August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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6. Schlagt ihn tot –!

Schlagt ihn tot! das Weltgericht
fragt nach euern Gründen nicht.
                                            Kleist.

Der Gewalthaber hatte gesprochen, und seine Sklaven machten den Hauch seines Mundes zur Tat.

Es waren nur wenige Worte, aber sie fanden millionenfachen Widerhall in den Hochtälern der Schweiz und auf den Kanalschiffen Hollands, in den Bauernhöfen Niederbayerns und auf den Kirchenstufen Neapels, in den Weinbergen Spaniens und an den schmutzstarrenden Mauern polnischer Städte. Und sie klangen zurück in allen Sprachen Europas.

Es wurde lebendig auf den Straßen: Fünfmalhunderttausend Männer zogen auf des Kaisers Befehl nach Osten, alle nach Osten.

Die wenigsten unter ihnen hatten eine Ahnung, warum sie marschierten. Sie wußten nur das eine: er hatte gesprochen. Und das genügte.

Warum aber nur dieses Marschieren der Hunderttausende? Warum das Rasseln der Kanonen, das Jubilieren der Trompeten, das Dröhnen der Pauken, das Schnauben der Rosse? Warum denn?

Duckt euch, ihr Hunde, und freßt euer Los aus dem Topfe, den er euch hinhält. Duckt euch und zieht die Schweife ein – oder besser noch, wedelt ihn an und blickt mit treuherzigen Hundeaugen zu ihm empor. Der Kaiser ist nahe. Er könnte ja ruhig weilen inmitten seiner treuen Pariser, könnte genießen die stillen Früchte der schweißvollen Kämpfe, die er bisher so glorreich bestanden hat für Menschenwohl und Weltumgestaltung. Aber sein Gewissen läßt ihm keine Ruhe. Das hohe Ziel ist nahezu erreicht – nur ein wenig 419 bleibt noch zu tun. Deshalb hat er die fünfmalhunderttausend Männer zusammengetrommelt, und deshalb rollt er mit seiner Kaiserin auf der Heerstraße durch den Frühling gen Osten.

Und nun ist's an der Zeit, ihr guten Deutschen. Nun kriecht aus euren Hütten in dieselbe Frühlingspracht, über die einst die Lieder Herrn Walthers von der Vogelweide geklungen sind. Laßt blondhaarige Buben in die Kirchtürme emporklettern und Ausschau halten, wenn die Karosse des kleinen Schwarzhaarigen heranrollt. Und wenn sie auftaucht aus der fernen Staubwolke, dann sollen die Buben droben Vivat schreien, und andere Buben drunten in der Vorkirche sollen sich an den Strang hängen und sich lassen emporreißen von der schwingenden Glocke bis ans Gewölbe. Alle Glocken müssen weithinaus klingen und tönen. Diesmal nicht Gott dem Herrn zu Ehren, sondern dem Fremden zuliebe, der Tag und Nacht darauf sinnt, wie er euch glücklich machen könne die kurze Spanne eurer Lebenszeit. Und ihr Männer, ihr Frauen, ihr Jungfrauen, zieht eure besten Kleider an und säumt den Straßenrand als lebendige Borten am blinkweißen, unabsehbaren Bande. Wäre es aber etwa, daß der eine oder der andere von euch sich seiner Kleider schämen müßte in dieser bösen Zeit – ei, dann stelle er sich so, daß der Kaiser nicht beleidigt werde vom Anblick der Lumpen, und verberge sich hinter denen, die dem gütigen Herrn noch einen guten Rock zu zeigen vermögen. Und wenn er also heranrollt, dann zieht die Hüte bis zur Erde, dann schreit, was ihr schreien könnt – immer wieder ein Vivat gen Himmel. Und es ist euch zu raten, verkrieche sich keiner im Unverstand seines Herzens. Man wird genau Obacht geben, und wehe dem, der seine Freude verbirgt. Der Landrichter und seine Büttel werden ihm lehren, was not tut! –

Aber wie hat denn das alles so werden können?

Es ist von langer Hand her also geworden; denn ein 420 großes Volk wird nicht geknechtet über Nacht. Und viele haben schuld an dem Elend.

Die hinter hohen Parkmauern mit ihren Kebsweibern gewandelt waren zwischen gestutzten Hecken, blinkenden Bildsäulen und springenden Brunnen, die tragen die Schuld. Und die, selbst aus dem Volke herausgewachsen, in fürstlichen Schreibstuben Wälle von Papier gebaut hatten zwischen der Masse des Volkes und seinen Herrschern, die tragen die Schuld.

Die den Leib gepflegt bis zur Geilheit und hernach entnervte Kinder ins Leben gesetzt hatten, und die den Lebensgenuß der Wenigen auf Kosten der Zahllosen als höchstes Ziel gepredigt hatten, die tragen die Schuld.

Die sich zerfleischt hatten in unseligen Kriegen um eines Wörtleins willen, das sie geschrieben wähnten von Gottes Finger; und die neben dem schlechten Veralteten alles bekämpft hatten, was ehrwürdig ist und bleiben muß von Ewigkeit zu Ewigkeit, die tragen die Schuld. –

Trotzdem hüte dich, du fremder Bedrücker! Du bist gewohnt, mit Zahlen zu rechnen, aber deine Zahlen sind Menschen. Die kannst du wohl eine Weile addieren und gegeneinander stellen wie die Figuren eines Brettspieles. Aber hüte dich – Menschen sind keine Zahlen.

In der Tiefe schläft die Kraft. In der Tiefe ruht das Gewissen. Es gleichen Kraft und Gewissen dem Feuer tief in der Erde. Eine Grasnarbe hat sich über den alten Hügel gelegt, und niemand hat mehr eine Ahnung von der verborgenen Kraft. Aber es kommt der Tag, wo sich die Erde öffnet und die Kraft ihre Gluten über die Hänge herabschüttet.

Hüte dich, Menschen sind keine Zahlen, und in diesen bedächtigen Deutschen schläft ein Feuer – das du ja selber schon mit Grauen zu ahnen beginnst.

*

421 Eine Kolonne Soldaten zog die Straße entlang. Und die Straße war trocken bis in die Tiefe – nur oben vom leisen Regen einer Stunde mit einer Kotschicht überzogen. Im gleichen Schritt und Tritt kamen die Marschierenden einher, und ihre Sohlen und Absätze klangen, als kaute ein gewaltiger Rachen die Straße bißweise hinein mit gleichmäßiger Gier.

