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18. Kapitel.

»Bitte, komme sofort – Mutier stirbt und verlangt nach dir, Stella.«

Malchen las die Depesche eine Woche später am Frühstückstisch.

»Wie seltsam. Sie stirbt und will mich sprechen. Ich will mit dem ersten Zug fahren.«

»Ob sie wohl bei klarem Verstand ist!« meinte Frau Grau. »Ob sie uns wohl Aufklärung über den Brief von Herrn Haller geben kann, über den Herr Dorting sprach? Das würde uns manches aufhellen.«

»Ach, ich kann mir nicht denken, daß jener Brief etwas Wichtiges enthalten hat. Frau Bendler würde es mir doch früher gesagt haben, wenn sie von einer Verwandtschaft zwischen meinem Paten und mir etwas gewußt hätte. Ich denke, sie verlangt nach mir nur, um mir zu sagen, daß sie es bedauert – –«

»Zweimal den Versuch gemacht zu haben, dich umzubringen,« ergänzte Frau Grau mit grimmigem Ernst, der ihrer sonstigen Sanftmut wenig ähnlich sah. »Ich will gegen eine Sterbende nicht hart sein, aber der Gedanke daran, was sie dir angetan hat, erfüllt mich doch mit Schaudern.«

»Ich bin überzeugt, sie bereut es jetzt,« entgegnete Malchen, und das dachte sie auch, als sie mehrere Stunden später von Stella an der Tür begrüßt wurde – einer sehr, sehr blassen und erschöpft aussehenden Stella, mit dunklen Ringen unter den Augen und besorgten Mienen.

»Es ist so lieb von dir, daß du gekommen bist, Malchen. Mutter hat die ganze Nacht unaufhörlich nach dir verlangt. Vor zwei Tagen ist sie erst so ernstlich erkrankt, aber bei dem körperlichen Leiden hat sich ihr Geist erholt, und gestern abend bat sie mich flehentlich, dir zu depeschieren.«

»Ich freue mich, sofort gereist zu sein.« Malchen schlang den Arm um die bebende Gestalt der anderen und küßte sie zärtlich. »Ist deine Mutter wirklich so ernstlich krank, wie im mir telegraphiert Haft?«

Die beiden Mädchen waren die Treppe hinaufgegangen und sahen nun im Salon, der jetzt so öde und vernachlässigt aussah.

»Mutter stirbt,« antwortete Stella mit seltsamer Ruhe. »Ihre Tobsucht war zeitweise furchtbar, ich mußte alles aufbieten, sie vor der Ueberführung in eine Anstalt zu bewahren. Dann folgten wieder Wochen eines melancholischen, träumerischen Zustandes, der kläglich anzusehen war, und vor zwei Tagen trat ein Schlaganfall ein. Die Aerzte sagten sofort, daß ihr Geist wahrscheinlich wieder hell werden würde, aber sie gaben mir keine Hoffnung, sie retten zu können – gar keine Hoffnung.«

»Wie furchtbar!«

»Ist es furchtbar?« Stella fragte das in dem ruhigen, gedrückten Ton eines Menschen, in dem die Gemütserregung entweder erstorben oder ganz erschöpft ist. »Ich denke darüber nach, ob es wirklich furchtbar ist, und zuweilen glaube ich doch, daß es das Beste ist. Sie hat in ihrer Raserei so entsetzliche, ungeheuerliche Dinge gesagt, so ungeheuerlich –.« Sie wandte sich schaudernd ab, und Malchen zog ihr hübsches Gesicht dichter zu sich heran und küßte sie wiederum innig.

»Du mußt das zu vergessen suchen, es war doch im Fieberwahnsinn gesprochen. Du darfst nicht mehr daran denken, liebste Stella.«

»Ich weiß aber, daß wenigstens etwas davon wahr gewesen ist,« lautete die erregte Antwort, »glaubst du, daß ich nicht wüßte, daß sie – daß du – das Schloßverließ –«

»O, schweig Liebste, schweig doch – und denke daran nicht mehr. Wir müssen uns doch sagen, daß ihr armer Geist schon damals umnachtet war – und –«

Stella stieß ein gepreßtes, unnatürliches Lachen aus.

»Ich glaube wohl, daß das genügte, ihren Geist zu trüben, aber das geschah später, nicht vorher. Ach! Zuweilen kann ich es nicht mehr ertragen. Ich fürchte, selbst wahnsinnig zu werden. Es ist alles so entsetzlich.« Stella sank hilflos auf den Diwan nieder und rang die Hände, die Tränen schwammen in ihren groben Augen und rollten ihr langsam an den Wangen hinab.

