August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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3. Aus allen Fugen

In den eisernen Mauerringen des inneren Schloßhofes staken brennende Fackeln, und in den Pfannen zur Rechten und Linken des wappengeschmückten Portals flammte das Pech. Ein Reisewagen hielt vor den ausgetretenen Steinstufen, ein großer Reisewagen mit vier starken Pferden bespannt. Diener rannten über den Schloßhof, Hunde bellten, Türen schlugen.

Droben im Zimmer des regierenden Grafen standen offene Koffer, und ein kleiner, weißhaariger Lakai lief geschäftig auf leisen Sohlen hin und her. Am Fenster lehnte der alte Herr, reisefertig, mit dem Hut auf dem Kopf und dem spanischen Rohr in der Rechten, und starrte hinunter in den Hof.

»So müssen Wir also in der Nacht wie ein Dieb aus dem Hause Unserer Väter.« begann er. »Und was sagst du dazu, Linhard?«

Der Weißhaarige hielt inne und antwortete mit gedämpfter Stimme: »Hochgräfliche Exzellenz, das Herz möcht' sich einem umkehren im Leibe.«

»Es ist unerhört und seit den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges nicht mehr dagewesen,« sprach der Graf halb zu sich selber, halb zu seinem Diener.

»Die Welt ist wie ein altes Gewand, hochgräfliche Exzellenz, die Nähte gehen auseinander. Die Gottlosigkeit ist noch nie so groß gewesen, und der Übermut der Menschen stinket gen Himmel.«

Der Graf nickte und murmelte Unverständliches. Der Weißhaarige aber hantierte gebückt über seinem Koffer.

»Die Bürger sind im Fetten Ochsen und halten einen Rat, hochgräfliche Exzellenz,« begann er nach einer Weile wieder.

52 »Und was ratschlagen sie denn, Unsere Bürger?«

»Aufrührerisches, hochgräfliche Exzellenz.« Der Weißhaarige schloß einen Kofferdeckel und zog die Riemen zusammen.

»Alles wollen Wir wissen, Linhard!« Der regierende Herr stampfte. »Alles, hörst du?«

»Man sagt, jetzt kommt eine neue Zeit, jetzt geht's den Großen an den – um Vergebung, hochgräfliche Exzellenz, das bring' ich aber doch nicht heraus.«

»An den Kragen,« vollendete der Graf mit Würde.

»Jawohl, Exzellenz. Und es ist ein gewaltiges Geschrei im Fetten Ochsen. Der Christian hat's vorhin heraufgebracht. Die Ärgsten unter ihnen haben rote Mützen auf den Köpfen, und den Koram haben sie zu ihrem Führer gewählt – den Schneider Koram.«

»Den langen Kerl, den? Und was will denn die Kanaille?« Der Graf stieß den Stock auf den Teppich.

Der Weißhaarige zog den letzten Riemen fest, keuchte und zuckte mit den Schultern. »Sie sagen, alles Gute kommt von den Franzosen und alles Schlechte vom Kaiser.«

»Und ist denn niemand, der ihnen mores lehrte?« rief der alte Herr.

»O ja, der Herr Kanzleidirektor und die Herren Räte sind ja auch im Fetten Ochsen gewesen, und der Herr Assessor hat gegen den Koram reden wollen, aber –«

»Was aber –?«

»Nu, der Christian sagt, man hat sie alle miteinander ohne viel Worte aus dem Saal geschoben.«

»Und das haben sie sich bieten lassen?«

»Hochgräfliche Exzellenz –«

»Das geht ja gegen Uns und Unser Haus –!«

»Möcht' ich, um Vergebung, hochgräfliche Exzellenz, möcht' ich nicht behaupten.« Der Weißhaarige machte ein geheimnisvolles Gesicht: »Der Zeitgeist ist's. Und der geht nicht gegen 53 ein einzelnes Haus, der geht gegen alles, was hoch ist. Soll alles hübsch klein und niedrig werden, daß man drüber hupfen kann, wie über'n Maulwurfshaufen. Und ist ein Gerede im Volk: die Großen müssen fort, je eher desto besser. Gegen uns marschieren die Franzosen nicht, nur gegen die Großen –.«

Es pochte an der Türe, und der junge Graf kam in den spärlich erleuchteten Raum. »Herr Papa, ich dächte, es wäre höchste Zeit. Die gnädige Frau Mama sitzt schon im Wagen.«

»Und also meinst du wirklich, daß ich fortgehe?« Der große alte Herr hatte sich vorgebeugt, stieß den Stock immer wieder auf den Teppich und sah den Sohn zornig an. »Fortgehe wie ein Verbrecher aus dem Hause meiner Väter? Statt daß ich die Brücke aufziehe und meine Diener an die Schießscharten postiere, ich, ein regierender Graf des Reiches?«

Der junge Herr machte eine Handbewegung, und der Weißhaarige schlich aus der Türe.

»Herr Papa, ich bitte Sie, bedenken Sie doch die Zeiten, in denen wir leben. Was wollen Sie mit den paar Dienern? Wollen Sie sich den Zufälligkeiten einer Invasion aussetzen? Wollen Sie in die Hände wütender Jakobiner fallen?«

»Oder wollen Sie ein Feigling werden, hochgräfliche Exzellenz?« unterbrach ihn der alte Herr mit hartem Lachen.

»Sie nennen Feigheit, was nur ein Akt der Klugheit ist. Wer stellt sich ins Flußbette, wenn Hochwasser einherbraust? Kann man denn nicht abseits gehen und warten, bis sich alles wieder verlaufen hat?«

»Jawohl,« fuhr der alte Herr auf, »ich weiß schon, du bist auch so ein Revolutionär, so ein Jakobiner!« Heftig stieß er den Stock auf den Boden. »Wundert mich nicht, wenn du eines Tages auch eine rote Mütze aufsetzest, vor mich hintrittst und mir erklärst, daß alles in der Welt seinen gewiesenen Gang geht, und daß uns im Grunde nur recht geschieht.«

54 »Daß ich gerade eine rote Mütze aufsetze, brauchen Sie nicht zu fürchten. Daß aber manches von dem, was geschieht, die Folge alten Unrechts ist –«

»Dummes Zeug!« rief der regierende Graf. »Ich sehe nicht ein, warum ich fort soll. Oder hab' ich etwa ein schlechtes Gewissen, wie ein schlechter Regent? Hier haben meine Väter gelebt und gelitten, gehofft und gezagt, tausend Jahre lang. Und hier ist mein Platz. Und wenn ich in einem Augenblicke der Schwachheit eingewilligt habe –«

Der alte Kammerdiener glitt wieder ins Gemach: »Hochgräfliche Exzellenz, die Bürger kommen, der ganze Vorhof ist voll Menschen.«

»Und was wollen denn Unsere Bürger?« rief der alte Herr.