Über dem Graben, oben am Feldraine, stand ein großer Mensch mit einem Büchsensack auf dem Rücken, dem Ziegenhainer in der Hand, und ließ die Soldaten vorüber. Dann sprang er auf die Straße zurück.

Die Soldaten schreiten mächtig voran. Der große Mensch geht langsam, geht mit gesenktem Haupte in der gleichen Richtung wie sie. Er hat ja Zeit. Er weiß es ganz genau. Was kümmern ihn diese? Es sind die Knechte. Er aber sucht ihren Herrn. Und er und das Schicksal, sie haben Zeit.

Zwischenhinein bleibt er stehen und schiebt den Hut aus der Stirne. Er muß tief aufatmen, sonst zerspringt seine Brust.

Was ist er doch für ein mächtiger Mann, er allein da auf der Straße, die wimmelt von den marschierenden Soldaten des andern!

Jawohl, denn er hat die Macht, den andern von der breiten Heerstraße unermeßlichen Glanzes und Ruhmes hinwegzustoßen auf einen schmalen, dunklen Pfad. Er hat die Macht. Denn er hat den Willen. Und wer den Willen hat, der hat die Macht.

Aus der Mitte seiner Soldaten wird er ihn herausholen. Und dann? Ja, dann wird auch er, der Unbekannte, die Heerstraße verlassen und dem andern folgen, dem kleinen, grauen Schatten dessen, der einst gewesen ist, was er nicht länger mehr sein durfte. Und er wird ihn vor sich 422 hertreiben, immer weiter, immer weiter, bis sie endlich in der Totenstille vor ihrem Richter stehen. Und dann wird er dem Richter sagen: Hier ist er, tu mit ihm, was recht ist. Mir aber vergib meine Sünden um der vielen Brüder willen, die ich gerettet habe. –

Schon wieder solch eine Kolonne marschierender Soldaten. Also wieder mit einem Sprung über den Graben!

Sie singen ein wehmütig Lied von Heimat und Liebe, und sie marschieren im gleichen Schritt und Tritt. Der große Mann aber steht gestützt auf seinen Stock und sieht ihnen nach mit düstern Augen. Und es ist, als bewegten sich seine Lippen.

Vorwärts, immer vorwärts, bis daß ich sage – halt – und nicht weiter!

Ob ich untergehe? Das mag sein.
Daß mein Volk bestehe, kümmert mich allein.


Zwischen junggrünbelaubten Bäumen zieht sich die Straße hin. Der Himmel ist blau, und über den Feldern singen die Lerchen. Das Korn schlägt Wellen, grüngraue Wellen; denn der Frühlingswind fährt darüber hin.

Wieder muß der Mann halt machen. Und tiefauf atmet er. ›O Gott, o Gott, wie ist die Welt so wunderschön!‹

›Aber nein, weiche von mir, Satan! Sie ist nicht schön, sie schillert nur wie eine giftige Schlange, die sich wärmt in der Sonne. Trug ist alles. Ich stoße die Weltlust zurück, die sich leise heranringelt. Trug ist's. Ich schließe die Augen. Vorwärts! Was hülfe es dem Menschen, wenn er die Welt gewänne und nähme Schaden an seiner Seele? Alles ist eitel, nur die Pflicht hat recht.

Ob ich untergehe? Das mag sein.
Daß mein Volk bestehe, kümmert mich allein.‹


423 Er geht vorwärts mit gesenktem Haupte, immer vorwärts unter dem Stachel der Pflicht.

Allgemach hebt sich die Straße, und nun – ja nun steigt da drüben auf dem Bergrücken, in den Duft des Abends gehüllt, die gewaltige Feste empor, und im Flußtale, zu ihren Füßen, dehnt sich die vieltürmige Stadt.

*

Die dicke Studentenmutter konnte sich gar nicht genug tun in Ausbrüchen der Bewunderung. Von allen Seiten betrachtete sie das blutjunge Studentlein in seiner schmucken Uniform: Es war ein dunkelgrüner Frack mit rotem Kragen und roten Aufschlägen, Hose und Weste glänzten in den Farben der Unschuld, und bis an die Knie herauf reichten die blanken Reitstiefel.

»Diese Uniform dürfen Sie nun das ganze Jahr über tragen, ein jeder Student ohne Unterschied?«

»Das will ich meinen. Für den einen Tag wäre sie doch ein wenig zu kostspielig. Und ich habe mir sagen lassen, die Schulkommission will uns dadurch ein höheres Ehrgefühl einflößen und manche von unzweckmäßigen Ankleidungen abbringen.« Er lachte. »Noch höheres Ehrgefühl? Als ob ein honoriger Bursche nicht ohnedies schon den höchsten Grad hätte!«

»Sie müssen sich dem stillen Studenten zeigen, der seit gestern bei mir wohnt.«

»Wenn's Ihnen ein Gefallen ist. Wie heißt er denn?«

»Schmidt. – Aber ich glaub', ich hör' seine Türe. Herr Schmidt, Herr Schmidt!«

Karl Frey kam in die Küchentüre.

»Gelt, da schauen S', Herr Schmidt? Ewig schad, daß Sie so spät ins Semester gekommen sind. Jetzt könnten Sie auch so eine schöne Uniform tragen und dürften Spalier stehen, wenn der Kaiser und die Kaiserin einziehen.«

424 Karl schwieg und sah finster auf den Grünfrack.

»Gefällt Ihnen etwa meine Uniform nicht?« erkundigte sich das Studentlein.

»Besonders das deutsche Eichenlaub auf dem Halskragen,« sagte Karl Frey.

»Ja, das Eichenlaub!« Der kleine Bursche strich selbstgefällig über den goldgestickten Kragen. »Und denken Sie nur, beinahe hätte man uns zuletzt noch das Eichenlaub verboten!«

»Aber warum denn?« rief die Hausfrau und schlug die Hände zusammen. »Das Eichenlaub hebt ja die ganze Uniform.«

»Ganz richtig. Aber das Eichenlaub ist doch eine Auszeichnung des französischen Militärs, und man fürchtete mit Recht, Anstoß beim Kaiser zu erregen, wenn wir Akademiker uns das Eichenlaub anmaßten. Ei, das gab lange Verhandlungen. Denn die Stickereien waren meist schon in Arbeit gegeben. Da konnte man's dann doch nimmer ändern und« – das Studentlein reckte sich –»so treten wir halt dem großen Kaiser mit Eichenlaub geschmückt unter die Augen.«

»Was der hiesigen Studentenschaft zur ausbündigen Ehre gereicht,« sagte Karl Frey und verzog das Gesicht.

