August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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2. Alma mater

Einsame Studia tun's nicht, gemeine tun's, da viel einer dem andern Ursach und Exempel gibt.

Luther.

Die Welt lag im Lichte der Morgensonne. Aber in der Schlafstube des Fuchsen war es noch dämmerig; denn ein grüner Leinwandvorhang sperrte die Sonne hinaus.

Deshalb sah Gerhard auch nicht deutlich, wer an seinem Bette stand, als er die Lider aufschlug.

Er richtete sich empor, stützte sich auf den Ellbogen und fragte verwundert, was man denn wolle.

»Da müßte ich Ihnen zuerst sagen, wer ich bin, junger Herr,« meinte der kleine, breitschultrige Rumpel wohlwollend. »Aber das wäre bald gesagt, nur könnten Sie's auf einmal gar nicht verstehen. Lassen Sie sich nicht stören, geben Sie mir die Kofferschlüssel. Ich will Ihre Wäsche auspacken.«

Zögernd reichte Gerhard die Schlüssel vom Nachttische.

»Aber ich habe Sie doch nicht bestellt?«

»Ich werde überhaupt niemals bestellt, sondern ich bin da.«

»Zum Henker, wer sind Sie denn eigentlich?« Der kleine Mann hatte die Schlösser der Koffer geöffnet. Nun zog er die oberste Schublade der Kommode heraus, sperrte auch den Kleiderschrank auf und begann Wäsche und Kleider umständlich einzulegen und aufzuhängen. Eine Antwort gab er zunächst nicht. Er zählte nur gleichmäßig Stück um Stück. Und als das letzte Hemd in der Kommode geborgen war, sagte er vor sich hin: »Er ist von guten Eltern, der junge Herr, und er soll sich hüten vor den Samstagsfreunden.«

»Was sind das für Leute?«

307 »Eine erbärmliche Sorte von Leuten: Haben selber nie ein ganzes Hemd, wissen aber immer, wo's ohne Mühe zu kriegen ist. Kommen am Samstag abend, wenn der Fuchs exkneipt, reißen die Schubladen auf, ziehen ein funkelnagelfrisches Gespinnst an, legen das alte Wischtuch hinein und verschwinden. Darum hüte sich der Herr vor solchen, wenn ihm seine Wäsche lieb ist und wert.«

»Das will ich mir merken,« lachte Gerhard. »Sie aber scheinen Erfahrung zu haben.«

»Erfahrung!« Der kleine Mann lächelte überlegen. »Mehr als alle Professoren zusammen. Aber, im Vertrauen, das will nicht viel heißen.«

»Wieso?«

»Professoren haben Wissenschaft aber keine Erfahrung. Und, o jerum, wenn ein Student seine Weisheit bloß bei den Professoren schöpfen wollt', da käm' er nicht auf seine Rechnung.«

Er hatte nun auch die Stiefel und Schuhe ausgepackt und nebeneinander an die Wand gestellt. Mit gekreuzten Armen stand er davor und sagte, wieder gleichsam im Selbstgespräch: »Er hat zwölf Stück neue Hemden, und sein Schuhwerk ist auch gut – er ist von rechtschaffenen Eltern. Die Basis, wie die Mathematiker sagen, und der inwendige Mensch, wie sich die Theologen ausdrücken« – er bemerkte dies wohlwollend über die Schulter zurück – »darauf kommt alles an, junger Herr. Und nun suchen Sie sich halt auch sonst die richtige Basis! Oder sind Sie vielleicht doch nur wegen den Professoren da zugereist?«

Gerhard wies den Verdacht mit Entrüstung zurück.

»Also. Denn wissen Sie, junger Herr, das Wichtigste auf hohen Schulen sind die Gesellschaften. Und wenn einer vielleicht meint, bei uns da in der Stadt sind die Professoren Nummer eins, so ist er ganz auf dem Holzweg. Nummer 308 eins sind die Studenten. Dann kommt lang keiner mehr, dann erst kommen die Professoren und ganz zuletzt die Philister. Was ist denn auch so ein Professor, wenn er keine Studenten hat? Ein Brunnen ohne Schwengel, ein Wirt ohne Gäste, ein Faß ohne Hahn, ein Ofen ohne Bank. Ich will aber beileibe nicht schlecht reden von den Professoren. Kenn' manch einen honorigen Burschen unter ihnen, und da sein müssen sie auch. Nun, was wollen denn eigentlich Sie werden?«

»Philologe.«

»Schulmeister lateinischer. Ist auch ein Geschäft. Das ist der Pieperich auch gewesen, eh' daß er zu uns gekommen ist. So ein Rothaariger, Dürrer. Ich muß lachen, so oft ich ihn seh'. Kommt mir vor wie ein brennender Kienspan, mit dem ein ganz kleiner Bub kreuz und quer am hellen Tag umeinander herumrennt. Das ist der eine von unsern Philologen. Der andere aber, das ist der neue Professor, den wir erst im vorigen Semester aus Jena berufen haben – na, wie schreibt er sich denn gleich? Töbing! Den müssen Sie auch hören, und der ist ein honoriger Bursch gewesen, das sieht man ihm auch heut noch an, dem alten Herrn, und eine Tochter hat er, sag' ich Ihnen, ein wunderschönes Frauenzimmer. Ei was, Sie werden's ja schon gesehen haben, wohnt ja grad gegenüber.« Er trat ans Fenster und schob den Kopf hinter den Vorhang. »Richtig, da steht sie und gießt ihre Blumen. Ein wunderschönes Frauenzimmer, das muß man ihr lassen. Aber kalt, sag' ich Ihnen, kalt wie ein Eiszapfen. Ganz anders wie die hiesigen Besen, die alle Tanzböden abfegen und auf alle Regenbogenfarben eingeschworen sind.«

Nun stand er wieder am Bette des Fuchsen und fragte anscheinend gleichgültig, so nebenbei: »Auf welche Farben wollen denn Sie sich einschwören?«

309 »Weiß ich noch nicht.«

»No, Sie werden mir doch nicht etwa vielleicht ein trauriger Obskurant bleiben? So ein Kerl, der sich aus der Bude ins Kolleg drückt, vom Bürgersteig auf den Ochsenweg springt, wenn von weitem ein honoriger Bursch kommt? So ein Trauerschwanz, der sich in den schlechtesten Kneipen 'rumtreiben muß, weil er dorthin nicht kann, wo die honorigen Burschen sitzen? So ein Kerl, dem's schlecht wird, wenn er ein langes Messer von weitem sieht? Also lassen Sie sich sagen, ich will Ihnen reinen Wein einschenken.«

Er zog einen Stuhl ans Bett, setzte sich, stemmte die Ellbogen auf die Knie und begann an den Fingern aufzuzählen: Sine stira et judaeo! Auf dieser Hochschule gibt's drei Gesellschaften, wo einer ein honoriger Bursch werden kann. Da sind erstens die Preußen. Man kann ihnen grad nichts nachsagen. Aber ich wenn die Wahl hätt', zu den Preußen ging' ich nicht um die Welt. Da sind zweitens die Thüringer. Man kann auch gegen die kaum 'was sagen. Ich aber, wenn ich die Wahl hätt', zu den Thüringern ging ich mein Lebtag nicht. Und da sind drittens die Franken, und das sind meine Herren Studenten. Und wenn ich ein Fuchs wär', ein krasser, und käm' hierher – zu denen wollt ich mich halten. Freilich, bei den Preußen und bei den Thüringern kann einer leicht einspringen; denn die nehmen jeden. Bei den Franken aber, da ist das schwer. Die schauen sich ihre Leute zuvor an. Wenn aber dann einer in ihrer Gesellschaft ist, der kann auch stolz sein.«

Der kleine, braune Kerl mit der Stumpfnase verdrehte die schwarzen Augen, daß nur noch das Weiße hervorleuchtete, schnalzte und patschte sich auf die Knie. »Wo gibt's noch solche honorige Burschen wie bei uns? So zum Exempel der Eysen, der Wolfgang!«

310 »Eysen? Den hab' ich doch gestern kennen gelernt?« sagte Gerhard.

»So, so, den haben Sie kennen gelernt? Gestern, wie Sie das Tisch-Eck abgeschlagen haben?«

»Wissen Sie das auch schon?« Der Fuchs war rot geworden.

»Auch schon? Das weiß doch schon die halbe Stadt, Herr Frey. Und was hab' ich also gesagt? Ja so –! Von den Frankenburschen hab' ich geredet. Wo gibt's noch solche Fechter wie bei uns Franken? Und was ist denn so ein Stadtkommandant, was ist denn so ein Prorektor gegen einen Frankenburschen? Ich sag' Ihnen, der Stadtkommandant und der Prorektor, wer guckt denn nach denen, wenn unser Senior in voller Wichs die Hauptstraß' herunter kommt? Und die Mädels, die verrenken sich die Häls', wenn er daherkommt mit sei'm hohen Napoleonshut auf dem Schädel, mit sein' weißledernen Hosen, sei'm gelb-rot-gelben Federstutz, sei'm gelben Frack und sei'm roten Brustlatz, sei'm hohen, roten Kragen und roten Frackfutter, und klappern seine Sporen an den blanken Kanonen und schleppt der krumme Säbel hinter ihm drein übers Pflaster. Haben ihn die Leut' wegen sein' Epauletten schon oft für einen General gehalten, wenn er in die alte Reichsstadt hinüber geritten ist. Uns ist das aber zum Lachen. Denn was will so ein General gegenüber dem Senior von den Franken?«

Er hielt inne und lehnte sich zurück. »Doch wie gesagt, Herr, es ist nicht leicht; in unserer Gesellschaft stehen die Türen nicht für jedermann offen. Und keilen – keilen tun wir grundsätzlich nicht.«

»Aber wer sind Sie denn eigentlich?« fragte Gerhard.