Malchen beruhigte und tröstete sie mit all der Zärtlichkeit, die eine starke Natur so gern an eine schwächere verschwendet.

Allmählich wurde Stella gelassener.

»Willst du jetzt mit mir nach oben zu Mutter kommen? Wir dürfen uns nicht verspäten. Sie sagte, sie habe Wichtiges mit dir zu sprechen, und hat sich die ganze Nacht damit abgequält.«

Malchen hatte die seltsamsten Empfindungen, als sie die zweite Treppe bestieg. Seit dem Tage, an dem sie vor länger als zwei Jahren aus dem Hause zu Frau Grau geflohen war, hatte sie es nicht wieder betreten, und sein bekannter Anblick machte die Erinnerung an die Angst des längst verflossenen Tages wieder wach in ihr. Welch eingeschüchtertes, erschrecktes, dummes Ding sie damals war, wie fremd und eigenartig war ihr alles in diesem Haus vorgekommen, ungewohnt, der allereinfachsten Lebensbedingungen der Behaglichkeit, unbekannt mit dem Luxus eines gut geführten Haushaltes! Und wie dachte sie jetzt! Wie hatte sich die Stellung zwischen Frau Bendler und ihr verschoben!

Dieser letzte Gedanke formte sich gerade in ihrem Sinn, als Stella sie in das Schlafzimmer ihrer Mutter eintreten lieb und Malchen nun den Anblick eines abgezehrten, todmüden Gesichtes hatte. All ihre Schönheit, die Frau Bendler einst besessen, war völlig verschwunden, und an ihren abgemagerten Wangen, den eingesunkenen Augen, den zitternden, Lippen erinnerte nichts mehr an die hübsche, elegante Dame, deren Reize dem kleinen Dienstmädchen vor zwei Jahren so unendlich und wunderbar erschienen waren.

Als sie Malchen ins Zimmer kommen sah, sank die Kranke in ihre Kissen zurück und streckte die Hand mit einer Gebärde unbeschreiblicher Furcht aus. Aus Malchens braunen Augen sprach grobes Mitleid, sie ergriff eine bebende Hand der Frau und sagte sanft:

»Fürchten Sie sich nicht vor mir. Ich kam, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich Ihre Krankheit und Ihre Leiden bedauere und –«

»Sagen Sie, daß Sie mir verzeihen,« ächzte die Kranke mit heiserer Stimme, »sagen Sie, daß Sie mir verzeihen. Ich kam nicht in Ruhe sterben, bis ich weiß, daß Sie mir verziehen haben und alles vergessen – vergessen.« Ihre Stimme versagte im Ringen nach Atem, aber ihre von qualvollem Flehen erfüllten Augen blieben starr auf Malchen gerichtet.

»Ich verzeihe Ihnen alles,« sagte sie schlicht und streichelte die welke Hand, die zitternd in ihrer Rechten lag. »Ich begreife nur nicht, weshalb Sie so erbittert gegen mich waren – aber ich verzeihe Ihnen alles.«

»Weshalb ich so erbittert war?« Ihr Geist schien nur diese Worte erfaßt und verstanden zu haben. »Es ist eine lange – alte Geschichte – aber ich will sie Ihnen erzählen –«

Ihre Stimme erlosch, das Gesicht wurde leichenblaß, so daß Malchen ein Belebungsmittel, das auf dem Tisch neben dem Bett stand, an den Mund der Sterbenden führte, und nach einer langen Pause öffnete sich ihre Augen wieder.

»Ich wollte meine Rache haben,« murmelte sie dann.

»Rache?« Ungeheure Ueberraschung drückte sich in diesem einen Worte Malchens aus.