Der Sohn aber war an's Fenster getreten. Und erschrocken wandte er sich: »Es ist wahr, sie dringen schon in den inneren Hof, und viele von ihnen haben die rote Mütze auf dem Kopf.«

Der alte Herr hatte sich hoch aufgerichtet: »Wenn Uns die Herren Bürger besuchen, dann gebietet es die Höflichkeit, daß Wir ihnen entgegenkommen.«

»Papa, ich beschwöre Sie! Ich vermute, es fehlt Ihnen die nötige Ruhe.«

»Soviel der Ruhe Wir bedürfen, soviel steht Uns auch zu Gebot,« sagte der alte Graf. »Und nun Platz, Herr Sohn, wenn's gefällig ist!«

Die breite Stiege herauf kam ein Trüpplein Menschen, und im Lichte der Öllampen erkannte der alte Herr den Direktor und die Räte.

Der Direktor blieb stehen, zog den Hut und machte die vorgeschriebene Kniebeuge. »Hochgräfliche Exzellenz, Revolution – retten Sie sich – diese Jakobiner, diese –!« Erschöpft hielt er sich am Geländer und murmelte: »Wenn mich heute nacht noch der Schlag trifft, dann hab' ich's.«

55 »Es ist alles geschehen, was geschehen konnte,« ergriff der älteste Rat das Wort. »Aber die Bürgerschaft ist rabiat, wir haben gar nichts zu verhindern vermocht. Man will absolut mit Eurer hochgräflichen Exzellenz sprechen.«

»Dann vorwärts, hinaus in den Hof!« befahl der alte Herr mit heiserer Stimme.

»Noch einmal, Herr Papa!«

»Laß mich!« Der Graf stieß die Hand seines Sohnes zurück und schritt die Treppe hinunter.

Vor dem Portale, im Scheine des Pechfeuers, stand in Reisekleidern die alte Gräfin.

»Liebster Schatz,« der Graf verneigte sich auch in diesem Augenblicke noch ritterlich, »tu mir den Gefallen und begib dich zurück ins Haus. Ich habe mit denen dort ein paar Worte zu reden.«

»Wo du bist, da bin ich auch,« sagte sie und ergriff seinen Arm.

Hinter die beiden trat der junge Graf, und im Portale drängten sich die Beamten.

Der alte Herr machte sich mit sanfter Gewalt von der Gräfin frei und rief zurück: »Wir bitten und befehlen, Uns ungestört mit den Bürgern reden zu lassen.«

Und nun ging er um den Reisewagen und rief gegen den dunkeln Haufen, der murmelnd bis in die Mitte des Hofes vorgedrungen war: »Was suchet ihr zu nachtschlafender Zeit in Unserm Schlosse?«

Das Gemurmel verstummte, und eine Stimme antwortete: »Zu Ihnen wollen wir, Herr Graf.«

»Zu Ihnen!« schrieen etliche aus dem Haufen.

Der alte Herr stand groß und schlank, ein wenig nach vorn geneigt, auf seinen Stock gestützt, und strich sein glattes Kinn.

»Wenn ihr alle durcheinander schreit, dann können Wir's nicht verstehen, was ihr wollt. Habt ihr denn keinen Sprecher?«

56 Eine lange Gestalt löste sich aus dem Haufen. Der Schneider Koram tat etliche große Schritte gegen den Grafen. Da hob dieser das Rohr und rief: »Nicht weiter, wenn's beliebt! Wir haben scharfe Ohren.«

Der Schneider schwenkte seine rote Mütze, stülpte sie wieder auf den Schädel und sprach mit schallender Stimme: »Kann mir denken, daß wir Ihnen gerade nicht willkommen sind, Herr Graf. Aber das ist halt nicht zu ändern und macht auch weiter nix. Wir stehen da auf unsern Menschenrechten, und die sind gerade so groß, wie die Menschenrechte, auf denen Sie stehen, Herr Exzellenz. Und also haben wir beschlossen, daß Sie nimmer länger im Land bleiben können.«

Der Graf stützte sich nun mit zwei Händen auf den Knopf seines Rohres und rief mit bebender Stimme: »Und warum sollen Wir außer Lands fahren?«

Schneider Koram spreizte sich, wiegte sich in den Hüften und ging einen Schritt vor. Der alte Herr aber richtete sich hoch auf und nahm sein Rohr fest in die Rechte.

Es war still im weiten Hof. Die Fackeln qualmten, das Pech in den Pfannen vor dem Portale prasselte, und eines von den Pferden am Reisewagen begann heftig zu scharren. Wie ein Gockel die Flügel hebt, eh' er zu krähen beginnt, so hob der Schneider die Arme, ging noch einen Schritt vor und rief ganz laut, daß man's weithin vernahm: »Schauen S', Alterle, und sind S' halt g'scheut. Es soll Ihnen ja nix geschehen. Aber die Franzosen kommen, und da können wir Ihnen halt nimmer brauchen. Denn die Franzosen, na das wissen S' ja selber, die haben halt so einen Widerwillen – na ja. Also fortgejagt werden S' doch, also ist's besser, wir besorgen das gleich selber. Und so viel werden S' wohl einsehen, so gescheut sind S' doch auch noch.«

Schneider Koram war nun ganz nahe herangetreten. Im Antlitz des Grafen bewegte sich keine Muskel, halb 57 geschlossen waren seine Augen. Und so konnte Schneider Koram die Wirkung seiner Rede nicht recht ermessen. Er hob die Hand und gedachte dem alten Herrn zur Befestigung der Gleichheit recht wohlwollend auf die Schulter zu klopfen.

Langsam nur konnte sich der Graf aus seiner Erstarrung emporraffen. Und langsam hob er das Rohr.

»Koram!« rief warnend einer aus dem Haufen.