»Jetzt will ich's Ihnen auch sagen. O warum nicht? Sie können's jetzt vielleicht auch besser begreifen. Ich bin der Stiefelfuchs bei den Franken.«

311 Er stand auf und reckte die kurze Gestalt. »Also – keilen tun wir grundsätzlich nie. Aber –.« Nun flüsterte der kleine Stiefelfuchs ganz vertraulich: »Wir helfen dem krassen Fuchsen ein bissel nach, damit er auf den richtigen Weg kommt. Denn wie steht so ein krasser Fuchs da? Wie's Kind im Regen. Und da tritt halt der Stiefelfuchs auf die Mensur. Und Sie dürfen mir's glauben, Herr Frey, ich schau' mir meine Leut' an. Wenn ich aber dann einen aufs Korn genommen hab', mit dem leg' ich Ehr' ein bei meinen Herren Franken. Und irren tu' ich mich nie nicht.«

Er ging an den Ofen und hob die schmutzigen Stiefel des Fuchsen auf. »Ich putz' Ihnen heut zum erstenmal Ihre Stiefel,« sagte er nicht ohne Feierlichkeit. »Und es sollt' mich freuen, wenn ich sie Ihnen recht viele Semester putzen könnt'. Es sollt' mich freuen und wär' mir recht. Aber einem andern als einem Franken hab' ich seit Menschengedenken nimmer die Stiefel geputzt.«

Er ging an die Türe. Dort wandte er sich noch einmal: »Und nix für ungut, Herr Frey. Und daß ich Sie gekeilt hätt', wird nicht einmal ein Thüringer sagen können. Ich hab's Ihnen nur auseinandergesetzt. Nicht um unsretwillen, sondern Ihretwegen. Und jetzt guten Morgen.«


Man kann ein menschliches Gebäude von unten und von oben betrachten. Von unten: Ein guter, ein sicherer Standpunkt. Man sieht die Grundlagen. Nur leider verliert sich von solchem Standpunkt aus der Aufbau leicht ins Ungemessene. Von oben: Ein vorzüglicher, ein übersichtlicher Standpunkt. Nur leider fehlt dem Obenstehenden die Kenntnis der Grundlagen, und er ist des öfteren geneigt, sie für schwächer zu halten, als sie in Wahrheit sind.

Gerhard sah das Burschenleben zunächst vom Standpunkt eines Stiefelputzers an. Was Wunder, wenn er, mit 312 der Nase an seine Fundamente stoßend, der Ansicht zuneigte, das Gebäude rage in die Wolken hinein?


Er war aufgestanden, er hatte sich gewaschen, er hatte seine Morgensuppe gegessen. Je länger desto lieber wurden ihm die Franken. Was hatte er nun schon alles über sie gehört! Und der Eysen gestern – es war doch zu nett gewesen, daß sich der Eysen des fremden Fuchsen so annahm.

Annahm? Gerhard warf den Kopf zurück. Er bedurfte keines Menschen, der sich seiner annahm. Er war Manns genug. Wie hatte der Stiefelfuchs gesagt? Die halbe Stadt spricht von dem abgeschlagenen Tisch-Eck.

Aber der Kandidat, der Körbelius – pfui Teufel, was für eine Feldscheuche! Dem sollte er doch die Meinung sagen. Pah – was ging ihn der Feigling an, der ehrlose Kerl, der lumpige Student? Wäre auch der Mühe wert, solch einem Hundsfott die Meinung zu sagen. Wenn er ihm begegnete, wollte er das Taschentuch vor die Nasenlöcher halten. Jawohl, das genügte.

Er sah auf die Uhr. Es war noch nicht acht. Da konnte er zunächst zum Buchbinder gehen und Tinte und Federn kaufen und schönes Papier. Viel schönes Papier. Schon am ersten Tage wollte er seine Ferienarbeit fortsetzen. Nulla dies sine linea. Vorgestern hatte er Buch drei Kapitel drei des platonischen Staates verdeutscht. Vorwärts! O alma mater!

Er nahm die Mütze und stürmte aus der Stube.

Draußen im Vorplatz am Fenster, dort, wo die steile, schmale Stiege zu den Dachkammern emporführte, stand der Kandidat.

Jählings griff der Fuchs in die Hosentasche. Verdammt, er hatte kein Taschentuch eingesteckt. Mit diesem einzig richtigen 313 Zeichen der Verachtung war's also nichts. Nun aber geschwind vorbei mit abgewandtem Gesicht –!

Körbelius vertrat ihm den Weg: »Herr Frey – ich – ich fühle, daß ich Ihnen eine Erklärung meines Verhaltens schuldig bin.«

»Sie sind mir gar nichts schuldig, und ich Ihnen auch nichts.« Der Fuchs hatte es hochmütig herausgestoßen, und als der andere nicht aus dem Wege ging, wollte er ihn beiseite schieben. Der aber stand mit herabhängenden Armen und wich keine Spanne. Verwundert ging Gerhard einen Schritt zurück; es schien ihm, als habe der da vor ihm den Willen und die Körperkraft, stehen zu bleiben, wo er stand.

Körbelius faltete die Hände und sah ihn flehend an:

»Nur fünf Minuten!«

»Nein,« sagte Gerhard trotzig. »Es hätte gar keinen Zweck. Wir sind verschiedener Ansicht über die Ehre. Das ist alles. Und ich verkehre nur mit honorigen Burschen.«

»Ist das Ihr letztes Wort?«

»Mein letztes Wort. Und nun Weg frei!«

Der Fuchs stürmte die Treppe hinunter und auf die Gasse hinaus. Es war ihm unbehaglich zu Mute; es war ihm zu Mute wie nach einer Niederlage. Dann aber lachte er fast laut auf. Warum denn? Er hatte gehandelt als ein honoriger Fuchs. Über alles die Ehre!

*

O Gott, wie war die Welt so schön. Das Leben lag vor ihm wie eine sanft ansteigende, mit junggrünbelaubtem Buschwerk bewachsene, unergründlich tiefe Halde. Sonnenschein war über sie ausgegossen, weit, weit hinauf dehnte sich das Gewirre der Zweige, und viele hundert Vögel sangen und trillerten, schlugen und schluchzten ihm entgegen in seliger Wonne. Hoch droben über der sonnigen, jauchzenden, geheimnisvollen Halde stand blauduftig, stand ernst 314 und still und hoch der Wald. Aber wer kümmerte sich jetzt um den Wald, wer sah heute hinüber ins Land der Philister? Laßt ihn doch stehen, den Wald, stumm und ernst. Hier vor uns dehnt sich unser Leben, hier vor uns lockt unergründlich tief unsere Jugend. Mit vorgestreckten Armen auf und hinein! Schon schlagen die Zweige zusammen über dem goldlockigen Haupte, vielhundert Vogelstimmen schmettern und pfeifen und rollen und lachen, und die Sonne zittert in goldenen Lichtern auf dem schwellenden Moose, in dem der Fuß bis an die Knöchel versinkt. O Jugend, o Lust!


Hohe Schulen – weithin ragende, umfriedete Stätten!

Seht doch, wie ein Geschlecht der Suchenden nach dem andern zu ihnen emporsteigt, Erleuchtung zu gewinnen und Erleuchtung hinab zu tragen in das Tiefland des Lebens. Heil ihnen, wenn sie kommen mit wahrer Sehnsucht und wieder von dannen ziehen als Träger eines zum Himmel emporweisenden Lichtes. Und heil euch, ihr ehrwürdigen Hüter des Wissens, ob ihr nun mit der Kraft des Riesen ein flammendes Becken von der höchsten Zinne des Baues emporreckt, daß loderndes Feuer weithinaus scheine wie das zielweisende Feuer des Leuchtturmes über das nächtliche Meer hin – oder ob ihr eine Ampel umschlossen haltet mit schwächeren Händen, ein Flämmlein nur hütet und denen darbietet, die da kommen zu holen. Feuer ist Feuer. Aber die Talgkerze bleibt eine Talgkerze, auch wenn sie sich täglich an einem Leuchtturm entzündet. Und am Grubenlämpchen eines Zwerges kann unvermutet ein Halbgott seine Fackel entflammen.

Es war keine hochberühmte Universität, in deren Mauern der junge Student seinen Einzug gehalten hatte, keine von den vielhundert Jahre alten Hochschulen, an deren Geburtsbriefen die Bleibulle herabhängt. Sie hatte keine Geschichte 315 hinter sich, deren stumme Sprache abzulesen war von grauen Giebeln, von fein gemeißelten Säulenknäufen hallender Kreuzgänge, von vieltausend Goldrücken einer altererbten Bücherei – oder auch von den verkritzelten Wänden eines ehrwürdigen Karzers. Sie war eine der allerjüngsten unter ihren stolzen Schwestern in deutschen Landen; sie war hineingestellt in ein neues, nüchternes Städtchen mit hübschen Häusern und breiten Straßen, mitten hinein in eine liebliche Schäferlandschaft. Keiner ihrer Lehrer hütete ein weithin loderndes Leuchtfeuer. Aber in dem bescheidenen Kollegienbau, in den niederen Studierstuben saßen redliche Männer mit gutbrennenden Ampeln, treue Hüter und Vermittler des Lichtes. Kein päpstlicher Segensspruch aus uralten Tagen gab ihrer Lehrtätigkeit die Weihe, und hätte sie einer nach ihren Schutzgeistern gefragt, dann wären ihm Namen genannt worden wie Jakob Spener, Christian Thomasius, Friedrich August Wolf und Johann Stephan Pütter – vielleicht auch von diesem und jenem mit leuchtenden Augen Immanuel Kant. In der Tiefe der Jahrhunderte aber, hinter all diesen, stand, schon fast nebelhaft verschwommen und doch alles bestimmend – Luther, der Riese.