»Wie meinen Sie das, mein Herr?« Der Grünfrack sah den Großen drohend an. »Ich hoffe, Sie finden es nicht gerade lächerlich?«

Karl Frey zuckte die Achseln. »Das ist Sache des persönlichen Empfindens. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie sich für den Kaiser mit deutschem Eichenlaub schmücken.«

»Ihre Erklärung kann mir nicht genügen, Herr Schmidt.«

»Mir genügt sie vollkommen, mein Herr.«

Der Grünfrack besann sich einen Augenblick. »Mancher dumme Junge ist so grün, daß – daß –«

Karl Frey lachte mitleidig: »Bitte bemühen Sie sich 425 nicht weiter mit dem schweren Satz. Haben wir morgen Leben und Gesundheit, so werden Sie das Weitere hören.« Damit ging er.

Die dicke Alte rang die Hände. »Ei du heilige Muttergottes, warum müssen sich denn die Herren Studenten immerfort streiten? Es war doch nicht so bös gemeint. Jetzt aber ist das schreckliche Wort heraußen, und jetzt weiß ich, was es geben wird.«

»Was muß er mir mein Eichenlaub so höhnisch anschauen? Das höhnische Lachen ist's gewesen. Deshalb hab' ich ihm den dummen Jungen aufgebrummt,« sagte der Grünfrack.


Die Hausfrau stand mit einem großen Stück Pappendeckel in der Stube ihres neuen Mieters. »Herr Schmidt, das muß ich Ihnen schon sagen, es ist gar nicht schön gewesen, daß Sie dem Herrn seine Freud' so verdorben haben. Grad heut. Ist ja doch ein Ehrentag fürs ganze Herzogtum, weil der Kaiser und die Kaiserin kommen. Gehen S' halt auch 'nunter auf die Straße, da werden S' Ihre böse Laune verlieren. Fünfzig schöne Frauenzimmer in weißen Kleidern werden aufgestellt, eine vom Adel aber darf den Blumenstrauß überreichen. Die lernt schon vierzehn Tag an ihrem französischen Gedicht, damit sie ja nicht stecken bleibt. Und ich weiß das ganz genau; denn sie ist das Kind von der Tochter von der Herrschaft, wo ich zwanzig Jahr lang den Haushalt geführt hab'. Und ganze Wälder von jungen Bäumen haben s' in die Stadt hereingefahren, und in jedem Haus werden Kränz' gebunden. Und draußen vor dem Tor ist auch ein großmächtiger Triumphbogen gebaut. Hoch auf dem Bogen werden Kinder in Trikot mit Flügeln stehen, ganze Engel, und schmeißen Blumen 'runter auf den Kaiser und seine Kaiserin. Und das wird das Schönste.«

426 Karl Frey unterbrach ihre Rede: »So ist es also ganz gewiß, daß die Herrschaften im offenen Wagen einfahren?«

»Ganz gewiß. Der Kaiser und die Kaiserin in einem offenen Wagen. Und jetzt hätt' ich aber auch eine Bitt': Wollen S' mir nicht vielleicht einen französischen Spruch recht groß auf den Pappendeckel da schreiben und mit einem scharfen Messer ausschneiden? Ich hab' auch schon rotes Seidenpapier. Denn sehen S', ich möcht' halt heut abend auch ein Transpirent vors Fenster stellen, wenn die ganze Stadt illumeniert wird.«

»Was für einen Spruch, werte Frau?«

Sie kramte in ihrer Rocktasche und zog ein zerknittertes Papier heraus. »Ich hab' mir's aufschreiben lassen von einem, der gut französisch kann. Denn französisch muß der Spruch doch sein, sonst versteht ihn der Kaiser nicht.«

Karl Frey nahm das Papier und las: Vive le grand Napoléon, génie de l'Europe!

Er besann sich. Dann sagte er: »Geben Sie mir, ich will Ihnen den Gefallen tun.«

»Das ist brav von Ihnen. Und mit dem andern Herrn müssen Sie sich aber auch wieder vertragen. Wär' ja eine Schand, grad heut, wo alles nur so schwimmt in Freud'. Und der andere ist ja doch auch so ein lieber, guter Mensch. Und ich kann mir gar nicht denken, was Sie gegen das Eichenlaub haben.«


Karl Frey saß vor dem Pappendeckel, zeichnete mit der Bleifeder die großen Buchstaben vor – Vive le grand Napoléon – schnitt sie aus und klebte das rote Seidenpapier dahinter.

›In unserm Falle kommt das Satyrspiel vor der Tragödie,‹ flüsterte er. ›Jawohl, du sollst leben immer und ewiglich – in der Verachtung aller Deutschen. Le grand Napoléon427 der du Schandtaten aufgetürmt hast bis zum Himmel empor und von ihrer schwindelnden Höhe herab eine Welt kommandierst.‹


Er ging hinaus und gab der Frau sein Kunstwerk, und wie vorhin den grünen Frack des Studenten, so bewunderte sie jetzt die Buchstaben. Er mußte mit ihr in die Küche kommen. Dort stellte sie das Transparent auf, steckte die Kerzen dahinter und zündete sie an. Dann schloß sie die Fensterläden, und blutrot leuchtete es im Dunkeln: Vive le grand Napoléon, génie de l'Europe!