Der Schneider aber war von allen Geistern der Vorsicht verlassen, klopfte den Grafen wahrhaftig auf die Schulter und sagte: »Also gelt, Alter, abgemacht, friedlich, schiedlich!«

Da sprang der Graf zurück, und da hatte aber auch der Bürger Koram schon einen Hieb über dem Schädel, daß seine Jakobinermütze aufs Pflaster flog.

Laut auf kreischte er und warf die Arme in die Höhe. Vom Schloß her stürzte der Erbgraf, stürzten die Beamten, die Diener, aus dem Haufen der Bürger lösten sich etliche Gestalten.

Hoch aufgerichtet stand der Graf und schwang sein Rohr. »Zurück!« herrschte er die Seinen an.

»Haltet mich, haltet mich, sonst gibt's ein Unglück,« heulte Koram, raffte seine Mütze vom Pflaster und wich mit vorgestreckten Fäusten schrittweise zurück. Sechs, acht Hände griffen nach seinen Schultern und Rockflügeln und zerrten an ihm.

»Da seht ihr's!« kreischte Koram. »So gehen sie mit dem Volk um.«

»Was brauchst denn du auch so frech losgehen auf den alten Herrn?« sagte einer.

Der Graf aber trat näher an den Haufen heran und rief: »Ihr Leute, da habt ihr euch einen rechten Esel zum Redner gewählt. Ist keiner da, der's besser kann?«

Der tiefgekränkte Schneider wollte etwas erwidern, aber sie zogen ihn gar zurück in die Menge, und einer hielt ihm den Mund zu.

58 »Nun also, was ist's?« fragte der Graf und sah von einem zum andern.

Aus dem Haufen löste sich ein kleiner Mann, den die andern vorwärts drängten: »Hochgräfliche Exzellenz!«

»Wer ist Er?« fragte der Graf von oben herab.

»Aber, aber – hochgräfliche Exzellenz werden mich wohl noch kennen – oder nicht? Wär's möglich, Exzellenz? Ich bin ja der Studienlehrer Pieperich –«

Der alte Herr hielt die Hand ans Ohr und schüttelte das Haupt.

»Doktor Pieperich –!« Der Studienlehrer rang nach Fassung.

»Gänzlich unbekannt,« sagte der Graf und stützte sich wieder auf sein Rohr. »Und was hat Er mir zu sagen?«

»Hochgräfliche Exzellenz wissen – es ist allgemein bekannt – die Franzosen – General Jourdan – wenn hochgräfliche Exzellenz erwägen zu wollen geruhen – ob Sie nicht hochihre Person beizeiten in Sicherheit zu bringen –?«

»Ach so, ich verstehe. Nun, Leute,« unterbrach der Graf das Gestotter, »ihr seid besorgt um Uns und Unser uraltes Haus – oder ist's nicht so?«

»Gewiß,« versicherte Pieperich und machte einen Kratzfuß.

Mit erhobener Stimme aber fuhr der alte Herr fort: »Nehmt Unsern gräflichen Dank für eure Fürsorge. Wir werden es euch sobald nicht vergessen, daß ihr da nächtlicherweile heraufgestiegen seid.«

Ein Murmeln erhob sich im Haufen, und Pieperich sagte: »Deshalb hat mich eine Bürgerschaft beauftragt –«

Aber der Graf unterbrach ihn mit scharfer Stimme: »Und jetzt geht heim, ihr Leute, und legt euch aufs Ohr und überlaßt eurer Obrigkeit« – seine Stimme klang mächtig über den Schloßhof – »für sich selber zu sorgen.« Dann rief er zurück zum Portale: »Ausspannen! Wir fahren nicht.«

59 Die Lakaien sprangen vom Brette – in der Menge aber wuchs das drohende Gemurmel.

Da tönte vom Vorhofe herein der Laufschritt einer Truppe. Das Tor ward helle von qualmenden Fackeln, und in Gliedern zu dreien rannte eine Schar in den Schloßhof. Hochauf reckte sich der Graf und spähte hinüber, und ein freudiges Lächeln zuckte über sein faltenreiches Gesicht.

Bis in die Mitte des Schloßhofes rannte die Schar, dann gebot ihr eine dröhnende Stimme halt.

Mit einer leichten Handbewegung wandte sich der Graf gegen den Haufen der Bürger. Und grollend verzogen sich die Leute rückwärts zum Tore.

Vor dem Grafen aber stand der Forstmeister mit gezogenem Hirschfänger und meldete: »Einundzwanzig hochgräfliche Jäger warten auf Eurer Exzellenz Befehle.«

»Wer hat dich denn gerufen?« fragte der Graf in gnädigem Tone.

»Die von der grünen Farbe kommen gerufen oder ungerufen immer zur rechten Zeit, hochgräfliche Exzellenz, und sind bereit Tag und Nacht.«

»Ganz ungerufen,« wiederholte der Graf leutselig. »Und warum denn?«

»Schlechte Witterung, hochgräfliche Exzellenz,« sagte der Forstmeister. »Habe mir heute vormittag schon gedacht – wer weiß – –? Und habe Boten laufen lassen zu meinen Leuten.«

Wohlgefällig nickte der alte Herr. »Unsre Soldaten, die müssen Gänse hüten, Federn schleißen, und Unsre Federfuchser und Tintenschlecker müssen in ihre Hosen –. Nur Unsre Grünröcke, auf die können Wir Uns halt verlassen. Aber wißt ihr denn nicht,« – er trat nahe an die Forstleute – »die Franzosen kommen, da solltet ihr bei euern Weibern und Kindern bleiben und nicht an euern alten Herrn und Landesvater denken – was?«

60 Ein schneeweißer Förster sagte ehrerbietig: »Wer von uns verheiratet ist, der hat Weib und Kinder in Sicherheit gebracht, hochgräfliche Exzellenz.«

»Wo ist Sicherheit in solcher Zeit?« fragte der Graf und sah freundlich auf den Sprecher.

»Hochgräfliche Exzellenz, da weiß jeder von uns einen Unterschlupf, den ihm keiner so leicht ausspürt,« sagte der Förster.

»Kann sein,« erwiderte der Graf nachdenklich. »Aber trotzdem, die Verheirateten unter euch – wie viele?«

»Neune,« meldete der Forstmeister.