*

Wolfgang Eysen holte den Fuchsen ab und führte ihn hinüber auf den Marktplatz. Da sah Gerhard zum ersten Male die Gesamtheit der Burschen, Große und Kleine, Dicke und Dünne, Junge und sehr Bemooste, Dumme und Gescheite – die meisten erfüllt von Verachtung gegen die ganze übrige Menschheit, alle ohne Unterschied überzeugt von der Wichtigkeit ihres eigenen Daseins. Er sah auch zwischen den Vielerfahrenen die Menge der Füchse, wohl erkennbar am Mangel jeglicher Farben und an der Art, wie sie die Füße setzten, wie sie die Hände herabhängen ließen, wie sie die Köpfe trugen und in Ehrfurcht standen vor den überlegenen Burschen.

316 Er selbst bewegte sich so mannhaft als möglich auf dem ungewohnten Pflaster, bemühte sich, ein grimmiges Gesicht zu schneiden, und war erfüllt von dem dringenden Wunsch, daß man ihm doch nicht gleich an der Nasenspitze ansehe den Hereingeschneiten, den Krassen.

In drei stolze Scharen gesondert, jede Schar umringt von ihren leibeigenen, zähnefletschenden Hunden, stand die gesamte Studentenschaft, und Gerhard bemerkte mit Befriedigung, daß die Franken zum größten Haufen geballt waren.

Noch blieb ihm ja die Wahl, zu welchen Farben er schwören wollte. Aber in seinem Herzen war er doch schon gefangen von so viel Männerstolz und Männerwürde der Gold-rot-goldenen.

»Ich will nun belegen,« bemerkte er nach einer Weile des Herumstehens zu einem der Burschen. »Haben Sie's schon besorgt?« Da lachte dieser und meinte, das habe doch immer noch Zeit bis zuletzt – nach der Immatrikulation.

Aber Gerhard bestand darauf, er wolle belegen. Und als der andere wieder lachte, bekam er einen roten Kopf und ging.

Das Belegen war ein Privatabkommen zwischen Professor und Student. Es gab nur zwei Hörsäle von geringer Größe; deshalb lasen fast alle Lehrer zu Hause in ihren Studierstuben, und dort waren auch die Listen aufgelegt, in die der Adept seinen Namen zu schreiben hatte.

Gerhard zog die Glocke an dem einstöckigen Hause des Philologen Töbing, das seiner Bude gegenüber stand. Mit Pfeifen und Rasseln kam der Aufzug in Bewegung; die Türe öffnete sich, der Fuchs stand in einem breiten, tiefen Vorplatze.

Linkerhand führte eine schöne Treppe ins obere Stockwerk, geradeaus fiel der Blick durch eine offene Türe auf das grüngelbe Blättergewirr eines Gartens.

317 Ein Mädchen trat in diese Türe.

Gerhard zog den Hut. Das Gesicht des Mädchens war beschattet; aber das lichte Haar, die Umrisse der Schultern und des weißen Kleides waren umflossen vom Glanze der Sonne.

Sie trat ein paar Schritte heran. Da sagte er mit einer zierlichen Verbeugung, er wolle sich einschreiben.

»Bitte, hier!«

Sie hatte eine tiefe, weiche Stimme, und nun sah er auch, daß sie schön war, ein schmales Antlitz, große, dunkle Augen, gesunde Farben, eine hohe, weiße Stirne und einen feinen, roten Mund hatte.

Er folgte dem Wink ihrer Hand und trat an das Stehpult zur Rechten im Hausflur.

Zögernd kam sie heran, während er die Feder eintauchte. Zögernd, mit schlaff herabhängenden Armen. Und etliche Schritte hinter ihm blieb sie stehen und betrachtete ihn schrägher mit verwunderten Augen.

Knirschend fuhr der Kiel über das Papier.

»Hier ist Streusand.«

»Gerhard Frey –?« Sie las es halblaut, griff nach der Büchse und – vergaß den Sand über die glitzernden Buchstaben zu streuen.

Der Fuchs wußte, was sich geziemte, wiederholte seinen Namen und verbeugte sich noch einmal.

Das Mädchen war blaß und rot geworden und bestreute nun mit zitternder Hand die nasse Schrift.

»Sie wollten gewiß auch meinen Papa sprechen?«

Es wäre ihm eine große Ehre gewesen, meinte der Fuchs. Indes wenn es heute nicht sein könne –.

Ob er nicht ein wenig warten möchte? Papa müsse in Bälde zurückkommen.

Aber gewiß möchte er das.

318 Und so ging sie voran, in den Garten hinaus. Mit gezogenem Hute folgte er ihr.

Es war ein sehr großer Garten, vorne Ziergarten, hinten Gemüse und Obstgarten, der sich weit hinaus bis an die Landstraße erstreckte. Zwischen den verschnittenen Hecken des vorderen Gartenteiles liefen schnurgerade Wege, in die Hecken waren Steinbänke eingebaut, und da und dort ragte über einem Blumenrondell ein bemoostes Götterbild mit bös verrenkten Gliedern. Der Kavalier einer Markgräfin mochte das alles vorzeiten angelegt haben.

Sie gingen nebeneinander durch das raschelnde Laub, und der Fuchs bemerkte wohl, daß sie des öftern von der Seite zu ihm hersah. Aber wenn er die Augen nach ihr wandte, dann wurde sie rot und blickte geradeaus.

Sie verstand sich aufs Fragen. Und als sie vor der Bank hielten, vor der Steinbank am Ende des Heckenganges im Schatten der verschnittenen Buche, wußte sie schon sehr viel von ihm: daß sein Vater Arzt sei und seine Mutter längst gestorben, daß er einer zweiten Mutter viel verdanke und einen älteren Bruder habe, der in Jena die Medizin studiere.

»Habe ich recht gehört, Sie sind ja auch erst von Jena hierhergekommen – vielleicht kennen Sie ihn?« rief er plötzlich. Da ward sie dunkelrot und lud ihn ein, sich neben sie zu setzen.

»Es gibt so viele Studenten in Jena,« sagte sie mit niedergeschlagenen Augen und wühlte mit der Spitze ihres Schühleins im abgefallenen Laub. »Aber ich habe wohl alle Studenten in Jena von Angesicht gekannt.«

Dem Fuchs war wunderlich zu Mute, wunderlich und sehr behaglich. Das hübsche Mädchen hatte Gefallen an ihm gefunden, da war kein Zweifel mehr übrig. Immer wieder sah sie ihn verstohlen an, und wenn sich ihre Blicke kreuzten, 319 dann schlug ihr die Röte ins Gesicht, als wäre sie auf einem Unrecht ertappt. Ohne Überlegen beschloß er deshalb, ihre Gefühle aufs wärmste zu erwidern. Wie ein Rausch kletterte es in seinen Kopf empor: O Welt, wie bist du wunderschön! – Cäsars Wort fiel ihm ein, und fast hätte er laut vor sich hin gesagt: ›Kam, sah und siegte!‹ Er reckte sich höher: Siegte! Ei warum denn auch nicht?

Und wieder dehnte sich so lockend vor ihm, sanft ansteigend, grünschimmernd, unergründlich tief, mit goldsonnigen Lichtern das zauberhafte Zweig und Blättergewirre seiner Jugend.

Er wandte den Kopf und gedachte nun das holde, in erster Liebe erglühende Kind einmal so recht ohne Schüchternheit, nach Herzenslust anzusehen. Da wandte dieses Kind das Antlitz und erwiderte seinen Blick mit großen, verwunderten Augen. Dann aber glitt ihr Blick an ihm vorüber ins Buschwerk des Gartens, und als er ein paar gleichgültige Worte stammelte, rollten zu seiner Verwunderung zwei dicke Tränen über ihre Wangen.

O Himmel, wie hatte er nun diese sichtbaren Zeichen der Empfindsamkeit zu deuten? Sollte er sich sogleich herzlich nach dem Anlaß ihrer Tränen erkundigen, sollte er sie durch ein Scherzwort aufrichten aus einer Betrübnis, deren tiefe Ursache er mit klopfendem Herzen zu ahnen glaubte, oder sollte er zunächst durch weise Zurückhaltung die Glut anfachen zu lodernden Flammen? Verdammt, daß er so unerfahren war in der Kunst der Liebe.

Zum Glücke kam gerade jetzt der Professor und enthob ihn weiterer Sorge.

Lange durfte er neben dem Gelehrten auf und ab gehen im rauschenden Laube unter den lichten Bäumen. Leider Gottes aber hörte er nur mit halbem Ohr, was der geistvolle Mann wohlwollend mit ihm besprach.

320 Wie ein leicht Berauschter stolperte er durch den dämmerigen Hausflur hinaus auf die sonnige Gasse, über den Marktplatz ins Kommershaus der Franken, wo ihn die Burschen mit herablassender Herzlichkeit begrüßten, wie einen, der doch eigentlich schon zu ihnen gehörte.

*

Es war Nachmittag.

Längs der Landstraße zog sich die graue Mauer des Töbingschen Obstgartens hin, auf und hinter diese Mauer aber war ein steinernes Gartenhäuschen gebaut.

Ein mächtiger Apfelbaum streute leise seine gelben Blätter auf die grüngestrichenen Schindeln des Zwiebeldaches herab. Moderluft des Herbstes stieg aus der regendurchtränkten Erde, und weit hinaus dehnte sich das Land im Sonnenscheine.

Zwei Männer saßen am offenen Fenster: Professor Töbing und sein Kollege, der Mathematiker.

Töbing hatte ein offenes, freies Antlitz. Seine Stirne war hochgewölbt und verlor sich in einer mächtigen Glatze. Er war glatt rasiert, nur an den Schläfen herab stand grauer, lockiger Bart. Unter dunkeln Brauen leuchteten blaue Augen. Zwischen schmalen Lippen floß die Rede mit norddeutscher Klangfarbe mühelos in wohlgeformten, kurzen Sätzen hervor. Und als er sich erhob und zu dem Wandschränkchen hinüberging, eine Flasche und zwei Gläser zu holen, da mußte sich die mächtige Gestalt bücken unter der Holzdecke des Zimmerchens.