Der fremde Student hatte sich an die geschlossene Türe gelehnt und stand mit gekreuzten Armen. Er konnte die Augen nicht wenden von dem blutroten Spruch. Und seine Lippen flüsterten: »Omen accipio.«

»Jawohl, das haben Sie schön gemacht, und ich dank' Ihnen gehorsamst für die Gefälligkeit. Werd' mich schon erkenntlich beweisen. Aber jetzt gehen Sie doch auch hinunter auf die Straße und schauen sich den Einzug an?«

»Das kann ich ebensogut vom Fenster aus. Ich fühle mich nicht wohl und bleibe lieber zu Hause.«

»Hab' ich mir's doch gleich gedacht!« Sie löschte die Lichter aus und öffnete die Fensterläden. Dann stellte sie sich mit gefalteten Händen vor ihren Studenten und betrachtete ihn aufmerksam. »Freilich sieht man's Ihnen an. Ganz schlecht sehen Sie aus. Blaue Ränder haben S' unter den Augen.«

Er lächelte mitleidig auf sie herab. »Deswegen will ich mir auch den Einzug vom Fenster aus betrachten.«


Er hatte seine Türe gesperrt. Er bohrte acht Löcher, zwei in jeden Türstock zur Rechten und Linken des Türflügels, vier in den Türflügel, den vier andern entsprechend. Und 428 in die vorgebohrten Löcher trieb er Schraubenhaken, die er gegenseitig mit starkem Draht vielfach umwand. Alles tat er behutsam und möglichst geräuschlos. Dann rückte er den Kleiderkasten heran und vor den Kleiderkasten die Kommode. –

Noch einmal musterte er seine geringen Habseligkeiten Stück für Stück. Dann setzte er sich mit einem Päckchen Briefe mitten ins Zimmer auf einen Stuhl und begann zu lesen. Und etliche las er zweimal und dreimal. Dann zog er den Stuhl an den Ofen und machte das Türchen auf.

Da klopfte die Hausfrau. »Ich will jetzt auch hinuntergehen, Herr Schmidt. Also ist die ganze Wohnung leer. Und sperren S' fein Ihr Zimmer ab, wenn S' fort wollen.«

»Viel Vergnügen!« rief der Mann am Ofen und machte Feuer.

Immer bevor er einen Brief an den Kienspan hielt, küßte er ihn noch inbrünstig. Dann ließ er ihn aufflammen und warf ihn ins Ofenloch. Und genau untersuchte er jedesmal, ob auch das Papier gänzlich verkohlt war.


Näher und näher rückte die Stunde, in der das große Theater seinen Anfang nehmen sollte. Und schon zog truppweise das Volk auf den Schauplatz, seine altüberkommenen Pflichten zu erfüllen.

Was wäre der Ton der Stimme, wenn die Luft fehlte, sie fortzutragen auf ihren Wellen? Was wäre Schönheit, wenn es keine Augen gäbe, in denen sie sich zu spiegeln vermag? Und was wäre die Vornehmheit, die auf Rossen einherreitet, in Wagen einherrollt, funkelnd von glühenden Steinen und gleißendem Golde – was wäre sie einsam auf leerer Straße, ohne die tausendfältige Geringheit, die ihr demütig und neidvoll und, ach, so einfältig den Weg säumt, sich bückt und gierig sich nährt von der vorüberziehenden Pracht?

429 Den sie hier erwarteten, der verachtete jeden einzelnen der Gaffer und Schreier wie den Käfer, den man mit der Stiefelspitze aus dem Weg wirft oder auch unter der Sohle zertritt. Aber dennoch lauschte er allerorten ängstlich, ob das Geschrei auch machtvoll ertönte in den verhaßten deutschen Lauten, und spähte verstohlen herab, ob denn auch die wegverzierende Borte breit genug war.

Die Bewohner dieser Stadt hatten getan, was in ihren Kräften stand. Von den Dächern wehten lange, bunte Fahnen, von Giebel zu Giebel waren Laubgewinde geschlungen, aus den Fenstern hingen leuchtende Teppiche, die Häuser entlang zitterten demütige Birkenbäumchen. Abgeschnittenes Gras lag auf dem Pflaster, dessen Löcher ausgefüllt waren mit gelbem Sande. Und die Leute selber hatten sich allesamt auf die Beine gemacht, den Herrn ihres Herrn zu begrüßen.

Karl Frey stemmte die Fäuste auf den Fenstersims und spähte hinab. Er sah die langen Züge derer, die dem Kaiser entgegenwallten bis vor die Stadt hinaus: die berittene Kaufmannschaft in ihren schönen Uniformen, das Bürgermilitär – Leute mit starken Bäuchen und weinfrohen Gesichtern –, die Studentenschaft in ihren grünen Fräcken, weißgekleidete Mädchen. Er beobachtete, wie die Menschenborte auf den Bürgersteigen breiter und breiter wurde, und wie allgemach die Tausende zum Stehen kamen; wie die Fahrstraße sich leerte unter den gebieterischen Rufen der berittenen Gendarmen. Er beobachtete genau – denn er hatte ja Zeit.

Dann ging er an den Tisch, nahm einen Wollwulst aus der Schüssel, die mit Weingeist gefüllt war, und band ihn um den Hals. Er war nun fast anzusehen wie jene Franzosen des Jahres 1796, jene Banden Jourdans, die mit goldstrotzenden Halswülsten durch das Frankenland gezogen waren.

430 Er trat ans Fenster. Ein Kanonenschuß donnerte von der Festung über die Stadt. Alle Köpfe reckten sich, und alle Augen blickten die Straße hinauf.

Und einer sagte es dem andern: ›Jetzt ist er in den Burgfrieden gefahren.‹

Burgfrieden! War auch dem düstern Manne dort oben das Wort durchs Gehirn gezuckt? Nun ist er im Burgfrieden. Höhnisch verzog er das Gesicht, trat zurück und ließ den Vorhang herab, ging an den Tisch und streichelte die gespannte Büchse, die auf der Platte lag, quer auf der Platte, zum Greifen bereit.

Halblaut sprach er vor sich hin:

Ob ich untergehe? Das mag sein.
Daß mein Volk bestehe, kümmert mich allein.

Und immer wieder sagte er sich den Spruch. –

Von unten herauf drang das Summen der erregten Menge – das Summen, mit dem die Neugierde dem Schauspiel entgegenwartete. Von Zeit zu Zeit donnerte ein Kanonenschlag über die Dächer.

Wieder und wieder streichelte Karl Frey die Waffe. Dann trat er ans Fenster.

Weit hinauf konnte er die Straße überschauen, die saubere, sandbestreute, menschenbesäumte Straße.

Pferdegetrappel erklang. In zwei tiefen Reihen ritten Gendarmen heran. Und noch enger drückten sich die Menschenmassen zur Rechten und zur Linken an die Häuser.

Um die Ecke toste der Lärm der türkischen Musik. Auf Schimmeln kam die glitzernde, funkelnde Bande.

Karl Frey nahm das Gewehr vom Tische und ging wieder ans Fenster. Er ging mit vorgestrecktem Kopfe, mit eingezogenen Schultern, auf den Zehen, wie ein Jäger, der dem Wild seitwärts entgegenpirscht. Er hätte es nicht nötig gehabt; denn die Musik erfüllte mit Pfeifen und 431 Schmettern, mit Klirren und Quieken und Pumpern die Luft.