»Also die neune können etliche Stunden ausruhen und dann – keine Widerrede – marschieren sie heute nacht noch ab zu Weib und Kind. Die andern bleiben zu Unserm Schutze hier oben.«

Stille standen die Grünröcke. Die Koffer waren wieder abgeschnallt, und im Schritt fuhr die Reisekutsche in den Vorhof hinaus.

Erregt stieß der Graf seinen Stock aufs Pflaster: »Seht, Leute, da wären Wir nun auf ein Haar bei Nacht und Nebel aus Unserm Schlosse fortgefahren. Aber da ist die Kanaille heraufgekommen und hat Uns wollen abschieben.« Er schüttelte den Stock gegen den Torbogen hin. »Uns, ihren Landesvater!«

Der Forstmeister reckte sich. »Leute,« rief er mit schallender Stimme, »wer ein treuer Gräflicher ist, der rufe mit mir aus voller Kehle – Seine hochgräfliche Exzellenz, unser allergnädigster Landesherr, vivat hoch!«

»Vivat hoch!« schallte es aus rauhen Kehlen zum nächtlichen Himmel empor.

Der Graf hatte sein Haupt entblößt. Jetzt trat er zum Forstmeister und schüttelte ihm die Hand. Tränen rollten über seine Wangen. »Dank euch, ihr Leute, ihr habt Uns 61 unsäglich wohlgetan. Aber nun laßt euch Essen und Trinken schmecken unter Unserm Dache. Und du bist Unser besonderer Gast, lieber Forstmeister.«

Langsam ging er über den Hof. Am Portale des Schlosses standen die Räte mit dem Direktor in einem dunklen Häuflein. Einen Augenblick machte er halt vor seinen Beamten und musterte jeden von ihnen. Dann griff er an den Hut, nickte und verschwand.

*

Schneider Koram ging mit den andern die staubige Landstraße hinunter ins Städtlein. Sein Schädel tat ihm weh, und er fluchte leise vor sich hin. Verschwor sich, hauen hätte er den alten Mann wohl können, aber nicht mögen. Rächen wolle er sich, gewiß und wahrhaftig, noch einmal an Seiner Exzellenz.

Später, ja später, nachdem es ihm so schlecht ergangen, ward er anders gesinnt. Und sie fragten ihn zuweilen: »Schneider Koram, ei, warum hast du denn dem Grafen nicht wieder eins übergezogen?« Da pflegte er nachdenklich zu antworten: »Ei, ich könnte nun sagen, weil er ein alter Herr war. Aber das wäre gelogen. Wißt,« – und er legte dann immer den Zeigefinger an die Stirn und sah tiefsinnig aus – »wißt, solch ein Herr hat etwas – es ist doch anders, wenn ich vor solch einem stehe als vor Gevatter Schuster und Schmied. Er hat's in seinen Augen; mit denen kann er einen fernhalten – – so fern als er will.«

*

Im Zimmer des regierenden Herrn brannte eine Öllampe, und ihre schwache Flamme warf einen Lichtkreis empor an die vertäfelte Decke.

Der Graf war in den Lehnstuhl am Kachelofen gesunken – an dem Kachelofen, der das Wappen des Hauses und acht 62 Ahnenwappen eines Vorfahren in gebranntem Ton trug und schon sechs Geschlechter gewärmt hatte.

Die Gräfin saß auf einem schmalen Sofa, hochaufgerichtet, ohne sich anzulehnen. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet, und ihre guten, lieben Augen schwammen in Tränen. Am Fenster, neben einer Palme, stand der Erbgraf.

Der Regierende sah bleich und verfallen aus. Drunten im Hof, ja, da war er der große Herr gewesen; aber jetzt, inmitten der Seinen, war er der alte Mann, der sich mit Entsetzen in einer Zeit fand, die er nicht mehr verstehen konnte.

»Ich habe mir sehr wehe getan,« sagte er mit schwacher Stimme. »Es geht zum Ende. Die Kanaille springt uns an den Hals. Und nun kommen die Franzosen und bringen ihre Guillotine. –« Er stand mühsam auf. »Man ist sorglos gewesen, man hat gelebt, als hätten alle unsere Institutionen ewige Dauer, und man hat die Nattern wachsen lassen. Man hätte ihnen beizeiten die Köpfe zerdrücken sollen.«

Der Erbgraf murrte leise.

»Hast du etwas zu bemerken?« fragte der alte Herr und begann auf und ab zu wandern.

»Ja wohl, Herr Papa. Man hat gelebt, als wäre das Volk allein für den Adel geschaffen. Man hat sich in den Gedanken einer Gottähnlichkeit hineinphantasiert und ist so ferne gewesen wie nur jemals von Gott. Nun aber graut einem, weil Titanen von unten emporklettern und grobe Steine in die mühsam geschaffene Herrlichkeit werfen.«

»Titanen!« Der alte Herr richtete sich straff auf. »Solche Titanen wie der Schneider Koram einer ist – die zerdrücke ich heute noch mit zwei Fingern. Die Masse ist's! Die Masse zerbricht die Zäune, und die Masse wird uns den Garaus machen. – Aber ich weiß schon, du bist auch solch ein Jakobiner.«

63 »Herr Papa, ich bitte Sie –!«

»Still, still! Und wann haben denn wir vom Schweiße des Volkes gepraßt? Schlecht und recht haben wir gelebt als die Schutzherren des Volkes, haben Freude mit ihm geteilt und sind im Leid gewesen wie seinesgleichen – Weißt du noch, wie sie den Ahnherrn Joachim haben mit Tränen gebeten, daß er bei ihnen bleibe – damals – –?«

»Im dreißigjährigen Kriege, Herr Papa. Es ist schon lange her und steht in der Chronik geschrieben.«

»Und heute?« Der alte Herr stampfte. Dann aber ging er Schritt vor Schritt an den Lehnstuhl und sank hinein.