Der Mathematiker saß wie ein Gnom am Tischlein, hatte die Ellbogen auf die Platte gestützt, alle zehn Finger in sein struppiges Haupthaar vergraben und starrte mißmutig hinter Brillengläsern ins Land. Und wenn er kurze Bemerkungen hinwarf, dann zog sich sein Mund auseinander, als wollten die langen, gelben Zähne beißen, und 321 er gab sich keine Mühe, anders zu sprechen, als ihm seine fränkische Zunge gewachsen war.

Lachen und Plaudern ertönte in der Ferne.

»Trinken Sie, Herr Kollega,« sagte der Philolog und ließ den glucksenden Wein in die Römer fließen. »Sie sehen trübe ins Semester. Aber was es auch bringen mag, wir wollen ihm ein fröhliches Gesicht zeigen. Prosit, es lebe!«

»Sie haben gut reden,« murrte der andere, nahm sein Glas und stieß damit an.

Das Lachen und Plaudern kam näher und näher. Der Kleine stand auf und beugte sich aus dem Fenster. »Natürlich, die Herren Studenten!« Murrend setzte er sich wieder. »Man beginnt auf alte Burschenart das Semester mit einem Gang nach dem Bierdorf.«

»Immerhin noch besser, als wenn man den ganzen Nachmittag in der Stadt herumsöffe,« meinte der Große. »Die Franken,« setzte er nach einer Weile hinzu.

»Die Anmaßendsten von den drei Gesellschaften,« brummte der Kleine und nahm einen Schluck.

Der Große schwieg. Truppweise zogen die Studenten vorüber.

»Wir sind am unrichtigen Platze, Herr Kollega!« Der Gnom verzog den Mund.

»Wieso?«

»Unten im Straßengraben sollten wir sitzen, und hoch über uns müßten sie vorbeimarschieren. Ist ja doch alles verrückt auf hohen Schulen. Dreißig bis vierzig Jahre – das ist draußen, wo sich das Leben weitertastet von gestern auf morgen, die Zeit des Umtriebes; ein Menschenalter nennen's die Leute. Drei bis vier Jahre, in denen der Bursche seine Semester durchstürmt, danach haben wir auf hohen Schulen zu rechnen. Eine rasch wechselnde Oberschicht – die Herren Studenten, und eine langsam sich 322 vorschiebende, angegraute, muffelige Unterschicht – wir und die andern Philister bis herunter zum Stiefelfuchsen.«

Überlegen lächelte der Philolog.

Der Mathematikus aber sprach knurrend weiter: »Man sagt, der Bonaparte hasse die Landsmannschaften. Kann mir's wohl denken, warum. Das Nahverwandte haßt sich oft. Was fragt der Bonaparte viel nach Recht und Moral? Und diese Burschen? Landsknechte sind's, über alle Gassen und Plätze strecken sie ihre Rapiere, und wo sie hintreten, wird die akademische Freiheit in den Boden gestampft. Sie haben die Freiheit in Erbpacht genommen; ihre Freiheit aber ist die Sklaverei der anderen. Hätte ich die Macht, ich wollte sie zersprengen in alle vier Winde vor Abend noch.«

Der Große schüttelte den Kopf: »Sie wollten die Vereinigungen dieser Jünglinge auflösen? Aber die Jugend wird sich immer verbünden – schon im bewußten oder unbewußten Gegensatz zum Alter. Und sie hat recht. Verbünden wir uns doch auch und rüsten wir uns gegenseitig zur Eroberung der Jugend. Es täte wahrlich not.«

»Pah, diese Jugend!« rief der Kleine. »Was sucht denn diese Jugend auf hohen Schulen? Dem Zwang entronnen steht sie mit gierig geöffnetem Rachen, schlingt jede Lust hinein und belastet Gesundheit und Gewissen mit Ewiggeldern, deren Zinsen sie in all ihrer Zeitlichkeit nimmer zu zahlen vermag. Ich glaube nicht an diese Jugend.«

Der Große beugte sich über den Tisch. »Und haben Sie freundlichst überlegt, Herr Kollega, was ich Ihnen gestern vorgeschlagen habe?«

»Sie sind ein Phantast,« murrte der Gnom.

Der Norddeutsche hob seinen Römer gegen das Licht und sah gedankenvoll durch den goldfunkelnden Wein. Dann schlürfte er bedächtig ein Schlücklein und behielt es eine Zeitlang auf der Zunge.

323 »Eine gelehrte Gesellschaft, jetzt in der bösen Zeit? Jetzt, wo jeder genug mit sich selber zu tun hat?« sagte der Mathematiker.

»Gerade jetzt,« wiederholte der Philolog mit Nachdruck. »Wir dürfen nicht einsam bleiben, ein jeder in seiner Studierstube. Wir müssen Fühlung untereinander bekommen. Zuerst wir einzelnen Lehrer unter uns und mit den Studenten, dann wir verbündeten Lehrer mit der Gesamtheit der Jugend. Geht denn nicht alles Forschen auf ein einziges großes Ziel, ist nicht alle Wissenschaft dazu bestimmt, auszuklingen in die Harmonie eines einzigen Gesanges der Geister, und kann nicht jeder den andern gewissermaßen hereinlocken, hereinzwingen aus der Einsiedelei in die große Gemeinschaft, in die wahrhaftige Universitas, wenn er nach Feierabend die eigene Werkstatt dem Besuche öffnet? Es schadet dem Arzte nichts, wenn er in Fühlung bleibt mit dem Philosophen, es nützt dem Juristen, wenn er immer wieder erinnert wird, daß alles geschichtlich geworden, vom Stamm zum Ast, zum Zweig, zum Blatt gewachsen ist. Sie haben recht, es ist böse Zeit. Mit Heulen möchte man sagen – o deutsches Vaterland! Aber stehen uns nicht Flügel zu Gebote, mit Rauschen emporzufahren, hoch über das Elend der Zeit, und also doch vielleicht unversehens zu werden – Meister dieser Zeit?«

»Deutsches Vaterland?« Der Gnom verzog den Mund. »Wo ist denn dieses deutsche Vaterland? Wer von uns hat's denn jemals gesehen? Wer hat's irgendwann erlebt? Ich nicht. Und also vermisse ich auch nicht, was ich niemals gekannt oder gehabt habe. Ich bedarf dieses Vaterlandes nicht.«

Auf der glatten Stirne des Großen fuhr eine dicke Ader empor, und krampfhaft umspannte seine Hand den Römer. Doch er bezwang sich und erwiderte nach einer Weile 324 ruhig: »Sie haben das wohl nicht so ganz überlegt, Herr Kollega?«

»Nicht so ganz überlegt?« Der Gnom sprang auf und begann in dem engen Raume umherzulaufen. »Ich sage Ihnen, das ist meine innerste Überzeugung, das ist der Extrakt einer Gedankenarbeit von Dezennien. Ich wiederhole: Vaterland –!« Er schnalzte mit Daumen und Mittelfinger und stieß einen Pfiff durch die Zähne. »Nicht so viel geb' ich aufs deutsche Vaterland.«

Mit unsäglicher Wehmut wandte der Große das Haupt und blickte zum Fenster hinaus in den Sonnenschein der lieblichen Herbstlandschaft.

Es war stille in dem Raume, und mit geballten Fäusten stand der Kleine. Dann aber sagte er plötzlich mit veränderter Stimme: »Verachten Sie mich nicht, Herr Kollega; von Ihnen tät's mir bitter weh. Aber schauen Sie, ich hab' halt den Glauben verloren.«

»Und möchten doch so gerne noch glauben?« fragte der Große, wandte das Haupt und sah den Kleinen forschend an.

»O so gerne!« rief dieser und faltete die Hände. »Aber es geht nicht, es geht nicht.« Er griff in seine Brusttasche und zog ein Blatt Papier heraus. »Sie haben immer das deutsche Vaterland im Munde, Herr Kollega. Aber was ist denn unser deutsches Vaterland seit Menschengedenken? Da hören Sie einen alten Propheten, und wenn ich fertig bin, dann sagen Sie mir, ob er wahr prophezeit hat:

›Schließlich werden zum Löschen des Feuers alle zusammenströmen. Die benachbarten Völker werden wie mit verhängtem Zügel sich über uns ergießen, in unseren Ebenen wird um die Herrschaft, ja um das Leben gestritten werden. Wir werden den Streitenden ein Polster sein, eine Beute der Sieger, das Grab, an dem alle Nachbarn schaufeln; den Barbaren zur Verachtung, wenn wir uns ihnen 325 freiwillig unterwerfen; verabscheuungswürdig den Befreundeten, welche wir durch unsere Torheit in die äußerste Gefahr gestürzt haben. Freiheit, Sicherheit, Wohlstand, Ehre, zeitliches und ewiges Wohl werden so zugrunde gehen.‹«

Er schnappte nach Luft. Fragend hielt der Große die Augen auf ihn gerichtet. Da stieß der Kleine hervor: »Seine Knochen modern schon seit mehr als hundert Jahren; Leibniz hat's geschrieben anno 1669. Aber ist es Ihnen nicht eiskalt den Buckel hinuntergelaufen? Denn er hat recht gehabt.«