»Ja – Rache – an Gottfried Haller. Er – ich haßte ihn – ich wollte ihm Böses zufügen und übertrug meinen Zorn auf Sie – seine Erbin.«

»Aber weshalb?«

»Weshalb?« Sie fühlte sich etwas stärker und richtete sich in den Kissen auf. »Weil – ach! Ich will die Wahrheit nicht mehr verhehlen: der Tod ist mir so nahe, ich darf nicht länger täuschen. Als wir beide jung waren, behandelte ich Gottfried schmählich. Ich gab ihm den Laufpaß eines Titels wegen, den ich nie bekam. Und er – er vergab mir das nie. Er vermachte Ihnen sein Geld aus zwei Gründen.« Sie unterbrach sich, um Atem zu schöpfen, und fuhr dann ruhiger fort: »Zuerst, weil er es unter allen Umständen verhindern wollte, daß Stella Arthur Darberg heiratete. Vielleicht dachte er, wie die Mutter, so die Tochter. Er wußte, daß sie sich ohne Geld nicht heiraten konnten. Und der zweite Grund, weshalb Gottfried Ihnen sein Geld hinterließ –«. Sie blickte mit flackerndem Lächeln, das etwas Verschlagenes, Listiges hatte, auf Malchen, die unwillkürlich zurückbebte. »Der zweite Grund war, weil Sie seine Großnichte waren.«

»Alle doch!« Malchen errötete, und Ihre Augen wurden groß und hell.

»Ja, Sie sind die Enkelin eines Mädchens, das mit seinem jüngeren Bruder, Georg Haller, durchgebrannt war. Gottfried hat das aber erst kurz vor seinem Tode entdeckt und dann mit niemand darüber gesprochen. Es muß seinem eigenartigen Wesen zuzuschreiben sein, daß er diese Tatsache in seinem Testament unerwähnt ließ. Ein halbes Jahr nach seinem Tode wurde mir ein Brief von ihm gesandt, den er wenige Tage vor seinem Ableben geschrieben hatte. In dem Briefe sagte er mir die Wahrheit.«

»Sagte er Ihnen die Wahrheit?« wiederholte Malchen langsam, ließ die Hand sinken, die sie noch immer gehalten hatte, und trat ein wenig von dem Bett fort. »Sie haben das also die ganze Zeit gewußt? Sie wußten, wer ich war, und hielten das verschwiegen?«

»Ja – ich wußte es. Nicht zuerst, nicht früher, als bis Sie zu mir kamen. Damals erfuhr ich es.« Ihre Stimme wurde sehr schwach. »Ich wollte mich an Gottfried rächen, weil er Stellas Heirat mit Darberg verhindert hatte, ich wollte die Wahrheit für immer verborgen halten. Aber jetzt – jetzt –« Ihr Kopf wandert« ruhelos von einer Seite zur anderen« – – sie stöhnte.

»Jetzt haben Sie sich entschlossen, alles zu sagen?« fragte Malchen und näherte sich ihr wieder. Die Jämmerlichkeit, die aus den Augen der Kranken zu ihr sprach und die totenblassen Züge rührten ihr Herz.

»Ich – ich wollte Ihre Verzeihung. Ich kann sonst nicht sterben. Ich wollte Ihnen dies geben – ich konnte es nie zerreißen. Ich habe immer wieder und wieder versucht, es zu vernichten, ich wollte es verbrennen, aber immer hielt mich etwas davon zurück. Jetzt können Sie es haben.«

Sie zog unter der Bettdecke ein Kuvert hervor und reichte es Malchen, die es mit einem wirren Gefühl nahm, als ob sie träume. Die Adresse in klarer, kleiner Handschrift trug Frau Bendlers Namen, der kurze Brief war von derselben Hand geschrieben.

 

»Haus Singenburg.

Ich habe angeordnet, daß Ihnen dieser Brief sechs Monate nach meinem Tode zugehen wird, den ich als nahe bevorstehend betrachte. Mein Testament wird Sie wahrscheinlich sehr unangenehm überraschen. Sie werden Miranda Mühe für ein Wesen halten, weit unter Ihrer Würde. Ich habe vor kurzem die Entdeckung gemacht, daß sie die Enkelin meines Bruders Georg ist, der mit ihrer Großmutter gesetzmäßig getraut wurde. Nach Georgs Tode heiratete die Frau, eine Johanna Mühe, einen Arbeitsmann namens Maddinger. Georgs Tochter galt in Singenburg als ein Kind dieses Mannes. Sie wuchs heran und heiratete, und man bat mich, bei ihrem Kinde, Miranda, die Patenstelle zu übernehmen. Dieses Kind, meine Erbin, ist also meine Großnichte. Ich teile Ihnen diese Tatsache mit und bitte Sie, sie kundzugeben.

Gottfried Haller.«

»Und weshalb haben Sie das niemand mitgeteilt?« fragte Malchen, als sie den Brief zu Ende gelesen hatte.