Karl Frey streckte den Kopf hinter dem Vorhange heraus – einer von den zahllosen Neugierigen, die alle Fenster und Lucken bis unter die Dächer besetzt hielten.

Näher und näher kamen die Musikanten. Hinter ihnen aber zogen auf nickenden, tanzenden Rossen die Leibwächter in goldfunkelnden Uniformen. Und das Volk stand und nahm den Ruf auf, der um die Ecke heranbrauste, und schrie tausendfach Vivat. Ein Kanonenschlag dröhnte über die Dächer und verschlang für ein paar Sekunden den Lärm der Türkenmusik – aber die Musik rang sich sogleich wieder siegreich empor, und das Brüllen der Männer, das Kreischen der Weiber, das grillende Rufen der Kinder vereinigte sich mit dem Quieken und Tuten und Schmettern der Metallbecken, Trompeten und Pfeifen zu einem ohrenbetäubenden, sinnverwirrenden Getöse.

Karl Frey warf einen Blick seitwärts auf das Nachttischchen, wo eine Weingeistflamme blaurötlich flackerte. Dann machte er sich bereit.

Er faßte die offene Reisekutsche ins Auge, die von sechs Rossen gezogen langsam heranrollte. Er sah den kleinen Mann in den weißen Kissen, er sah nur ihn allein.

Das Volk schrie, die Glocken läuteten, die Musik tobte, Hüte winkten dem Kaiser entgegen, Tücher flatterten – und der finstere Mensch hinter dem Vorhange hob den Kolben der Büchse an den Backen.

Ein Kanonenschuß dröhnte über die Dächer, und aus dem Fenster hoch über der Straße stieg eine kleine Rauchwolke zum Himmel empor. Niemand hörte den Gewehrschuß, der verschlungen wurde vom Freudengebrüll der Kanone. Nur das Pferd zur Rechten am Wagenschlage sank in die Hinterhand, und ein Goldbetreßter sprang auf das Pflaster.

432 Mit unbewegtem Gesichte saß der Kaiser im Wagen, und die sechs Pferde zogen ihn gleichmäßig, ohne anzuhalten, dem Schloß entgegen. Das Pferd eines Offiziers war gestürzt. Was hatte das zu sagen? Der Kaiser wandte den Kopf nicht.

Freilich, was sickert dort von der rechten Flanke des Pferdes rot über das weiße Fell?

Das hast du gut gemacht, Herr Offizier. Du hast den Mantel zur rechten Zeit über die blutende Wunde geworfen.

Das Volk brüllt, die Musik schmettert, die Kanonen donnern, die Glocken dröhnen, und majestätisch rollt der Wagen über das duftende Gras.

Schleift das verwundete Pferd aus der Triumphstraße in das Seitengäßlein und haltet das Volk zurück. Gebt dem Gaul einen Gnadenschuß hinters Ohr, sowie der Kaiser außer Hörweite ist. Jetzt noch nicht – halt! Erst, wenn wieder ein Kanonenschuß von der Feste erdröhnt. – Wer hat das Pferd angeschossen? Jawohl, aus dem Hause da vorn ist geschossen worden. Der und jener hat den Rauch gesehen, der aus dem dritten Fenster im zweiten Stockwerk emporstieg.


Karl Frey steht mit zusammengebissenen Zähnen inmitten der Stube. Es ist alles umsonst gewesen.

Er reißt sein Hemd vorn über der Brust auseinander und sucht sein Herz. Mit der Rechten ergreift er die Pistole, mit der Linken hebt er das brennende Spirituslämpchen an den weingeistgetränkten Halswulst. Es gilt jetzt kalt überlegen. Ja, das gilt's – und er kann es. Die Flammen müssen über seinem Kopfe zusammenschlagen, während er sich mit der Rechten ins Herz schießt. Denn die Häscher werden kommen, und die Häscher müssen einen toten, einen völlig unkenntlichen Mann finden.

433 Er steht hochaufgerichtet und lauscht, während seine Lippen Unverständliches murmeln.

Schritte kommen von unten empor. Ein wirres Lächeln verzerrt sein Gesicht. Er freut sich – denn er kann sterben ohne Bedenken.

›O Konstanze, es ist doch ewig schade, daß alles umsonst war!«

Sie poltern an die Türe und schreien – »auf!«

›Ade, ade.‹

Die Flammen schlagen über seinem Kopf zusammen, und der Schuß knallt.

Sie erbrechen die Türe.


Nacht war's. Die Festvorstellung war zu Ende. Karosse auf Karosse rollte vom Theater durch die Straßen, die im Glanze der Festbeleuchtung schwammen. Und die Menge wogte auf und ab zwischen den Häusern.

An einem vornehmen, wappengeschmückten, mit Stuckwerk reich verzierten Hause waren die Fenstergesimse gleich denen aller andern Häuser mit brennenden Lichtern bestellt, und in einem heitern Gemache dieses vornehmen Hauses saß ein junges Mädchen.

Die innern Fensterläden waren geschlossen, die Kerzen auf dem Kronleuchter brannten. Gedämpft tönte von der Straße herauf das langsame Schreiten der feiernden Menge.

Das junge Mädchen saß mit geschlossenen Augen vor dem hohen Spiegel, und das Kammermensch löste ihr das reiche, blonde Haar.

»Gnädigste Baronesse, wollen Sie sich vorstellen, die Tochter des Schullehrers, drüben um die Ecke wohnt sie –«

»Die schöne, große, schwarze Jungfer?« fragte die Baronesse, öffnete die Augen und blickte durch den Spiegel auf die Sprecherin.

434 »Groß und schwarz ist sie,« sagte diese schnippisch; »aber es ist Geschmacksache, ob man sie auch für eine beauté halten will.«

»Und was ist's mit ihr?« fragte die Baronesse und schloß die Augen.

»Sie kann die Zupfgeige spielen und soll nicht übel singen. Sie ist doch auch heute im Chor der Jungfrauen gewesen. Vielleicht haben gnädigste Baronesse sie zu bemerken geruht?«

Diese nickte.

»Und denken Sie nur, gnädigste Baronesse, zu der hat heut abend einer von den Marschällen des Kaisers geschickt. Sie sollte – hi, sie sollte vor ihm spielen und singen.«

Die Baronesse öffnete die Augen.