»Gehabt!« sagte der Philologe und erhob sich. »Ein leerer Raum von unermeßlicher Größe dehnt sich vor uns die Zukunft, und wir bevölkern sie mit Gestalten unserer Einbildung, mit hellen oder mit düsteren, je nachdem uns zu Mute ist. Törichtes Beginnen, gewinnlose Arbeit. Wo wir Schnee und Eis erblickten, werden wir über blühende Wiesen schreiten, wo wir zu tanzen verhofften, werden wir am Stabe dahinschleichen, wo uns Dämonen ängsteten, werden uns Engel geleiten – und gewiß ist nur das eine: es wird alles ganz anders kommen, als wir es mit blöden Augen vorausgesehen hatten. Ich bin kein Leibniz und bin kein Prophet. Aber ein Deutscher bin ich und habe Gewißheit dessen, was ich nun sage: Samenkörner von unglaublicher Verschiedenheit ruhen im Schoße des Volkes. Das Millionenfache, das fort und fort aufgeht, eine kleine Zeit besteht und hernach lautlos verweht, das freilich zeigt immer und immer wieder das vertraute, alltägliche Antlitz, vornehmlich das Maul zum Fressen, den Rachen zum Saufen und die unersättliche Gier nach Lust. Dazwischen aber schießt auch einmal irgend ein Gewächs, ein Schaft von unbekannter Art empor, eine neue, unerhörte Form aus dem Nährboden der alten Erde. Steht und ragt und spendet Frucht und Schatten, und Zahllose ziehen an ihm vorüber, 326 recken sich zu ihm und wachsen selber an ihm hinauf und seiner Größe, und wenn er längst gebrochen ist im Ansturm der Zeit, dann steht doch noch – vielleicht tausend und tausend Jahre – hochragend sein Abbild im Gedächtnis der Menschen und ist eine Wegmarke denen, die aus der dunkeln Vergangenheit ziehen in die ungewisse Zukunft. Und staunend müssen wir sagen, es ist göttliche Zeugungskraft in dem uralten Erdenstoffe, aus dem sich die Menschheit fortwährend erneuert, es ist in dem scheinbaren Einerlei eine unsägliche, aus der Fülle der Ewigkeit geborene Mannigfaltigkeit. Und deshalb glaube ich auch an diese Jugend, mag sie sich noch so ungestüm gebärden; und wenn ich heute nicht mehr an ihre Zukunft glaubte, so legte ich morgen mein Amt nieder. Ist ja vielleicht schon längst in dieser Jugend emporgewachsen der Retter, geht unter uns umher, und wir erkennen ihn nur nicht im Alltagskleide der Masse – oder vielleicht ruht er noch in einer Wiege, spielt mit seinen Fingerlein und guckt mit großen Augen hinauf zu einer niedern Decke – vielleicht auch atmet er noch gar nicht, aber die zwei, deren Dritter er zu werden bestimmt ist, gehen einander entgegen, unaufhaltsam entgegen, und müssen sich finden. Und dann wird er und wächst auf über alles Volk – vielleicht nur einige Fuß näher der Idee als wir Zwerge, aber ein Riese vor unsern Augen, ein Führer auf dem Wege zur Freiheit. Das weiß ich gewiß.«

»Möcht's glauben und kann nicht,« sagte der Kleine nach einer Weile.

»Und wenn wir's nicht glauben, Kollega, wer soll's dann denen da draußen hoffen lehren?« rief der Große und wies mit der ausgestreckten Hand auf die Landstraße, wo der Gesang der Franken herüberklang aus weiter Ferne. »Und was wären wir ohne die Hoffnung? Ich sage Ihnen, wir müssen Tag um Tag, Woche um Woche, Jahr um 327 Jahr dem entgegenhoffen, müssen auf den hinarbeiten, müssen glauben an den, der da kommt, wenn wieder einmal die Zeit erfüllt sein wird. Amen.«

»Und ob's die draußen hoffen wollen?« fragte der Mathematiker. »Den Giganten aber von wundersamer Art, den Riesenschaft, an dem sich Zahllose emporranken, den erleben wir ja täglich, sehen und spüren den eiskalten Schatten, den er auf uns alle hereinwirft.«

»Den Korsen?« Der Philologe reckte sich. »Kollega, ich habe wahrhaftig nur an einen Deutschen gedacht.«

Ein Männchen schoß draußen auf der Landstraße heran.

»Der Pieperich!« knurrte der Gnom.

»Der Pieperich,« sagte der Große mit einem melodischen Seufzer.

»Guten Tag, Ihr Herren Kollegen,« tönte es von unten herauf. »Sie wissen zu leben an diesem wundervollen Herbsttage!«

Der Gnom rührte sich nicht. Der Große aber trat höflich ans Fenster und beugte sich hinaus.

»Apropos –!« Pieperich griff in seine Rocktasche und schwenkte ein Druckheftchen zum Fenster empor. »Ich habe da heute zufällig auf unserer Bibliothek eine Abhandlung über die Herkunft des altbayerischen Stammes gefunden. Merkwürdig, daß mir diese geistvolle Schrift bisher entgangen war.«

»Und was handelt der Kerl ab?« fragte nun der Gnom und trat neben den Philologen.

»Er beweist mit schlagenden Gründen, daß die Bayern Kelten sind und also mit den Franzosen –«

»Die bekanntlich auch Kelten sind,« sagte der Gnom.

»– und also mit den Franzosen, die auch Kelten sind, sich eines und desselben Ursprungs zu rühmen vermögen,« 328 rief Pieperich und klopfte mit der flachen Hand auf das Heftchen.

»Quod erat demonstrandum, und dafür hat er sicherlich den Orden der Ehrenlegion gekriegt,« sagte der Gnom und begann zu pfeifen.

»Herr Kollega!« Pieperich reckte die schmächtige Gestalt. »Ich finde das gar nicht hübsch von Ihnen, daß Sie dem Manne ohne weiteres gemeine Motive unterschieben.«

»Der Orden der Ehrenlegion ist meines Erachtens ein ganz ungemeines Motiv,« bemerkte der Gnom und fletschte die Zähne.

»Ich vermute, diesen Gelehrten hat die Begeisterung für das Große und Erhabene getrieben, das Kleine und Unbedeutende mit den Fäden der Wissenschaft jenem zu verknüpfen,« sagte Pieperich.

»Und was erscheint Ihnen so groß und erhaben?« erkundigte sich nun auch der Norddeutsche.

»Eben der Große und Erhabene, den uns ein gnädiges Geschick zur rechten Zeit geschenkt hat!« rief Pieperich.

»Und was erscheint Ihnen klein und unbedeutend?«

»Nun eben Völker wie das deutsche, die nicht mehr imstande sind, sich ohne fremde Beihilfe zu regieren. Es ist doch alles so klar: Unsere Aufgabe liegt auf einem andern Gebiete. Wie sagt Schiller?

Das ist nicht des Deutschen Größe,
obzusiegen mit dem Schwert;
in das Geisterreich zu dringen,
Vorurteile zu besiegen,
männlich mit dem Wahn zu kriegen,
das ist seines Eifers wert.«

»Herr Kollega!« Der Mathematiker stemmte die kurzen Ärmchen auf den Fenstersims und neigte sich tief hinab: »Fürs erste – wenn Sie nichts Gescheiteres von Schillern 329 wissen, dann lassen Sie sich Ihr Schulgeld zurückbezahlen. Fürs zweite – spitzen Sie sich doch eine Feder und schreiben Sie den Beweis, daß wir Franken und die Franzosen im Grunde auch ein und dasselbe sind. Denn bei uns gibt's Hornträger und bei den Franzosen ist auch kein Mangel daran, ergo! Und dann beruft Sie der Bonaparte vielleicht gar noch zu seinem Hofhistoriographen nach Paris.«

»Es müßte ein unsägliches Gefühl sein, in der Nähe dieses Mannes zu atmen,« sagte Pieperich und steckte sein Heftchen in den Rock.

»Wie haben Sie das gemeint, Herr Kollega Pieperich, wen hat uns das gnädige Geschick zur rechten Zeit geschenkt?« fragte nun der Große.

»Den Bonaparte,« erklärte Pieperich und sah verzückt hinaus in die blauduftige Ferne. »Ich habe mir ein Bild von dieser wundersamen Erscheinung gemacht, das mir niemand mehr zerstören kann.«

»Bitte, halten Sie uns nicht in Spannung!« knurrte der Gnom.

»Im vollen Bewußtsein göttlichen Auftrages, Tag und Nacht erfüllt von dem Gedanken, wie er diesen Auftrag am besten ausführe, ein Sendbote zum ewigen Völkerfrieden, ein Beglücker der Völker, ein selbstloser Liebhaber der Gerechtigkeit, eine friedendürstende Natur, ist er dazu verurteilt, auf den rauhen Bahnen des Krieges einherzuschreiten und den Völkern wider ihren Willen auf der Schärfe des Schwertes das Glück vom Himmel zu bringen.«

»Diese kurzsichtigen Völker!« bemerkte der Große.

»Und je mehr ich's also bedenke,« fuhr Pieperich fort, »desto klarer wird meine Erkenntnis. Er ist ein tragischer Held, und die Tragik seines Erdendaseins spiegelt sich schon äußerlich in seinen wunderbaren Gesichtszügen. Er lechzt nach Ruhe und muß leben in Unruhe, er möchte nur 330 Frankreich beglücken und muß einen Weltteil regieren, er möchte –«

»Ja, was möchte er nicht alles?« sagte der Große und wandte sich ab.

