittag, Herr Eysen.«

»Und gleich mitten hinein? Das muß ich sagen, das haben Sie forsch gemacht. Und jetzt müssen Sie's halt ausfechten – nicht?«

302 »Selbstverständlich,« sagte Gerhard. »Aber es war doch empörend, Herr Eysen?«

Der zuckte die Achseln. »Ist auch nicht nach meinem Geschmacke. Solche Leute wie den Körbelius läßt man einfach laufen. Aber wie sind denn Sie zu dieser Bekanntschaft gekommen?«

»Im Postwagen, Herr Eysen. Und warum wird er so mißhandelt?«

»Ja, warum?« Der andere lachte. »Sehen Sie, auf hohen Schulen ist man entweder ein Tisch-Eck oder man ist eine Faust – man trommelt oder man wird getrommelt. Und manche Menschen sind wohl von Natur zur Rolle des – Getrommeltwerdens bestimmt.«

»Aber warum bleibt dann solch einer am Ort?«

»Lieber Himmel, was weiß ich? Vielleicht muß er hier ein Stipendium verzehren. Vielleicht sind's Landesgesetze, die ihn zum Bleiben zwingen. Aber, was jetzt wichtiger ist – können Sie fechten?«

»Leidlich auf Stoß. Und was habe ich nun zu tun?«

Eysen wiegte den Kopf. »Ich will's Ihnen begreiflich machen. Der lange Pleßbach – nebenbei gesagt, sein Mundwerk ist tüchtiger als seine Fechtkunst – also, er hat Sie einen dummen Jungen geheißen.«

»Das brauchen Sie nicht expressis verbis zu wiederholen; ich habe ein gutes Gedächtnis.«

»Oho, Fuchs –!« Der Bursch war zurückgetreten. Dann aber lachte er gutmütig. »Sie sind ja ein ganz forscher Fuchs! Ich muß Ihnen doch den Fall klar machen. Also, Sie haben den Pleßbach durch den Faustschlag auf das Tisch-Eck beleidigt. Der animus iniurandi konnte aber zweifelhaft sein. Pleßbach hätte Sie koramieren dürfen, und Sie hätten ihm Rede stehen müssen. Doch er wählte den Weg der Avantage, das heißt er gebrauchte ein Schimpfwort und überbot Ihre 303 Beleidigung. Das Schimpfwort war das Stichwort zum Zweikampfe. Im Schimpfwort hat er kundgegeben, daß er sich mit Ihnen schlagen will. Wenn Sie ihn nun fordern, dann ist das nichts anderes, als daß Sie seine Herausforderung annehmen.«

»So ungefähr weiß ich das schon von meinem Bruder.«

»O, Ihr Bruder ist Student – wo denn?«

»In Jena.«

»Wenn Sie also den Pleßbach binnen drei Tagen nicht forderten, dann wären Sie ein Schisser.«

»Herr Eysen –!«

Nun lächelte der Bursche wohlwollend. »Es ist schwierig, mit Ihnen zu verkehren, Herr Frey. Aber ich vermute, Sie haben sich auf dem Pennal auch mit Bedingungssätzen herumgeschlagen. In unserm Fall handelt es sich um einen Irrealis. Weil Sie kein Schisser sind, werden Sie den langen Pleßbach fordern. Nicht?«

»So lautet's anders,« meinte der Fuchs und atmete auf. »Sie müssen entschuldigen, ich fühle mich noch nicht so ganz sicher auf hoher Schule und möchte mir beileib keine Blöße geben.«

»Noch nicht so ganz sicher –!« Nun lachte der Bursch. »O Himmel, wann hätte jemals ein krasser Fuchs also gesprochen?« Aber sogleich setzte er beschwichtigend bei: »Nichts für ungut. Ich werde also den Pleßbach in Ihrem Namen koramieren – das heißt fordern. Ist's Ihnen recht so?«

»Kann ich das nicht selber besorgen?«

»Was fällt Ilmen ein! Das dürfte nur ein alter Bursche, und dann auch nur sogleich, wenn das Schmähwort gefallen ist. Also, ich werde morgen meinen Ziegenhainer nehmen und dem Baron auf die Bude steigen.«

»Ich bitte Sie darum. Aber was tun Sie denn mit dem Ziegenhainer bei diesem Besuch?«

304 »Den Ziegenhainer muß ich beim Koramieren in der Hand haben, so will's der Komment. Aber nun weiter im Text. Zeit und Ort bestimmt der Beleidiger, also Pleßbach. Wollen Sie eine Frist zum Einpauken?«

»Ich gehe morgen los, wenn es sein kann.«

»Na, das wollen wir noch sehen. Ich werde Sie zunächst morgen auf den Fechtboden bringen, da können Sie sich zeigen. Abgemacht?«

»Bin Ihnen kolossal dankbar, Herr Eysen.«

»Lassen Sie nur. Ich denke, Sie sollen ein wackerer Bursch werden.«

»Helfen Sie mir dazu!« Gerhard streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich schlage ein. An mir soll's nicht fehlen, wenn Sie mir das Vertrauen schenken. Aber zunächst haben Sie sich einen zum Feind gemacht, hinter dem eine große Gesellschaft steht.«

»Meinetwegen.«

»Na, so einfach ist das nicht, Fuchs. Müssen sich halt auch einer Gesellschaft anschließen. Der einzelne gilt nichts auf hohen Schulen.«

»Mein sehnlicher Wunsch.«

»Landsmann?«

»Franke.«

»Gut, ich werde Sie morgen besuchen – um neun Uhr. Bude –? Ah, bei der schwarzen Moral! Hören Sie, das ist eine vortreffliche Studentenmutter. Und wenn man sie Ihnen etwa verleiden wollte, dann glauben Sie's ja nicht. Aber ich will nun bezahlen.«

»Und ich bin müde, ich lege mich schlafen,« sagte der Krasse.

Er ging hocherhobenen Hauptes heim.

Ehe er sich zur Ruhe legte, öffnete er noch einmal das 305 Pult und strich liebkosend über den eingeschnittenen Namen seines Vaters. –

Der Bursche Eysen aber hatte zur selbigen Stunde noch eine längere Unterredung mit einer gewichtigen Persönlichkeit – mit Rumpel. Und zum Schlusse dieses Gespräches grinste Rumpel, der Wackere, übers ganze Gesicht und sagte: »Den wollen wir kriegen, den lassen Sie mir.« 306

 


 


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