»Und sie hat nicht gewollt. Ich weiß es von einer Freundin, die war dabei. Und jetzt weint die Person den ganzen Abend, jammert, es sei ihr ein Schimpf angetan worden.«

Das Kammermensch hielt inne, und mit sanftem Rauschen fuhr der Kamm durch die blonden Haare der Herrin.

Diese regte sich nicht.

»Aber gnädigste Baronesse, ist das nicht sehr affektiert? Es war doch einer der Marschälle des Kaisers!«

»Du kannst nun gehen,« sagte die Herrin. »Zuvor aber lösche die Kerzen da droben aus und stelle mir eine brennende Kerze auf den Nachttisch.«


Die Baronesse war ins Bett geschlüpft und lag mit geschlossenen Augen. Noch immer tönte von der Straße herauf das feierliche Schreiten und das Murmeln der gaffenden Menschen.

Die Türe ging; ein Seidenkleid rauschte.

»Sie, ma chère maman

»Gute Nacht, meine Liebe.«

Das Mädchen breitete die Arme aus und schlang sie um den Nacken der Mutter. »Noch im vollen Staate?«

435 »Ich habe aus dem Fenster gesehen. Zu schön, diese Illumination. So feierlich, so überaus würdig der großen Persönlichkeit. – Aber nun laß dir auch sagen, ma chère« – sie zog einen Sessel an das Bette und setzte sich – »du hast entzückend ausgesehen.«

»Habe ich das?« Die blonde Baronesse lächelte glückselig aus ihrem duftigen Nachthäubchen hervor.

»Und du hast der Kaiserin das Gedicht mit einem Feuer vorgetragen – laß dir gratulieren.«

»Ich bin stolz auf Ihre Komplimente, Mama.«

»Aber warum hast du es nicht auch noch deutsch gesprochen – so war's doch ausgemacht?«

Die Baronesse hob den Kopf ein wenig: »O Mama, das hätte ich wahrhaftig nicht mehr zuwege gebracht. Deutsch? Ach, wer hätte da noch deutsch hören können? Wäre das nicht beleidigend – jawohl, geradezu beleidigend gewesen?«

»Ei, die Kaiserin ist ja doch immerhin von Geburt eine deutsche Prinzessin?«

»Aber jetzt Kaiserin der Franzosen!«

»Nun ja, da hast du recht. Aber willst du hören, wie sich der Stadtkommandant geäußert hat – vorhin im Theater?«

Wieder hob das Fräulein den Kopf.

»Man habe dich allgemein für eine geborene Französin gehalten.«

»Himmlisch, ma chère maman!« Sie sank in das Kissen zurück und blickte mit großen Augen empor an die Decke, wo pausbackige Amoretten zappelten und aus goldenen Füllhörnern brennrote Rosen herabstreuten.

»Und nun lassen Sie sich erzählen, ma chère maman!: Ich habe eine Brosche von Ihrer Majestät erhalten.«

»Das erste Wort, mein Kind.«

Sie zog den Arm unter der Decke hervor und hielt der Mutter die geöffnete Hand hin. »Wie ein Kind am 436 Weihnachtstage habe ich das Kleinod mit mir ins Bett genommen.«

Die Baronin besah sich eingehend die blitzenden Steine und die schöne Fassung. »Das ist ein kostbares Geschenk.«

Die Tochter nahm das Kleinod und barg es unter der Decke.

»Ich bin auch selig, Mama. Aber in den siebten Himmel ward ich gehoben, als mir der Kaiser die Hand bot.«

»Ich habe es gesehen, und viele Gesichter sind gelb geworden vor Neid.«

Die Baronesse sah verzückt zur Zimmerdecke empor, wo die Amoretten ihre Blumen streuten aus goldenen Hörnern. »Ich gäbe ein Jahr meines Lebens darum,« flüsterte sie, »und das Schicksal hat mir's umsonst geschenkt. Noch als Greisin werde ich von diesem Tag erzählen. Es war mir, als rieselte etwas von der Majestät herüber in mich, ja ich fühlte einen elektrischen Strom.«

»Kleine Schwärmerin! Aber wie magst du beneidet werden.«

»O Mama, daß doch der Himmel seine Waffen segne und ihn zum Herrn mache über Europa – ihn, der es allein von allen verdient!«

Es war stille in dem hohen Zimmer. Nur das feierliche Schreiten der Menge tönte herauf und das Gemurmel der Zahllosen, die sich wie Kinder freuten im Glanze der Lichtlein.

»Haben Sie schon gehört, wie albern sich die Lehrerstochter benommen hat?« fragte die Baronesse nach einer Weile.

»Lisette hat auch mir die Geschichte erzählt,« lächelte die Mutter.

»Und was sagen Sie dazu?«

»Nun, sie dachte offenbar weiter,« meinte die Alte vorsichtig.

437 »Ich weiß nicht, ob ich weiter dächte in solchem Falle,« sagte die Baronesse.

»O wie, meine Teuere?« Die Alte sah entsetzt aus.

»Natürlich nicht, wenn nur ein Marschall von Frankreich zu mir schickte!« sprach die Tochter und zog das Näschen hinauf.

»Ei, das dächt' ich auch,« sagte die Alte erleichtert.

Das Mädchen blickte starr empor zur Decke, wo die Amoretten tanzten und glühende Rosen streuten aus goldenen Hörnern. Dann wiederholte es: »Natürlich nicht, wenn nur des Kaisers Marschall nach mir schickte. Natürlich nicht.«

Die Alte stand auf und legte die runzelige Hand auf die Stirne der Tochter: »Du glühst, meine Teuere, schlaf süß.«

»Ich verzehre mich in Reue, ma chère maman.«

»In Reue?«

»Ich habe ihn kaum angesehen, den göttlichen Kaiser.«

»Und bist ihm doch so nahe unter den Augen gestanden?«

»Es war mir, als sollte ich in die Sonne schauen. Und – ach – wer vermag das?«


Sie lag und hatte die Hände um das Kleinod der Kaiserin gefaltet. Noch lange tönte das feierliche Schreiten herauf. Und noch lange währte es, bis die Lichter auf den Fenstersimsen erloschen.

*

Unter den hellen Fenstern des Schlosses, auf dem weiten Platze, stand Kopf an Kopf das Volk und wartete, ob er vielleicht die Gnade hätte, sich noch einmal zu zeigen.