Universitätsprofessor Doktor Pieperich aber fuhr fort: »Sein Genius treibt ihn, und er wird nicht rasten, bis daß er ganz Europa –«

»Zum Schemel seiner Füße gemacht hat,« ergänzte der Gnom und streckte die Hände segnend über den begeisterten Mann auf der Landstraße. »Sie aber sind eine von den – Quasten am Schemel des Kaisers.«

Pieperich ließ sich nicht beirren. »Und wer ihm dazu hilft, mit dem Schwert oder mit der Feder, der hat Teil an dem Werke einer unerhörten Völkerbeglückung.«

»Das lassen Sie doch auch drucken, Herr Kollega? Dann kann's gar nicht fehlen,« sagte der Gnom, ging zurück vom Fenster, ließ sich auf den Stuhl fallen, daß er krachte, und sagte stöhnend: »Geben Sie mir einen Schluck Wein, Herr Kollega, es ist mir übel geworden.«

Pieperich tänzelte weiter in den sonnigen Nachmittag hinein. Der Große aber füllte die Gläser und setzte sich dem Gnomen gegenüber. »Was sagen Sie weiter dazu?«

Die Äuglein des Mathematikers funkelten. »Hunde sind's und lecken den Stiefel, der ihnen den Tritt gibt. Wer kann's dem Stiefel verdenken, daß er mit Wollust auf ihnen herumtritt? Oder mit einem andern Bilde: Ich kann mich sehr wohl in Ihre Seele versetzen, sagte der aus uralter Forscher- und Wühlerfamilie stammende Mäuserich, als die Kreuzotter sich anschickte, ihn zu verschlingen. Von meinem objektiven Standpunkt aus muß ich die Berechtigung Ihrer subjektiven Anschauung anerkennen. Sie bedürfen meiner, und wenn ich mich auf einen noch objektiveren Standpunkt stelle, so empfinde ich beinahe Genugtuung, daß ich Ihren Zwecken zu 331 dienen vermag. Wollen Sie nach diesen theoretischen Auseinandersetzungen gütigst beginnen!«

Der Große hatte sich zurückgelehnt. Wieder war die Ader auf seiner Stirne geschwollen. »Als Einzelerscheinung ungefährlich; Spezies des verrückt gewordenen Gelehrten,« sagte er langsam. Dann aber schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß die Römer tanzten: »Nur leider Gottes laufen solche Pieperiche zu Tausenden herum, und es ist Gefahr, daß die ganze deutsche Nation dem Fremdling gegenüber noch zu einem einzigen Pieperich wird.«

»Die ganze deutsche Nation?« Der Mathematiker zuckte die Achseln und verzog das Gesicht. »Wo ist diese Nation?«

*

Die Franken waren draußen in ihrem Bierdorf und saßen im Sonnenschein unter gelichteten Bäumen.

Mit trunkenen Augen blickte Gerhard über die langen Tische, über die plaudernden, lachenden, singenden Kommilitonen.

»Komm Frey, nun wollen wir sehen, was du kannst!« sagte Wolfgang Eysen und zog den Fuchsen durch das rauschende Laub zum Gartensalon.

Feierlich ging er voraus und stieß die Türe auf.

»Ich führe dich in den Tempel der Franken, in einen Tempel des Gambrinus und zuweilen auch der Bellona, wie dir diese Flecken auf den morschen Dielen mit stummem Gruße verkünden.«

Ehrerbietig betrat der Fuchs den von Moderluft erfüllten, dunkeln Raum. Und als der Bursche die Fenster öffnete, die bis an den Fußboden hinabreichten, und die Holzläden aufstieß, fiel sein Blick auf gekreuzte Waffen und Fahnen und auf die Menge der Schattenrisse und Stiche, die – Rahmen an Rahmen – die Wände bedeckten.

Andere Studenten kamen herein. Eysen aber brachte zwei 332 Rapiere und warf seinen Rock auf einen Tisch. Gerhard beeilte sich, dasselbe zu tun. Ein Bursche prüfte die Korke auf den Spitzen. Dann trat er zurück und brüllte: »Legt euch aus – stoßt aus!«

Die Klingen klirrten, die Füße stampften.

»Für den Anfang kann's passieren, Fuchs,« rief einer aus dem Umkreis. »Aber Sie müssen noch viel lernen. Gib mir 'mal das Rapier, Eysen!«

»Da, Brocken! Aber mach's gnädig, sonst wird das Füllen kopfscheu.«

Gerhard hatte das Rapier gesenkt und sah den Baron mit Erstaunen an. Der hatte den Rock abgeworfen und trat ihm gegenüber. »von Brocken.«

»Ich glaube, wir kennen uns –?«

»Aber natürlich!« rief Brocken scheinbar erstaunt, nahm die Waffe in die Linke und kam heran.

»Auf der Schloßbrücke damals,« sagte Gerhard und trat zurück.

»Aber gewiß,« rief Brocken. »Und dann haben Sie am Abend dem frechen Franzosen den Bescheid auf den Kaiser verweigert. Holla, ihr Brüder, daß ihr's nur wißt, ich kenne Herrn Frey schon seit Jahren – und ich weiß mit Bestimmtheit, er wird ein honoriger Bursch.«

»Ich aber erinnere mich noch jedes Wortes von damals, Herr Baron. Damals auf der Brücke –« murmelte Frey.

»Kindereien, Fuchs. Weiß schon, woran Sie denken. Aber ich war damals noch ein dummer Bub. Werden Sie mir nun Ihre Hand geben? Nicht?« Er streckte die Hand hin und sah den Fuchsen mit gewinnendem Lächeln an. Widerwillig nahm Gerhard das Rapier in die Linke und gab ihm die Rechte.

»Was redet ihr lange hin und her?« rief einer. »Legt euch aus – stoßt aus!«

333 Wieder klirrten die Klingen, und wieder stampften die Füße.

Nach etlichen Gängen senkte Brocken das Rapier. »Brüder, ich meine, der Fuchs darf jeden Tag auf Mensur.«

»Wenn er Blut riechen kann,« sagte ein Bursch.

Gerhard warf den Kopf zurück.

Eine ungeschlachte Gestalt schob sich die Stufen herauf.

»Der Bierlupf – hallo!« riefen die Burschen, packten ihn und zerrten ihn vorwärts.

Da stand nun der große, dicke Mensch im Gartensaal und schaute mit gutmütigem Lächeln umher.

»Bierlupf, hier ist ein Fuchs, der noch kein Blut gerochen hat.«

»O, freut mich, Sie kennen zu lernen,« sagte der Riese und kam mit wiegenden Schritten heran.

Gerhard besann sich. Den hatte er doch auch schon gesehen? Jawohl, gestern nachmittag. »Ich denke, wir wohnen in einem Hause?« fragte er.

»Bei der schwarzen Moral!« brüllten sie da und dort.

Da wandte sich der große, dicke Mensch, hob die Fäuste und sagte mit heiserer Stimme: »Ich rat' euch gut!«

»Hallo – Frieden!« befahl Brocken. »Und du sei 'mal so freundlich, Bierlupf, und leg deine oberen Gewänder ab – komm, will dir helfen, altes Horn. So.«

Mit gutmütigem Lächeln ließ sich der Bierlupf Rock und Weste abnehmen und das Hemd über die Ohren ziehen und stand nun, hielt die Hose mit beiden Händen fest und fragte: »Was soll's denn?«

»Da, Fuchs, schauen Sie sich diesen Mann genau an. Was sehen Sie auf seinen Fettpolstern?« rief Brocken.

»Ein paar mächtige Hiebnarben und zahllose kleine Stichnarben,« sagte Gerhard.

»Ganz richtig,« lachte Brocken. »Fast so viel' Stern' am 334 Himmel stehen, so viele Löcher hat der Bierlupf in seinem alten Fell. Und merken Sie sich's, Fuchs, alle Narben hat er vorn auf der Brust bis auf den Gürtel herab, im geistvollen Gesicht und auf dem rechten Arm – wie ein Spartaner.«

Der Bierlupf nickte geschmeichelt.

»Wie oft bist du hier und in Jena auf Mensur gestanden?«

»Achtundsechzigmal.«

»So, und jetzt ist die Vorstellung aus, zieh gefälligst dein Hemd wieder an, und heute halt' ich dich frei – kannst saufen so viel du willst,« sagte der Baron nachlässig.

»Vergelt's Gott,« murmelte der Tätowierte.

»Sie sehen übrigens, Fuchs, so ganz lebensgefährlich ist die Sache doch nicht; denn sonst wäre dies teuere Leben schon längst erloschen,« wandte sich Brocken zu Gerhard.

Zwei andere warfen ihre Röcke ab und griffen nach den Rapieren. Abermals ertönten die Befehlsrufe: »Legt euch aus – stoßt aus!« Und sie fochten und stampften.

Eysen hatte den Fuchsen unterm Arm gefaßt und zog ihn hinaus. Sie schritten durch das raschelnde Laub und stiegen hinter dem Garten zwischen den Stoppelfeldern hinan.

»Daß ich heute bei Pleßbach gewesen bin und meinen Ziegenhainer gehörig auf seine Dielen gestoßen habe, kannst du dir denken.«

Gerhard nickte, und Eysen fuhr fort: »'s ist also in Ordnung.«

Gerhard nickte wieder.

»Auf Leben und Tod wird's aber nicht gehen, Fuchs. Man stellt euch gehörig weit auseinander, dann kann's gar nichts Ernstliches werden.«

»Aber ich seh' doch nicht aus, als hätte ich Angst?« fragte Gerhard. »Und ich will gar nicht, daß man uns weit stellt.«

»Daß du ein forscher Fuchs bist, bezweifelt niemand,« 335 beruhigte ihn der Bursche. »Aber was glaubst du denn – wegen solcher Lappalie läßt man doch einen Krassen keinen Lungenfuchser riskieren!«

»Was ist's denn eigentlich mit dem Bierlupf?« fragte nun der Fuchs neugierig.