»Weil ich Gottfried haßte – und Sie. Ich wollte nicht noch zu all Ihren übrigen Vorzügen den der Geburt hinzufügen. Ein weniger vertrauensseliger Mann als Gottfried hätte es sich besser überlegt, ehe er solche Mitteilungen meinen Händen anvertraute. Ich habe sie bis heute verheimlicht und – ich bedauere das jetzt.«

Malchen war einen Augenblick sprachlos. Auch konnte sie dem Zorn nicht Einhalt gebieten, der sie bei dem Gedanken durchfuhr, daß Frau Bendler zwei Jahre lang die Wahrheit über ihre Abkunft gewußt hatte, ohne ihr oder anderen ein Wort darüber zu sagen. Doch blieb ihr Zorn nur kurzlebig, und nichts als das tiefst« Mitleid mit der Frau beseelte sie, deren Augen sie so sehnsuchtsvoll, rührend ansahen, und die sich, wie deutlich zu erkennen war. rasch jener Grenze näherte, von der kein Wanderer wiederkehrt.

»Darf ich diesen Brief mitnehmen? Ich möchte ihn Herrn Brand zeigen, damit die Angelegenheit verifiziert wird.«

»Nehmen Sie ihn nur mit, nehmen Sie ihn,« rief die Kranke heftig, »aber sagen Sie mir auch, daß Sie mir verzeihen.«

»Ich verzeihe Ihnen vollständig, beruhigen Sie sich. Ich habe Ihnen alles vergeben.«

»Alles?« Frau Bendlers Augen schwankten und senkten sich dann unter den Blicken der festen, ruhigen, braunen Augen. »Auch – auch, daß ich zweimal den Versuch machte. Sie ums Leben zu bringen?«

»Auch das habe ich Ihnen verziehen.«

»Ich wurde in Versuchung geführt. Ich hörte, wie Sie Herrn Brand über Ihr Testament aufklärten: das verlockte mich zuerst.«

»Sie haben gehört, als ich mein Testament machte?« fragte Malchen erstaunt, und ein beschämendes Erröten überflog das geisterbleiche Gesicht auf den Kissen.

»Ich horchte – ich mußte das hören. Ich befand mich im Speisezimmer – dicht an den Flügeltüren – ich hörte alles, was Sie sprachen – und ich dachte, wenn Sie aus dem Wege geräumt wären, könnte Arthur Stella heiraten – und das führte mich in Versuchung.«

»Ach! Sie arme Seele – Sie arme Seele!« flüsterte Malchen voll innigstem Mitleid. »Welche Gewissensqualen müssen Sie erduldet haben?!«

»Ich glaube, ich habe die Hölle durchgemacht. Es kann nach dem Tode keine schlimmere Hölle geben. Seitdem Sie uns verließen, habe ich Sie gehabt, ich sehnte mich darnach, Ihnen Böses zuzufügen, und als ich Sie auf Schloß Mainard wiedersah, schön, umworben, geehrt, da haßte ich Sie noch tausendmal mehr. Die Krone wurde meinem Haß aufgesetzt, als ich Ihre Ähnlichkeit mit dem Bild in dem blauen Zimmer sah und Ihre Abkunft von den Cönnern für zweifellos hielt. Es war an dem Nachmittag – Sie erinnern sich –«

Sie unterbrach sich mit einem Schauer, und auch Malchen zitterte.

»Es packte mich wie Wahnsinn – nur ein Gedanke beherrschte mich – Sie um jeden Preis zu beseitigen – sicher zu sein, daß Sie für immer verschwunden waren – und – ich – ich – Sie wissen das übrige.« Abermals lies ein langes Schaudern durch ihre armselige Gestalt, und Malchen neigte sich zu ihr hernieder und suchte sie zu beruhigen.

Die Sterbende klammerte sich an des Mädchens feste Hand, als ob diese ein sicherer Anker der Hilfe und des Schutzes sei.

So schwach, daß Malchen kaum die Worte hörte, flüsterte sie dann:

»Und wenn Sie mir verziehen haben, wird mir auch Gott verzeihen? Wird er mir verzeihen? Ich fürchte – ich fürchte – Aus reiner Erschöpfung versagte die Stimme. In ihren Augen stand aber noch die qualvolle Frage, und Malchens Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich habe Ihnen alles vergeben, und wenn ich Ihnen vergebe, so wird Ihnen der Allmächtige tausendmal eher vergeben haben. Es gibt doch keine so schwere Sünde, die Gott nicht verzeiht, wenn wir aufrichtig bereuen.«

Die einfachen, warm empfundenen Worte gaben der Hörerin einen Schimmer von Trost. Die Furcht in ihren Augen verringerte sich, und der krampfhafte Druck ihrer Hand gab etwas nach.