Droben aber, in einem der hundert und hundert Gemächer des Schlosses, stand er, dem alle die Lichter leuchteten, dem alle die Neugierde galt.

Er stand mit gekreuzten Armen inmitten des lichterfüllten 438 Gemaches auf dem glänzenden Parkett. Im weiten Abstande von ihm aber wartete ein hochgewachsener General in goldstrotzender Uniform.

Der Herrscher war zornig. Er hatte es wohl gesehen, als das Pferd an seinem Wagenschlage in die Hinterhand sank, er hatte den Rauch bemerkt. Jetzt verlangte er Rechenschaft.

In barschem Tone stieß er die Fragen heraus; gemessen und wohl überlegt folgte die Antwort des Goldstrotzenden.

»Das Gesicht ist unkenntlich, Sire, es ist nahezu verkohlt.«

»Aber man hat gezeichnete Wäsche gefunden?«

»Nichts von alledem, Sire. Wir haben seine Habseligkeiten hin und her gewendet. Er hatte jede Spur vernichtet, ja er hatte sogar das Zeichen des Büchsenmachers aus Gewehr und Pistole gefeilt.«

»Also ein wohlüberlegter Anschlag!«

»Ich wollte Eurer Majestät gerne widersprechen.«

»Die Tat eines Wahnsinnigen!« fuhr der kleine Mann auf und sah drohend auf den General.

»Unzweifelhaft die Tat eines Wahnsinnigen, Sire.«

Der kleine Mann ließ die Arme sinken und begann auf und ab zu gehen. Er kam nahe an den Seidenvorhang des Fensters. Da erkannte die Menge drunten seinen Schatten und begann Vivat zu brüllen.

Ein verächtliches Lächeln zuckte über das bleiche Gesicht des Kleinen. Unbewegt stand der Große in dienstlicher Haltung und wartete.

Da blieb der Kleine hart vor dem Großen stehen und sah zu ihm empor. »Er hatte alles wohl überlegt. Kann er dann wahnsinnig gewesen sein?«

»Ich nehme als bestimmt an, er ist wahnsinnig gewesen, Sire.«

»Diesen Deutschen ist alles zuzutrauen. Sie haben mir 439 meine besten Soldaten gegeben – es ist nicht ausgeschlossen, daß sie mir auch eines Tages meinen Mörder liefern.«

»Eure Majestät leben im Schutze Ihres großen Schicksals,« bemerkte der Goldstrotzende.

Der Kleine stand mit gekreuzten Armen hart vor dem Großen, und dieser hielt den Atem an in seiner furchtbaren Nähe. Mit gesenktem Haupte, als spräche er zu sich selbst, sagte der Kleine: »Ich kann es ihnen gar nicht übelnehmen, daß sie mich hassen, diese Deutschen.«

Nach einer Weile flüsterte der Große: »Eure Majestät haben auch diesem Volke unauslöschliche Wohltaten erwiesen.«

Der Kaiser sah spöttisch lächelnd zu ihm hinauf, wandte sich und ging zurück in die Mitte des Saales. Nun standen die beiden wieder wie zu Anfang des Gespräches.

»Die Verhältnisse der Vermieterin sind untersucht?«

»Eine harmlose Frau mit bestem Leumunde, die seit achtzehn Jahren zwei Zimmer an zwei Studenten der hiesigen Hochschule vermietet.«

»Ich habe gute Lust, diese Hochschule aufzuheben,« sagte der Kaiser. »Aber nein, in den Hochschulen liegt die Gefahr nicht. Sie liegt in den Landsmannschaften. Ich werde die Landsmannschaften vernichten. Wo liegt seine Leiche?«

»Noch in der Stube, Sire, an derselben Stelle, wo er zusammengestürzt ist. Das Haus ist polizeilich gesperrt.«

»Wer weiß von der Tat?«

»Ich, mein verlässiger deutscher Reitknecht und zwei Polizisten, denen ich sofort Schweigen bei Todesstrafe auferlegt habe. Außer uns hat niemand das Zimmer betreten.«

»Ich habe mich doch alles Bösen von diesen Deutschen zu versehen,« sagte der Kaiser, als könnte er über den Gedanken nicht Herr werden.

»Die Tat eines einzigen Wahnsinnigen,« bemerkte der General nach langer Zeit, und seine Worte hallten in dem 440 großen Raume. »Wollen sich Eure Majestät des spontanen Enthusiasmus erinnern, den heute die Bevölkerung dieser Stadt an den Tag gelegt hat!«

»Man muß sich hüten, das böse Beispiel bekannt werden zu lassen. Man vernichte den Kadaver des Narren. Was ist mit Ihrem Pferde geschehen, General?«

»Es ist unter meinen Augen auf dem Schindanger verscharrt worden. Außer mir und dem Reitknecht weiß niemand, daß es angeschossen war.«

»Wird der Reitknecht schweigen?«

»Ich verbürge mich für seine Treue, Sire; er ist ein Deutscher.«

»Er ist ein Deutscher,« wiederholte der Kaiser nachdenklich. »Also lassen Sie heute noch mit Hilfe der zwei Polizisten den Kadaver des Verbrechers neben dem Pferde verscharren.«

»Wie Eure Majestät befehlen.«

»Noch heute nacht!«

»Es wird unter meinen Augen geschehen.«

Der Kaiser sagte grollend: »Noch stehe ich fest. Noch ist mir das Schicksal günstig. Aber schon schlagen die Flammen aus dem Boden heraus. Wohlan – ich will sie zertreten, solange ich die Macht habe. Niemand wird laut sprechen von diesem Vorfalle. Die Zunge kann ich keinem fesseln. Mögen sie flüstern. Aber sprechen sollen sie nicht. Und Sie sorgen dafür, General.«

»Wie Eure Majestät befehlen.«

Mit gekreuzten Armen stand der Kaiser und starrte auf den glänzenden Fußboden: »Ich glaube, die Franzosen zu kennen und nicht minder die Italiener und die Spanier. Diese Deutschen aber – ich werde sie niemals zu Ende kennen lernen. Es hat mir von jeher die geringste Mühe gemacht, sie zu beherrschen, und doch schläft in dieser Nation 441 etwas, das meiner Berechnung spottet. Sie haben heute auch an Staps gedacht, General, und Sie denken in diesem Augenblick an ihn – wie ich.«

»Das kann und will ich nicht leugnen, Sire.«

»Und wissen Sie noch, was mir jener Mensch damals ins Gesicht gesagt hat?«

»Ich erinnere mich, daß jener Wahnsinnige manches gesagt hat,« erwiderte der General vorsichtig.