Die Gräfin hatte sich erhoben und trat neben ihn: »Du kannst es zwar nicht leiden, wenn Frauen in solchen Sachen mitreden, Geliebter –«

»O sprich nur, sprich nur!« Er ächzte. »Alle Ordnung geht ja aus den Fugen. Warum solltest du dann nicht auch dreinreden dürfen?«

»Ich will nichts reden von diesen Zeitläuften,« sagte sie und fuhr liebkosend über seinen Scheitel. Sie atmete tief auf und faltete die Hände unter der Brust. »Aber das weiß ich und steht mir unverrückt, und wenn sie uns das Schloß heute nacht herunterbrennen: Wider die göttliche Ordnung können sie niemals.« Sie richtete die Augen empor, beugte das Haupt zurück und sagte feierlich: »Was toben die Menschen gegen die Gesetze Gottes? Und ist ihnen doch alles so fest bestimmt, wie dem Strome sein Bett und wie dem Meere sein Becken. Und wenn auch der Strom die gelben Fluten weithin rollen läßt über Äcker und Wiesen und Dörfer, er muß dennoch wieder zurück in sein Bett nach abgemessener Zeit; und wenn auch das Meer seine Wogen ausschüttet über die Küste – mag ihm Sand und Gestein und fruchtbares Land zum Opfer fallen, viel Sand, viel Gestein und viel fruchtbares Land – Land muß dennoch Land bleiben vor 64 unsern kurzsichtigen Augen, und Meer muß Meer sein, und sind beide voneinander geschieden für alle Zeit. Darum lasset sie toben und wartet auf die endliche Scheidung!«

Der alte Herr saß stille in seinem Stuhle; der Erbgraf trat neben seine Mutter und griff nach ihrer Hand, beugte sich tief herab auf diese Hand und küßte sie voll Ehrfurcht.

Noch einmal fuhr die Linke der Gräfin liebkosend über den Scheitel des alten Mannes, während die Rechte dem Sohne mit festem Druck seine Liebe vergalt.

»Ich muß jetzt sehen, ob unsre braven Grünröcke versorgt sind. Und dann ziehe ich mich zurück. Schlaft wohl!«

Sie ging aus der Türe.

Der Erbgraf ließ sich auf ein Knie nieder, faltete die Hände auf der Armlehne des Stuhles, und seine Augen suchten die Augen des Vaters.

»Die Frau Mama ist eine herrliche Frau; immer findet sie das Richtige – ihr Gottvertrauen ist unerschütterlich, und sie kommt mir zuweilen vor wie eine germanische Seherin, von denen die Römer erzählen.«

Der alte Herr machte ein grimmiges Gesicht und kämpfte mit dem Weinen: »Weiß wohl, bin ihrer gar nicht wert – so ein – alter – häßlicher Hengst.«

Unbekümmert aber fuhr der Sohn fort: »Mit Ihrer Permission, Herr Papa. Die gemeinsame Liebe zu diesem Engel in Menschengestalt sollte doch mächtig genug sein, auch die Steinchen des Anstoßes zwischen uns beiden aus dem Wege zu räumen.«

»Dummes Zeug!« Der Alte schob den Sohn unwirsch zur Seite. »'n Engel ist sie niemals gewesen, und der Graf Johann hätte auch niemals 'n Engel geheiratet.« Er stand auf. »Aber so bist du, immer im Überschwang wie ein bleichsüchtiger Backfisch. Deine Mutter steht mit zwei Beinen auf Gottes Erdboden, und nur der Kopf ragt zum Himmel empor. 65 Und so ist's recht. Sie hat einen guten, einfachen Glauben, und an dem hab' ich mich oft schon auferbaut. Und so ist sie eine ganze Frau, eine Reichsgräfin von der Haube bis zum Saum ihrer Schleppe – aber kein Engel, dummes Zeug – ich bitt' mir's aus.«


Der alte Kammerdiener hatte seinen Herrn entkleidet und ihn zu Bett gebracht wie ein Kind. Jetzt lag der regierende Herr auf dem Rücken und hatte die Hände über der Brust gefaltet.

»Die verheirateten Grünröcke sind fort?« fragte er.

»Sind alle fort, hochgräfliche Exzellenz. Wie auch der Herr Erbgraf.«

Der Alte nickte. »Mag er reiten, der Besserwisser. Und die Zugbrücke ist wahrhaftig aufgezogen?«

»Sie arbeiten noch daran, Exzellenz. Es ist alles verrostet. Aber in kurzem wird sie droben sein.«

»Beten!« befahl der Graf.

Da kniete der Weißhaarige am Bette nieder und faltete die Hände. »Welches Lied befehlen Eure hochgräfliche Exzellenz?«

»Das Wald- und Feldlied,« entschied der Graf.

Da betete der Diener:

»Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Städt und Felder,
es schläft die ganze Welt.
Ihr aber, meine Sinnen,
auf, auf, ihr sollt beginnen,
was eurem Schöpfer wohl gefällt.«

Und er betete in tiefer Andacht, mit schöner Betonung alle Strophen des alten Liedes.

Dann sagte der Graf: »Wir haben Uns heute sehr wehe getan.«

»Die Menschen können's nimmer verantworten,« seufzte der Diener.

66 »Du bist eine gute Haut. Du kannst nun gehen. Und du tätest niemals Revolution gegen Uns machen, gelt?«

»Niemals,« beteuerte der alte, wackelige Mann.

*

Es ging auf Mitternacht.

Draußen an der Freitreppe des Doktorhauses hielt ein gräflicher Reitknecht mit zwei gesattelten Pferden und einer Traglaterne, und in der großen Stube des Arztes, gleich unten zur Linken neben dem Hausflur, stand der Erbgraf. Auf dem Schreibtische brannte eine Talgkerze.

Der Graf war reisefertig und hielt den Reitstock in der Hand. Der Doktor lehnte am Kachelofen.

»Auch ich bin kein Prophet,« sagte der Doktor. »Aber kläglicher und erbärmlicher – verzeih' mir – als unter der Regierung eines Kanzleidirektors Blitz kann's doch nicht zugehen, wenn die Franzosen kommen.«

»Den habt ihr ja glücklich losgekriegt heute abend,« meinte der Erbgraf. »Doch wer führt nun eigentlich das Regiment in meines Vaters Stadt, wenn ich fragen darf?«

Der Doktor schwieg.

»Vielleicht der Schneider Koram?« erkundigte sich der Erbgraf.

»Und schlimmer als die Kaiserlichen können die Franzosen auch nicht sein,« sagte der Arzt.