»Der Bierlupf?« Eysen lachte. »Ein lebendiges Beispiel dafür, wie man's nicht machen darf. Der Bierlupf ist vor etlichen dreißig Semestern als Theolog auf die hohe Schule hierher gekommen und alsbald ein berühmter Student geworden. Na, daß er gerauft hat, weißt du ja. Leider Gottes hat er auch je und je gesoffen. Vor fünfzehn Semestern ist er dann zur Luftveränderung nach Jena gezogen. Dort hat er seine Stoßmensuren gehabt. Seit langen Jahren lebt er wieder hier, ist zwar noch eingeschrieben, aber in Wahrheit nicht Student und nicht Philister, sondern ein Garnichts, der halt noch so mit unserer Gesellschaft läuft. Er besitzt ein kleines Vermögen; das verwaltet ihm die schwarze Moral, und er muß sich jeden Groschen von ihr erbetteln, ist ihr aber anhänglich wie ein Pudelhund. So hat er doch wenigstens Wohnung und Essen und Kleidung sicher – fürs Trinken sorgen schon die Studenten; die lassen den alten Kerl nicht verdursten. Und wenn's grad sein muß, säuft unser Bierlupf auch nach einem Kommers noch zuletzt alle Bierreste aus.«

»Scheußlich!«

»Freilich,« sagte Eysen nachdenklich. »Wir sind ihn ja gewöhnt. Aber wenn man's einem so erzählt, ist's wirklich arg. Und zu allem soll er von Haus aus ein ganz gescheiter Kerl gewesen sein – sogar Verse hat er geschmiedet. Wenn wir heute das Lied singen

Wir quälen uns nimmer mit Fragen,
gibt's Rätsel, wir lassen sie ruh'n;
wir machen die Nächte zu Tagen
und schlafen in Strümpfen und Schuh'n –

336 so ist das von ihm. Jawohl, Fuchs. Und nach dem Lied hat er halt auch wirklich gelebt.« Der Bursche sah nun ganz ernst aus. »Jawohl, Fuchs. Es ist nämlich gar nicht so schwierig auf hohen Schulen – das Verbummeln.«


Bis die Sonne niederging, saßen die Studenten im Garten, in der langgestreckten, großmächtigen Lindenlaube, tranken und sangen. Abseits aber, an einem kleinen Tische unter einem Apfelbaum saß der Bierlupf und trank und trank. Immer wieder mußte Gerhard hinübersehen. Auf Anordnung des Freiherrn hatte der Wirt dem alten Menschen seinen eigenen, lederbezogenen Lehnstuhl herausgeschleppt und da saß nun der Bierlupf würdig, wohlig und weich. Er hatte sich zurückgelehnt, er hatte den aufgedunsenen Kopf an eines der mächtigen Stuhlohren geschmiegt, er sah zufrieden und glücklich aus und schmauchte aus langer Pfeife – und trank und trank und trank. Die sinkende Herbstsonne warf seitwärts durch die Büsche ihre Lichter auf den grünen Tisch, auf Hängebacken und Glatze des Verbummelten, und von Zeit zu Zeit löste sich ein Blatt vom Apfelbaum und fiel auf Zecher und Tisch. Und immer wieder griff der Arm hinüber, und die Faust führte den Krug an den Mund, setzte den Krug zurück auf die goldenen Blätter und wischte über die schmatzenden Lippen.


Die Sonne war hinter die Hügel gesunken, im Tale stiegen Nebel. Krähen strichen schreiend über Feld und Wald.

Lärmend brachen die Burschen und Füchse auf. Alle hatten nun rote Köpfe und schwimmende Augen. Wie Salvenfeuer dröhnte das Lachen. Es war, als würden Schlachten des Witzes geschlagen, und immer höher stieg die Lust. Wie schade, daß alles so unwiederbringlich verpuffte im kühlen Abendhauche des Herbstes.

337 Geschoben und andere schiebend, so strebte Gerhard mit dem halbgefüllten Kruge in der einen, mit der brennenden Pfeife in der andern Faust dem Hause zu.

Neben ihm ging der Truthahn.

»Ein Franke werd' ich!« rief der Krasse inmitten der schreienden, lachenden Schar. Und er wiederholte aufgeregt: »Hören Sie? Ein Franke mit Leib und Seele für immer.«

Sie schoben sich die Steinstufen empor, sie polterten in die große, niedere Stube. Der Truthahn aber hob seinen Krug und stieß ihn an den Krug des Fuchsen. »Ein Prosit!«

Schulter an Schulter mit den andern saß der Krasse und trank und rauchte, lachte und schrie. Aus fünfzig, aus achtzig Göttinger Pfeifenköpfen stieg der Qualm vom roten Quack. Trübe brannten die Talgkerzen. Immer toller wurde der Lärm.

Der starkknochige Wirt mit der weißen Schürze über dem Bauch und mit der Zipfelmütze auf dem Kopfe bediente von Tisch zu Tisch. Am Schenktische stand sein dickes Weib und füllte die Krüge. Zuweilen erklang hart und scharf der Schlag des Holzschlegels auf dem Zapfen.

Hunde bellten und begannen zu raufen und wurden hinausgepeitscht.

Ein Kantus stieg, und die Flämmlein der Kerzen flackerten wild über den kupfernen Leuchtern.

»Wieviel Halbe haben Sie heute schon getrunken?«fragte der Truthahn.

»Drei,« antwortete Gerhard.

»Drei – nur drei?« Der Truthahn machte ein entsetztes Gesicht.

»Ich bin das Biertrinken gar nicht gewöhnt,« entschuldigte sich der Fuchs.

»Sie werden's lernen,« tröstete der andere. »Schauen Sie, mit dem Trinken ist's bei mir so: die erste Halbe könnt' ich 338 entbehren; die zweite schmeckt mir; die dritte besser, bei der vierten geht's an, bei der fünften bin ich ein Graf, bei der sechsten ein Herzog, bei der siebten ein König.«

»Und wieviel können Sie dann als König vertragen?« fragte Gerhard mit schüchternem Spotte.

»Vertragen?« Der Truthahn fuhr auf und bekam seinen roten Kopf. »Soviel ich will.« Er besann sich, fixierte den Fuchsen und setzte mit Herablassung hinzu: »Ich vertrage mit Leichtigkeit vierzig Halbe. Im allgemeinen trink' ich aber des Abends nicht mehr als zwölf Halbe. Und soviel brauch' ich unbedingt zu meiner Gesundheit.«

»Zu Ihrer Gesundheit?« fragte der Fuchs ganz erstaunt. »Aber –?«

»Nichts aber,« sagte der Truthahn. »Alle hiesigen Ärzte empfehlen so mäßigen Trunk. Denn die Luft ist trocken, und die sitzende Lebensweise des Studenten verlangt Anfeuchtung.« –

Gerhard war erst bei der vierten Halben. Trotzdem kletterten schon sachte die Biergeister in sein Gehirn. Durch Tabaksrauch und Bierdunst sah er hinein ins Leben. Er war so glücklich, er war so stolz – er atmete so leicht in all dem Qualm. Es dehnte sich ja wieder vor ihm, sanft ansteigend, die Halde, bewachsen mit junggrünem Buschwerk, weit, weit hinauf und unergründlich tief. Er saß mit verwunderten Augen und starrte ins Land seiner Zukunft. O Jugend, o Lust!

»Silentium!« schrie einer. »Silentium!« schrien sie von allen Bänken.

»Brüder!« Wolfgang Eysen stand auf seinem Stuhle und rief es mit schallender Stimme in den Qualm hinunter.

Es ward stille, und etliche antworteten da und dort: »So sag's – so mach vorwärts – wenn du 'was weißt!«

Da begann Eysen im Plaudertone: »Könnten wir nicht, 339 liebe Brüder, diesen ersten Abend in unsrer Gesellschaft ein wenig würdiger feiern?«

»Saufen ja doch wie die Rösser,« brüllte Brocken vom andern Ende der Stube herüber. »Was willst du denn mehr?«

Eysen nickte ihm freundlich zu: »Könnten wir nicht saufen wie die alten Germanen und dabei reden – wie die alten Griechen? Liebe Brüder, wir haben heute ein ganzes Rudel krasser Füchse unter uns. Lauter nette Leute, soweit wir bis jetzt urteilen können; aber doch ganz ohne Unterschied bejammernswerte Erscheinungen auf hohen Schulen.«

Die Burschen lachten, und die Füchse sahen verlegen vor sich hin. Nur Gerhard rief ein drohendes Oho hinüber.

Lächelnd winkte Eysen: »Ich bitte um Schonung unsrer Tisch-Ecken, lieber Frey. Würde sich auch gar nicht lohnen; denn da heraußen sind sie nur aus Tannenholz.«

Die Burschen lachten. Gerhard aber saß mit rotem Kopfe.

Eysen fuhr fort: »Ich bitte, mich nun nicht mehr zu unterbrechen. Es sind Fragen von allgemeiner Gültigkeit, Dinge von ewiger Bedeutung, die ich rein theoretisch zu erörtern gedenke. Ich wiederhole, Füchse sind bejammernswerte Geschöpfe, und trete sofort den Beweis an. Wenn irgendwo, so klafft hier ein Abgrund zwischen Wesen und Schein. Wie junge Götter kommen sie auf die Hochschule, tragen schwere Geldbeutel, zum Bersten voll blanker Muttergroschen, fragen, was sie kostet, die Welt, bilden sich ein, daß sie nun mit einem Male Studiosi seien, hochgeehrt, furchtbar und prächtig. Ja prosit, da sagt man ihnen, daß sie ungehobelte Bretter sind, ungespitzte Pfähle, ungeschliffene Klingen, unbehauene Steine, tollpatschige Bären, saugende Hündlein, ungeschneuzte Nasen, und daß sie keineswegs Studiosi sind, sondern Füchse sein müssen ein Jahr lang und noch einen Tag. Von Freiheit haben sie gehört, haben 340 wohl auch manch einem Lehrer den Kopf heiß gemacht mit ihrer Bosheit, ziehen nun sporenklirrend auf und gedenken weiterzustapfen als wahre Söhne der Freiheit – ja prosit, was ihnen vordem nicht gefallen hat von grauen Köpfen, das müssen sie nun dulden von jungen Burschen im lockigen Haar, müssen sich lassen schneuzen und hudeln und pudeln, hobeln und spitzen und schärfen, behauen und schleifen ein Jahr und noch einen Tag. Füchse sind bejammernswerte Erscheinungen auf hohen Schulen – quod erat demonstrandum. Und dennoch, prosit ihr Füchse!«

»Prosit!« schrien die Füchse aus allen Ecken und tranken. Der Bursche aber fuhr fort: »Im Vertrauen gesagt, Füchse, es ist uns allen, wie wir hier sitzen, um kein Haar anders ergangen als euch. Darum beißt die Zähne aufeinander und haltet's aus! Ein Jahr ist eine kurze Zeit, und ein alter Spruch lautet:

Wie Schwärmers Glut, wie Tabaks Rauch
verschwinden die Semester auf.