Der Kaiser lachte leise auf. »Wahnsinnig? Aber wissen Sie wirklich nicht mehr, was er gesagt hat?«

»Es war ein langes Verhör, Sire.«

»Jawohl, ein langes Verhör,« wiederholte der Kaiser. Und wieder begann er auf und ab zu gehen. Und wieder kam er in die Nähe des Vorhanges. Sein Schatten glitt über die gelbe Seide, und wieder brach das Volk in Vivatrufe aus.

»Wie eine tausendköpfige Bestie, die auf der Lauer liegt, bis er sich zeigt!« rief der Kaiser verächtlich und zog sich in die Mitte des Saales zurück. »Aber ich will nun Ihrem Gedächtnis helfen, und merken Sie sich, solche Worte darf man nicht vergessen, auch wenn sie aus dem Munde eines Irrsinnigen gekommen sind. Es ist nun dritthalbe Jahre her, da ist er vor mir gestanden, der blutjunge Deutsche, der eines Pfarrers Sohn war und eine Braut hatte. Und ich sehe ihn noch, wie ihm der Arzt den Puls fühlt. Corvisart hat ihm den Puls gefühlt. Wissen Sie noch?«

»Wie sollte ich nicht wissen, Majestät?«

»Nun also, erzählen Sie doch!«

»Staps, jawohl Sire, Staps fragte den Arzt: Nicht wahr, mein Herr, ich bin nicht krank?«

»Und Corvisart?«

»Und Corvisart erklärte, dieser junge Mann befindet sich wohl.«

442 »Ganz recht,« nickte der Allgewaltige unter dem strahlenden Kronleuchter. »Und nun, General, werden Sie sich auch seines letzten Wortes erinnern?«

»Eure Majestät verzeihen allergnädigst – mein Gedächtnis läßt mich im Stich.«

»Sie wissen so gut wie ich, daß er gesagt hat –« Der Kaiser lächelte höhnisch herüber auf den Goldstrotzenden, der bleich und regungslos auf dem spiegelnden Parkett stand. Der Kaiser lächelte, weidete sich an seiner Verlegenheit und vollendete: »Sie zu töten ist kein Verbrechen, es ist Pflicht.«

»Ich erinnere mich,« flüsterte der General.

Der Kaiser lächelte. »Und ich vermute, es gibt viele Stapse in dieser Nation, die also denken. Aber –« und nun stand er wieder mit hocherhobenem Haupte – »ich und das Schicksal wollen diese deutschen Stapse vernichten.«


Nacht war's, stille, sternenlose Nacht. In Dunkelheit lag die Stadt. Scharfer Geruch verwelkenden Grases erfüllte die Straßen, durch die der Kaiser zum Schlosse gezogen war. Schlaff hingen die Fahnen, farblose Tücher, von den Dächern herab.

Ein zweiräderiger Karren hielt vor dem Hause. Ein Mann stand bei dem Pferde, zwei Männer kamen mit schweren Schritten aus dem Hausflur, schleppten den Leichnam, in ein Tuch gehüllt, und legten ihn auf den Karren. Kein Licht leuchtete ihrem Tun, kein Wort begleitete ihre Arbeit.

Und nun rollte der zweiräderige Karren über das verwelkte Gras unter den schlaffen Fahnentüchern dahin. Dumpf klang der Hufschlag des schweren, langsam schreitenden Rosses, dumpf rollten die Räder. Aber zuweilen schlug doch ein Hufeisen an einen Stein, und dann tönte es hell und laut. Rechts und links vom Karren schritten die zwei Polizisten. Weit hinten folgte im dunkeln Mantel eine hohe Gestalt. –

443 Karl Frey, du hattest dich grausam geirrt. So leicht soll die Erlösung nicht gelingen. Dieser Mann ist fest gegen Hieb, Stich und Schuß. Dein Weg und sein Weg haben sich für immer gegabelt. Deine Gebeine werden modern, und er wird stehen, fest und hoch – daß sich an ihm aufbäume die Kraft deines Volkes, immer wieder aufbäume und mit hunderttausend Armen herbeiziehe, was endlich genüge zum weithin sichtbaren Sturz und Fall seines Bedrückers.

Karl Frey, du bist umsonst zum Meuchler geworden. Helden sollen den Feind zu Boden ringen – Helden, Brust gegen Brust, kein wahnwitziger Meuchler, Karl Frey.


Im fernen Städtchen aber wartete die Einzige, die von seiner letzten Reise Kenntnis hatte. Sie wartete von Woche zu Woche. Oft saß sie untätig im Gartenhaus über der Mauer und blickte die Landstraße entlang in die blauduftige Ferne, wo er damals, nach herzbrechendem Abschied, verschwunden war. Und oft war ihr zu Mute, als müßte sie mit ihrem brennenden Leid jetzt schon zum Vater laufen, sich auf ihre Knie stürzen und ihm bekennen: Ich weiß ja nicht, wohin es ihn getrieben hat, aber ich ahne es wohl. – Doch nein, nicht einmal das war ihr erlaubt. Sie hatte sich den Schwur abringen lassen, ihre Lippen waren verschlossen, sie mußte allein tragen, was sie kaum mehr zu tragen vermochte.

Die Tage kamen und gingen, eine Woche um die andere entglitt.

Die roten Büschelbeeren leuchteten aus dem dunkelgrünen Laub der Eberesche auf die weiße Heerstraße herunter – drei Monate waren vergangen. Er war nicht mehr zurückgekehrt aus der blauduftigen Ferne.

Sie aber kniete nun in der stillen Stube neben dem 444 Arbeitsstuhle des Vaters. Ihre Wangen waren bleich und schmal, ihre Augen trübe vom vielen, vielen Weinen.

Aber tränenlos blickte sie empor in sein gütiges Antlitz.

»Du armes, armes Kind, warum willst du dich denn nicht aussprechen?«

Sie schüttelte den Kopf.

Grollend sagte der gealterte Mann: »Du bist ihm willenlos ergeben und verpflichtet; er zerstört deine Jugend.«

»Nur noch zum Schweigen verpflichtet, mein Vater. Heute mittag sind's drei Monate gewesen. Ich darf's nun sagen: er ist tot.«

Der Vater atmete tief auf, faltete die Hände und blickte nach oben. 445

 


 


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