»Doktor, wir hatten nicht zu klagen über die Kaiserlichen. Auch nicht über die Freikorps.«

»Und warum hatten wir nicht zu klagen?« Der Arzt ballte die Fäuste. »Weil ihr zufällig mit ihrem General vervettert seid.«

»Vervettert. Also gut, Doktor, so hatte man die kaiserlichen Freikorps wenigstens – wie sag' ich doch gleich? – die hatte man in der Hand, gleichviel auf welche Weise. Aber zwischen uns und diesen Franzosen gibt's vorderhand nichts, rein gar nichts Gemeinsames.«

67 Der Arzt reckte sich: »Was sag' ich denn? Wegen der Vetternschaft, nur wegen der Vetternschaft haben die Kaiserlichen draußen, hinter den hochgräflichen Dörfern, geplündert und geraubt, und um die hochgräfliche Residenz und die Dörfer sind sie herumgegangen. Nur wegen der Vetternschaft! Wenn doch –!« Seine Stimme hatte sich erhoben. »Wenn doch der Satan das ganze Wort stückweise verschlänge! Das ist ja die Seuche, an der wir alle krank sind im heiligen römischen Reich – die Vetternschaft. Bei Gott – ich weiß wohl, es muß sich immer wieder zueinander gesellen, was vom gleichen Blute stammt, und ist auch also recht und gut mit Maß und Ziel. Aber zur Seuche darf's nicht werden. Recht und Billigkeit müssen stärker sein als Fleisch und Blut, und da ist der Mensch am größten, wo er Gerechtigkeit übt wider sein Fleisch und sein Blut. Aus dem kleinsten Vereine von Mann und Weib und aus dem Häuflein der Kinder einer Hütte ist das Volk emporgewachsen. Aber das Glied ist geringer als der ganze Leib, und wenn sich das Glied ein Vorrecht herausnimmt vor dem Ganzen, dann geht das Ganze in Brüche.«

Der Graf hatte sich einen Stuhl genommen, saß nun rittlings und stützte das Kinn auf die Lehne.

»Bist du fertig?« fragte er. »Gut. Und wem predigst du eigentlich dies alles?«

»Ich muß mich aussprechen,« murrte der Arzt.

»Also was Neues hast du mir gottlob doch nicht sagen wollen, Doktor?« Er sprang auf und hieb ein paarmal durch die Luft. »Wer ist mit euch auf hohen Schulen gesessen und wer hat mit Strömen von Bier begossen, was in ihm glühte wie in jedem von euch? Und wer hat mit euch den heiligen Bruderschwur getauscht, wer hat seinen Adel gegen die Freiheit, seine Vorrechte gegen die Gleichheit zu Markte getragen und dem Zorn seines Vaters und« – er lachte laut auf – 68 »dem Fluche all seiner Ahnen getrotzt um der Brüderlichkeit willen?«

Der Doktor trat vor und streckte ihm die Hand entgegen. »Du – das weiß ich ja.«

Der Graf wollte die Hand nicht sehen, und der Doktor zog sie zurück.

»Und wer hat mit euch geschwärmt und gehofft, gewünscht und heimlich den Boden bereitet, daß der fliegende Samen aus Westen tief hinein zu dringen vermochte? Und wer ist fester überzeugt, daß alles anders werden muß? Und wer, sag' mir, wer wird am meisten verlieren, wenn einst das Alte stürzt?«

»Du!« rief der Doktor. »Also was trennt uns denn heute?«

»Was uns heute trennt? Die hausbackene Klugheit, sonst nichts. Seid ihr denn Kinder, daß ihr Blindekuh spielen wollt mit den wilden Haufen, die jetzt heranziehen? Seid ihr denn Wahnsinnige, daß ihr euch vom Pöbel der Gasse die Freiheit erhofft? Wer hat eigentlich heute nacht das Regiment in dieser Stadt? Und wer wird morgen im Namen der Stadt mit den Franzosen verhandeln wollen? Sicherlich der Schneider Koram. Nur werden die Franzosen selber sich wohl zunächst lieber an den Schultheiß halten. Pfui Teufel, Doktor, vor Schweinehunden macht meine Brüderlichkeit halt, und von einer Gleichheit mit Hanswursten will ich nichts wissen.«

»Du weißt ja selbst, daß ich keine Macht hatte über die Leute,« rief der Arzt. »Und ich denke doch, dein Herr Vater wird sich als Landesherr erweisen, wenn Not an den Mann geht?«

»Jawohl, mein lieber Doktor, als Landesherr! Bin zwar nur ein Erbgraf mit der zurzeit ganz geringen Hoffnung auf sechzehn Dörfer, aber hier kann das Kronprinzlein doch mit dem Königlein fühlen. Zuerst kommt der wüste Haufe in den Schloßhof, schickt den Koram vor und gibt dem alten 69 Herrn den Laufpaß. Dann aber soll derselbe alte Herr wieder für alle Fälle bereit sein: wenn's schief geht, soll er eingreifen, wenn's gut geht warten auf den Gnadenstoß. Nein, nein, Lieber, seine Zugbrücke will er aufziehen – gut, daß er sie nicht abgebrochen hat bei der großen Bauerei vor zwei Jahren – und aus seinen Fenstern will er gucken auf die liebe und getreue Stadt, und – so sagt er und ist ihm auch nicht weiter zu verargen – von Zeit zu Zeit will er hinunterspucken auf ihre Schindeln.«

Der Doktor schwieg; der Erbgraf aber zog ein erbrochenes Schreiben aus seinem Rocke.

Der Doktor warf den Kopf zurück. »Die Bevollmächtigten des fränkischen Kreises haben zu Würzburg mit dem französischen Divisionsgeneral Ernouf eine Übereinkunft geschlossen – Personen und Eigentum sind geschützt.«

»Geschützt durch etliche Flarren Siegellack und eingedrückte Petschafte!« Der Erbgraf lachte.

Unbeirrt fuhr der Doktor fort: »Der fränkische Kreis entrichtet den Franzosen acht Millionen Livres.«

»Die schleunigst aus den braven Kühen des Landes zu melken sind!« rief der Erbgraf, erhob sich und gab dem Freunde den Brief hinüber: »Meine Frau schreibt mir aus Nürnberg, General Jourdan hat die Übereinkunft gestern vernichtet.«

»Vernichtet? Du scherzest –!«

»Vernichtet, weil der Commissair ordonnateur, General Dubreton, seine Zustimmung versagt hatte.«

»Der Commissair ordonnateur? Was ist das für ein Tier? Und wenn doch General Jourdan selbst den General Ernouf zum Abschluß des Vertrages bevollmächtigt hat?« stotterte der Arzt.