Und wozu denn alles? Damit ihr das werdet, was ihr euch jetzt einbildet: honorige Burschen.

*

Als Gerhard am andern Morgen erwachte, war sein Kopf wüste und leer, und nur allmählich stieg blasengleich die Erinnerung an den Rest des Abends in seinem Gedächtnis empor.

Die weite, niedrige Stube war erfüllt vom Tabaksqualm, nur trübe noch brannten die Lichter, und die Burschen hielten unter Lachen und Brüllen der Korona große und kleine Reden gegeneinander. Was sie da sprachen? Ja, wer konnte das heute noch wissen? Aber das Wichtigste aus all den ernsten und scherzhaften Reden hatte Gerhard wohl behalten: Es ist etwas unaussprechlich Erhabenes um einen rechten Bruder Studio. Und nun erinnerte er sich auch 341 wieder – da stand doch plötzlich der andere Eysen, der Bruder Wolfgangs, auf einem Stuhle – so ein mittelgroßer, hagerer Mensch. Was wollte denn der? Richtig, der sprach von manchem, was einem nicht gefallen könne am burschikosen Leben. Grausam wetterte seine Stimme, und zuerst saßen die Burschen starr und stumm. Er donnerte gegen das Saufen und gegen das Raufen, er wies auf die Arbeit hin und zuletzt – unglaublich – zuletzt rief er über all die honorigen Burschen die kurze, vielsagende Einladung, der noch niemals ein Sterblicher gefolgt ist. Herr des Lebens, brach nun ein Lärm los! Drei Forderungen werde es geben, so sagten die Burschen. Und Gerhard glaubte es ihnen aufs Wort, daß dieser ältere Eysen von Anfang an nicht so recht in die Gesellschaft gepaßt habe. –

Der Fuchs sprang aus dem Bett und steckte den heißen Kopf ins kühle Wasser. Und er sann weiter nach über die Erlebnisse von gestern.

Er sah sich durch die Mondnacht heimwärts gehen zwischen den beiden, die es ihm doch am meisten von allen angetan hatten, zwischen Brocken und dem jüngeren Eysen.

Zwar dieser Brocken war ihm ein wenig unheimlich. Er tat so überlegen und hatte ein so boshaftes Lächeln, wenn ihm etwas nicht in den Kram paßte. Aber trotzdem: Welch ein Witz, welch eine Selbstbeherrschung in jeder Geste, in jedem Ton! Wie ein Befehlshaber ging und saß er unter den Burschen. Dagegen der jüngere Eysen: Was für ein guter, glänzender Mensch! Wie war er doch im Gartensaal auf der Mensur gestanden, eine Fechtergestalt, geschmeidig und kraftvoll. Und wie floß ihm die Rede von den Lippen. Der Fleißigste von uns allen, hatte man ihm gesagt. Und noch eines: der verlässigste Freund. Merkwürdig, daß er gerade zwischen diesen beiden heimgegangen 342 war, zwischen Brocken und Eysen. Er stutzte: Was fuhr ihm doch soeben durch den Sinn? Baldur und Hödur. – Torheit! Wenn einer dunkel ist von Haar und Haut, wenn einer scharfe, schwarze Augen hat, wenn einer gerne spottet über das, was andere lieben und ehren – ist er schon darum ein Hödur? Und wenn einer blonde Haare hat und mit blauen, sonnigen Augen hinausblickt in die Welt, ist er schon darum ein Baldur? Und doch, wenn Gerhard sich heute dessen erinnerte, was er durch den Biernebel von ihren Wechselreden gehört und behalten hatte – es war ihm in der Erinnerung zu Mute, als wäre er zwischen zwei Feinden dahingegangen. Unter einer von den drei großen Eichen am Eingange des Föhrenwaldes machten sie Halt und blickten hinaus ins mondbeschienene, wellige Land. Der lange Brocken stand an den Baum gelehnt, im Schatten. Draußen aber, umflossen vom Lichte, stand Eysen, auf seinen Ziegenhainer gestützt. Und sie sprachen heftig gegeneinander, es hörte sich an, als ob der eine mit blankem Stahl dreinschlüge, der andere aber mit schwirrenden Pfeilen schösse. Und zuletzt – jawohl, ganz richtig, zuletzt rief Eysen: ›Ei so schäme dich doch wenigstens vor dem da, der unser Bruder sein will!‹ Dann trat Eysen-Baldur aus dem Lichte in den Schatten und faßte ihn unter dem Arm. Gleich aber packte ihn Hödur-Brocken am andern Arm. Und so zogen sie zu dritt hinein in den Wald, marschierten heimwärts über Berg und Tal und stiegen endlich hinab ins mondbeschienene Städtchen. Verdammt! Gerhard Frey stampfte. Er hatte doch Brocken bitten wollen, daß er ihn als Leibfuchs annehme! Und nun war Brocken vorher in seine Gasse abgebogen, Eysen aber hatte ihn bis an sein Haus begleitet und – Gerhard stampfte noch einmal – da drunten an der Haustüre hatte er Eysen zu seinem Leibburschen erkoren. –

343 Die Türe ging auf, und Eysen stand auf der Schwelle. »Guten Morgen. Gut geschlafen? – Glaub's wohl. – Was – wie hast du gesagt?«

»Was habt ihr zwei gestern nacht unter der Eiche miteinander gehabt, Brocken und du?«

Eysen lachte fröhlich, zog einen Stuhl herbei, setzte sich rittlings verkehrt darauf, kreuzte die Arme auf der Lehne und rief: »Also du weißt's nimmer, Leibfuchs? Sieh, das freut mich einmal.«

»Aber ich möcht's wissen!«

Da zog Eysen die Stirne kraus und sagte nachdenklich: »Wir haben vom Lebensgenuß gesprochen. Dem Brocken geht nämlich das ganze Dasein auf im gröberen oder feineren Genuß.«

»Aber wir sollen doch unser Leben auf hoher Schule genießen?« rief Gerhard etwas gereizt.

Bedächtig nickte Eysen. »Gewiß, mein Lieber.« Dann sprang er auf und ging ans Fenster. Dabei kam er am Stehpult vorüber und sah das offene Heft.

»Deine Schrift? Donner noch einmal, was du aber schön schreibst – zierlich und fest, wie gestochen. Laß doch lesen. O, das ist ja Platos Staat. Selbst übersetzt?«

Gerhard nickte, kam heran und sah mit frohen Augen auf sein Heft.

Eysen pochte mit dem Knöchel auf die Blätter: »Du wirst Philolog?«

»Jawohl.«

»Dann ist dir dies vielleicht nur eine sprachliche Übung, nicht aber Teil deines Lebens?«

»Ich lese den Staat zum zweiten Male. Er ist oft leichter zu übersetzen als zu verstehen,« sagte der Fuchs bescheiden.

Da nahm der Bursch den griechischen Text und blätterte: »Kannst du dich erinnern, was Plato im zehnten Buche 344 die eine von den drei Töchtern der Notwendigkeit, was er Lachesis, die Spinnerin, sprechen läßt?«

»Sie verteilt Lebenslose an Seelen, die zu neuem Leben zurückkehren«, sagte der Fuchs.

»Jawohl, und sitzt mit ihren Schwestern im weißen Gewande mit dem Kranz auf dem Haupte und singt; und was sie singt, ist ewig vergangen. Dann aber tritt der Herold neben sie, nimmt aus ihrem Schoß die Lebenslose, schleudert sie unter die Wartenden und ruft: Also spricht Lachesis – ihr Eintagsseelen, ein neuer Kreislauf beginnt, ein Kreislauf, der nicht wieder mit dem Tode enden wird. Und es ist nicht an dem, daß ihr durchs Los einem Dämon anheimfallt, sondern ihr werdet euch einen Dämon erwählen. Die Vortrefflichkeit wartet ihres Herrn. Die Verantwortung trägt, der wählt. Gott aber ist schuldlos.«

Er klappte das Buch zu. »Siehst du, Fuchs, das ungefähr haben wir heute nacht unter der Eiche besprochen und bestritten – nur nicht mit solch erhabenen Worten, sondern gleichsam mit Kleingeld bezahlend.«

Seine leuchtenden Augen waren fest auf Gerhard gerichtet, und er hielt ihm die Hand hin. »Jetzt aber freut mich doppelt, daß du mein Leibfuchs geworden bist.«

Gerhard schlug ein: »Ich möchte mir einen starken Anteil an Platos Vortrefflichkeit sichern und ein honoriger Bursch werden wie du und wie Brocken. – Aber warum hat denn dein Bruder die Gesellschaft verlassen?«

Wolfgang Eysen wandte sich zum Fenster und trommelte auf die Scheibe. Nach einer Weile sagte er leise: »Was mir bitterlich weh tut.«

Dann trat er noch einmal vor den jungen Freund.

Gerhard gedachte später oft dieses Augenblickes, wie der Bursche vor ihm stand, breitschulterig und doch zierlich, und wie er das wohlgebildete Haupt zurückgeneigt hielt und 345 so schräg von unten herauf und doch unsäglich von oben herab ihn ansah aus den blauen, tiefliegenden Augen.

»Fuchs, auf den Dämon kommt alles an. Die Wahl ist frei, die Verantwortung trägst du allein, und Gott der Herr läßt keinen schuldig werden, der es nicht selber will.« –

Zu Anfang träumte Gerhard wieder und wieder in langen Nächten, er gehe aus hellbeleuchtetem Lande in einen dunkeln Wald hinein. Und zur Rechten und Linken gingen ihrer zwei. Der eine riß ihn hierhin, und der andere zog ihn dorthin. Aber er träumte den Traum nie zu Ende, sondern erwachte immer mit Angstgefühl. Und in der Folge verlor sich der Traum. 346

 


 


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