»Ich bereue, bereue tief – ich wollte, ich wäre besser gewesen – nun ist es – zu spät.«

»Bei Gott ist es nie zu spät, glaube ich.«

Ein sonderbares Lächeln stahl sich über das Gesicht auf dem Kissen, ein Lächeln des Friedens, fast des Glückes.

»Küssen Sie mich,« murmelte die schwache Stimme – »wenn Sie mich küssen und mir verziehen haben, dann kann ich auch an Gottes Verzeihung glauben.«

Sehr sanft zog Malchen das durchfurchte, elende Gesicht an ihre Brust und küßte es, und als sie das tat, erglänzte plötzlich das Gesicht der Sterbenden und gebrochen flüsterte sie:

»Mir ist von Ihnen verziehen – und von Gott verziehen.«

Bei diesen letzten Worten sank ihr Kopf auf die Kissen zurück, die Augen schlossen sich, und sie trieb auf dem Meere der Bewußtlosigkeit, aus der sie nicht wieder erwachte. Nur einmal lächelte sie noch Stella an und murmelte das Wort: »Verziehen.«

*

Malchen blieb bei Stella bis nach der Beerdigung und bestand darauf, daß ihre Freundin sie in das Herrenhaus begleitete, wo sie sie verhätschelte und mit besonderer Aufmerksamkeit behandelte da sie den Kummer der seichten kleinen Seele um den Verlust der Liebe einer Mutter auch viel höher veranschlagte, als Stella ihn wirklich empfand.

Inzwischen war der Anwalt Brand eifrig damit beschäftigt, alle Nachforschungen über die Abstammung Malchens anzustellen, und mit den im Briefe Hallers an Frau Bendler gegebenen Aufklärungen ausgestattet, gelang es ihm denn auch nach nicht allzu langer Frist, die überzeugenden Beweise davon zur Stelle zu schaffen, daß Malchens Großmutter rechtmäßig in erster Ehe mit Georg Haller verbunden gewesen und daß die Erbin Gottfried Hallers tatsächlich seine eigene Großnichte war.

Diese Tatsache wurde rechtzeitig auch dem Baron und der Baronin v. Cönnern mitgeteilt, was einen Besuch des Schloßherrn von Mainard auf Singenburg zur Folge hatte. Der Baron erschien dort eines Nachmittags im November in höchster Erregung und brachte eine große Kopie des Cönnernschen Stammbaumes mit.

Seine Begrüßung, die er an Malchen in dem schönen Salon richtete, war höchst überraschend. Der alte Herr zog das Mädchen an sich und versetzte ihr einen herzhaften Kuß, indem er sagte:

»Ich habe Ihnen etwas sehr Interessantes mitzuteilen, und da wir beide Verwandte sind, so habe ich von dem Recht der Verwandtschaft Gebrauch gemacht.« Er lachte über seinen eigenen Witz, als er sah, wie Malchen bei dem Kuß rot geworden war. –

Frau Grau, die der Szene vergnügt zugeschaut hatte, fragte:

»Ist Malchen wirklich mit Ihnen verwandt? Was haben Sie entdeckt?«

»Ich habe alles darin,« lautete die triumphierende Antwort, und dabei klopfte er auf die große Tafel, die er in der Hand hatte. »Sobald ich von der Beziehung von Fräulein Malchen zum alten Gottfried Haller hörte, erinnerte ich mich, daß mein Vater mir einmal gesagt hatte, die Cönnerns und Hallers seien verwandt. Und das ist auch ganz richtig. Die Dame, deren Bild im blauen Zimmer unseres Schlosses hängt, ist sowohl eine Ahne von Gottfried Haller als von mir, und dieses kleine süße Mädel hier stammt ebenfalls von ihr ab. Wir brauchen uns deshalb über die Ähnlichkeit mit der schönen Diana nicht mehr zu wundern.«

»Glauben Sie wirklich, daß ich von der reizenden Dame abstamme, deren Bild ich auf Ihrem Schloß sah?« fragte Malchen leuchtenden Auges. »Es scheint mir, als könne das gar nicht wahr sein.«

»Aber es ist trotzdem so,« entgegnete der Baron und schüttelte sich wieder vor Lachen. »Sie und ich sind ohne Zweifel verwandt, wenn auch leider recht entfernt.«

»Das wollte ich meinen – recht entfernt, und deshalb ist es um so freundlicher von Ihnen, diese Verwandtschaft überhaupt anzuerkennen,« erklärte Malchen mit ihrem entzückenden Lachen. »Ich kann meinerseits kaum sagen, wie unbeschreiblich mir das Gefühl ist, plötzlich Verwandte zu besitzen, wirkliche Verwandte, außer Christian Mühe,« fügte sie mit einem lustigen Blick auf Frau Grau hinzu.