»Dann ist eben ein Größerer über den General Jourdan gekommen und hat gesagt, Freund, rücke hinab!«

»Jourdan ist doch der oberste Befehlshaber?«

70 »Und unabhängig vom Feldherrn ziehen die Schakale mit in den Krieg. Und die Schakale sind eben das Kommissariat. Kennst du den Voltaireschen Witz?«

Der Doktor schluckte: »Dann sind wir also seit gestern der Plünderung preisgegeben?«

»Du kennst den Witz nicht? Voltaire sollte einst in Gesellschaft eine Räubergeschichte erzählen. Irgend eine Räubergeschichte. Da hub er an: ›Meine Herren und Damen, es war einmal ein Generalpächter – meine Herren und Damen, erlassen Sie mir den Rest. –‹ Und was damals der Generalpächter aller Steuern war, das ist jetzt mutatis mutandis das Generalkommissariat.«

Der Graf stand inmitten der Stube. »Ich bin genau unterrichtet durch diesen Brief meiner Frau. Man hat die dummen Deutschen auf echt französische Weise über den Löffel balbiert. Wir werden dem Kommissariate völlig ausgeliefert sein. Das Kommissariat wird uns mit seinen Commis, Ordonnateurs, Reçeveurs, Secretairs überschwemmen, und die Soldateska, angewiesen auf die Tätigkeit dieser Bande, hat nichts andres zu tun, als ihr beim Geschäfte des Aussaugens mit der Waffe den Rücken zu decken.«

Der Arzt stand mit geballten Fäusten. Keuchend brachte er hervor: »Da wäre doch besser, in die Hände von Straßenräubern zu fallen!«

Der Erbgraf nickte. »Die schließen wenigstens keine Scheinverträge ab, sondern greifen ehrlich zu.«

»Was aber kann uns nun schützen?«

Der Graf antwortete: »Die Sauve-Garde, und sonst nichts. Dazu aber ist Geld nötig, lieber Doktor. Also Geld her, und die Ideologie in die Hosentasche gesteckt für bessere Zeiten! Gegen den Willen meines Vaters reite ich nun nach Nürnberg und mache mit Hilfe meiner Frau die Zwanzigtausend flüssig, über die wir das Verfügungsrecht haben –«

71 »Die wolltest du doch einst zu eurer großen Reise verwenden?« unterbrach ihn der Arzt.

»Ich will ja reisen, aber nach Nürnberg,« lachte der Erbgraf. »Und in Nürnberg kaufe ich mir Soldaten –«

»Ob die Nürnberger solche im Überfluß haben?« warf der Arzt ein.

Der Graf schlug sich auf den Schenkel. »Nürnberger Stadtsoldaten? Vielleicht Jägergardisten von der Qualität der hochgräflichen hier? Doktor, bist du wirklich solch ein Ideolog? Eine starke Schutzwache von französischen Soldaten – nichts anderes! Mit diesen kann ich, wenn's gut geht, in dreißig Stunden zurück sein. Und ich wette, der Alte droben im Schlosse späht Tag und Nacht aus einer Schießscharte, bis er uns traben sieht – um seinet- und um euretwillen.«

»Um unsertwillen?« Der Arzt sah ihn zweifelnd an.

Da lachte der Graf: »Lehr du mich meinen Vater kennen. Tausend Jahre sitzen wir nun da droben auf dem Felsen und haben Leid und Freud geteilt mit denen da drunten, und du glaubst wirklich, daß wir das alte Nest im Stich lassen – einem Schneider Koram und einem Pieperich zu Liebe? Aber weißt du, wie mir nun zu Mute ist? Wie einer katholischen Fischotter am Freitag.«

»Nicht Fisch und nicht Fleisch, wie?«

Der Graf nickte. »Es ist mir nicht zum Lachen, darfst es glauben. Ich sehe mit klaren Augen vorwärts, ich weiß, es muß sich manches ändern, und fühle doch seit der Revolutionskomödie von heute abend, wie mich tausend Wurzeln im alten Erdreich festhalten. Ich weiß, ich werde ihrer viele herausreißen – aber wer sagt mir, was ich dann bin? Nur wenige Geschöpfe können aus ihrer Haut fahren – und dann schält sich aus der alten Hülle doch immer wieder, zwar eine bessere und schönere, in Wahrheit aber ganz dieselbe Haut. 72 Der Mensch kann nicht einmal dies, und wenn er sich noch so sehr plagt.«

»Armer Freund!« sagte der Arzt. »Es ist mir oft, als hätte unsre Zeit die Wehen –«

»und könne doch nur ein totes Kindlein gebären,« vollendete der Graf.

»Du aber bist ein wahrhaft edler Mann, und solche Edelleute dürfen und werden auch der neuen Zeit nicht fehlen.«

»Ich danke für den neuen Adelsbrief, Bürger Frey!« Der Erbgraf verneigte sich tief.

*

Um dieselbe Stunde hielt am Hause des Handelsmannes Ehrhardt ein großer Frachtwagen. Kiste um Kiste wurde aus dem Tore gebracht und auf den Wagen geladen. Dann steckte man die Reifen darüber und spannte die Leinwand. Vier starke Pferde zogen den Wagen die Gasse hinunter zum Bachtor hinaus – hinüber ins Preußische.

So bereitete sich der Handelsmann zum Empfange der Franzosen. –

Da und dort in den Häusern und Höfen und Gärten blinkte ein Licht, wo sonst um diese Stunde kein Licht zu sehen war.

Soldaten werden kommen! Ei nun, wenn Soldaten kommen, dann muß man vergraben, was gleißt und was funkelt. Freunde sind's! Freunde? Ei was: Soldaten sind's, und vor Soldaten hat man noch immer vergraben, seit Menschengedenken, was gleißt und was funkelt. Warum jetzt auf einmal nicht? Nützt es nichts, dann schadet's nichts.

Auch Frau Lotte war von ihrem Lager gestiegen, hatte eine Blendlaterne an sich genommen, ein Stemmeisen und eine kleine Blumenschaufel, und hatte sich in ihre schöne Küche begeben. Es war mäuschenstille in dem weitläufigen Hause. Rötlich strahlte das reiche Kupfergeschirr von den weißen Wänden, und die Solnhofer Platten des Fußbodens 73 blinkten in untadeliger Reinheit. Der Kupferrand des Herdes funkelte.

Frau Lotte stellte ihre Laterne auf den kalten Herd, zog die dunkelgrünen Vorhänge vor die Fenster, verschloß die Türe und blickte prüfend umher. Da sah sie die beiden kupfernen Wasserkannen mit den blinkenden Bäuchen, breiten Schnäbeln und starken Henkeln, die dort standen, wo sie billigerweise stehen mußten in jeder ordentlichen Küche, auf niederm Schemel, nahe am Herde. Und sie ging und hob die vollen Kannen herab, stellte sie seitwärts auf den Boden und rückte den Schemel in die Mitte der Küche. Dann kniete sie nieder und hob mit dem Stemmeisen eine von den großen Platten heraus.

Sie hatte lange zu arbeiten; ganz leise und sehr behutsam. Und erst als es halb zwei Uhr schlug, war sie fertig. Wie vordem blinkten die Bäuche der kupfernen Kannen, glänzte der frischgewaschene Steinboden. Aber im Hofe drunten, in der Abfallgrube unter den morschen Brettern, lag ein Häufchen Sand und Schutt.

Frau Lotte kam wieder in die Küche und warf noch prüfende Blicke umher. Dann löschte sie das Licht aus, zog die Vorhänge zurück und sah hinaus in den Hof. Drüben in der Giebelwand, weit drüben über den Kastanienbäumen, wo der Altkleiderhändler wohnte, war ein Fenster offen, und eine dunkle Gestalt beugte sich heraus.

Frau Lotte erschrak. Aber dann sagte sie vor sich hin: »Was kann er gesehen haben? Mein Männle ist unpaß geworden, und ich habe Wasser gewärmt. So werde ich den Mägden morgen erzählen.«

Der Trödler aber zog sich vom Fenster zurück. »Was hat sie getan, die gestrenge Frau, mitten in der Nacht, in ihrer Küche allein? Hat sie Wasser gekocht, zu wärmen das Bett im Sommer? Ich hab' aber doch nicht gesehen, daß der Rauch ist aufgestiegen aus dem Kamin, und ich hätt's doch 74 sehen müssen, weil sie so hell scheinen, die Sterne, wie damals, wo sie hat zählen sollen der Erzvater Abraham. Und was hat sie gewollt im Hof, und was hat sie in die Grube geschüttet? Ist sie's gewesen, oder ist sie's nicht gewesen? Sie ist es gewesen, ich hab' mich gewiß nicht getäuscht.«

*

Auch Konrektor Knorzius hatte Licht in seiner Stube des Morgens um zwei Uhr. Er saß an seinem Schreibtisch und trug etliche Zeilen in ein dickes Quartheft ein. Seine Schrift war sauber, die Buchstaben standen gerade und spitzig, und spöttisch lächelte das kluge Gesicht auf die Sätze herunter.

»Ihr Toren erwartet, daß euch der Strom der Ereignisse auf seinem schmutzigen Rücken die schöne Veränderung eurer Lebensverhältnisse heranträgt. Ich aber bin überzeugt, daß jeder Machthaber zuerst und zuletzt nur für sich sorgt, und ich weiß, daß sich im Antlitze meiner Umgebung überhaupt nicht viel zu verändern vermag. Der Kraftvolle wird Herr sein. Und in seinen Zwecken wird es liegen, daß er zuletzt doch wieder mich und jeden schützt, der sich hütet, ihm ein Hindernis zu werden. Er mag von mir die üblichen Abgaben verlangen, die vordem ein anderer empfangen hat; übertriebene Forderungen regelt von selber die Zeit – sintemal ein Korn immer nur eine gewisse Anzahl von Körnern hervorbringt. Und nach wie vor wird im Frühling der Wein blühen und im Herbste die Traube reifen, wird im Winter die Erde schlafen und im Lenz mit schamhaftem Lächeln den grünen Teppich breiten über ihre ewige Verwesung. Ich aber werde mich ruhig verhalten nach außen, und also wird es mir vergönnt sein, ruhig zu wohnen in meiner Studierstube wie auf einem Eilande, von Zeit zu Zeit über den Rand eines Buches meiner Wahl hinauszublicken auf den lächerlich kleinen Ausschnitt meiner nächsten Umgebung, Vaterland genannt, und mich zu freuen an der 75 alten, immer neu zu entdeckenden Wahrheit – daß alles im Grunde so ist, wie es gewesen und wie es sein wird in alle Zeitlichkeit, Amen. – Weil ich aber den Geruch massenhaft versammelter Menschen verabscheue, gedenke ich den anmarschierenden Soldaten auszuweichen. Ausweichen ist ja doch des Lebens allerfeinster Weisheitsschluß. Weib und Kind habe ich nicht, Bücher sind kaum in Gefahr, wenn solche Feinde kommen. Also werde ich Geld in meinen Beutel tun und weit hinein in die Wälder marschieren.

Ich werde tun, was einst Charon wollte, ich werde von Bergeshöhe herab mit Lachen rufen auf Freund und Feind: Ihr Toren, was bemüht ihr euch also? Laßt ab, ihr werdet nicht ewiglich leben. Nichts von dem, was euch erhaben dünkt, ist von ewiger Dauer.

Meine Bedürfnisse sind gering, mühelos vermag ich sie zu stillen bei meinen Freunden, den Köhlern. Es gibt noch manche Flechte, die in meiner Sammlung fehlt. Ich fürchte zwar nicht, daß Flechten und Moose sich verändern werden in den heraufziehenden Zeiten der Republik. Aber augenblicklich habe ich Sehnsucht nach denen des Kaisertums deutscher Nation. Ergo eamus!«

Und er legte sich in Kleidern auf sein Bett und schlief noch zwei Stunden. Dann stand er auf, hing seine Tasche und seine Blechtrommel um, nahm Hut und Knotenstock und schloß seine beiden Zimmer ab.

Zufriedenen Herzens pilgerte er durch die stillen Gassen hinunter ans Bachtor. Der hochgräfliche Soldat kam verschlafen aus der Wachstube, kam und machte die Hand hohl, dienerte und öffnete das Pförtlein.

»Botanisieren, Herr Konrektor?«

»Botanisieren, mi care asine,« kam die Antwort von der Holzbrücke her. 76

 


 


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