»Ach, dem alten Herrn sind wir sehr zu Dank verpflichtet,« meinte der Baron, »denn er hat uns zuerst auf die Spur Ihres Großvaters gebracht, Fräulein Malchen, und selbst ohne das Geständnis von Frau Bendler wären wir, Dank Christian Mühe«, auf die richtige Fährte gekommen. Und nun habe ich nur noch die eine Bitte, daß Sie mir versprechen, sehr bald zu uns zu kommen, und auf Schloß Mainard in Ihrer neuen Rolle als Cönnernsche Verwandte einen langen, langen Aufenthalt zu nehmen.«

»Ich würde gern Ihre liebenswürdige Einladung annehmen, aber Mama Grau besteht darauf, daß Sie mich eine Zeitlang wieder auf Reisen führt. Sir glaubt –«

»Ich glaube nichts weiter, als daß Malchen in den wenigen Monaten seit unserer Heimkehr so vieles durchgemacht hat, daß sie entschieden einer Luftveränderung auf kurze Zeit bedarf, damit sich alle trüben Ereignisse in ihrem Gedächtnis verwischen.«

»Ich habe mir eine lächerliche Gewohnheit zu träumen beigelegt,« sagte Malchen, und versuchte, die Sache leicht hinzustellen, »und zuweilen ist es auch Alpdrücken, so daß man mich schmählich fortschicken will, um das wieder zu erlangen, was der Arzt Spannkraft nennt.«

Trotz ihrer anscheinenden Sorglosigkeit bemerkte der Baron nun, nachdem die Röte wieder aus ihrem Gesicht gewichen, wie blaß und abgespannt sie aussah, und daß dunkle Ringe unter ihren Augen lagen.

Ehe er Abschied nahm, erklärte ihm Frau Grau noch, daß Malchen seit Frau Bendlers Tod an Schlaflosigkeit leide und dann wieder unter beängstigenden Träumen, in denen sie zuweilen klaffende Burgverliese sah und Mörder, die nach ihrem Leben trachteten.

»Sie hat zu viel erlebt,« sagte Frau Grau. »Ich denke, wir gehen an einen ruhigen Ort an die Riviera, den ich besonders gern habe, und wo sie ihr früheres Gleichgewicht und ihre normale geistige und seelische Gesundheit bald wieder gewinnen wird.«

»Geht die Baronin Bangler mit?«

»Nein, – das erlaube ich nicht. Sie erinnert Malchen gerade an alles, was sie vergessen soll, und ist überdies eine egoistische kleine Närrin. Sie würde sich an dem reizenden kleinen Oertchen, in das wir gehen, auch sehr langweilen, und ich dringe in Stella, mit einer ihrer Freundinnen nach Cannes zu sehen.«

Diesen Rat zu befolgen, war Stella nur zu bereit. Schon lange vor Weihnachten war sie des ruhigen Lebens auf dem Herrenhaus überdrüssig geworden und sehnte sich stillschweigend nach einem abwechslungsreicheren und aufregenderen Dasein zurück, an das sie gewöhnt war. Sie hatte auch eine gewisse Furcht vor ihrer Patin, Frau Grau, die sie im Verdacht hielt, sich über sie lustig zu machen, und bei sich nannte sie Malchen zu »tüchtig« und zu sehr von ernsten Lebensanschauungen durchsetzt, als daß sie ihr eine völlig gleichgesinnte Freundin sein konnte, namentlich jetzt, wo der erste Kummer und die Erschütterung über den Tod ihrer Mutter langsam entwichen.

So reiste denn Stella mit einer Begleiterin, die mehr nach ihrem eigenem Herzen war, Anfang Februar nach Cannes ab, und wenige Tage später verließen Frau Grau und Malchen das Herrenhaus, um sich in ihr abgeschlossenes Ruheplätzchen zu begeben, hoch oben zwischen den Olivengärten, die die Bergwände im Osten Genuas schmücken.


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