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9. Kapitel.

Frau Grau sah die Damen aus dem Herrenhause vor ihrer Rückkehr in die Stadt nur an dem Dienstag wieder, der dem Besuch Malchens folgte. Aber von mehr als einer Seite hörte sie die junge Dame, die die Hallersche Erbschaft angetreten, in den begeistertsten Ausdrücken preisen. Der Pfarrer, Herr Schweizer, sprach über Malchens Großherzigkeit; sie hatte den Wunsch ausgesprochen, alles zu tun, was in ihrer Macht lag, um das Wohl der Dorfbewohner zu heben, und hatte den Worten die Tat folgen lassen. Sie mußte allem Anschein nach, ohne sich von Frau Bendler oder Stella begleiten zu lassen, am Montag morgens einen Rundgang durch das Dorf angetreten haben, um sich persönlich nach allem zu erkundigen, wessen die Armen bedurften.

Frau Graus Gedanken beschäftigten sich in diesen Sommertagen recht häufig mit dem Mädchen, das sie so sehr interessiert hatte. Sie grübelte oft darüber nach, an wen sie durch Malchen erinnert wurde, ob sie sie gar selbst schon früher gesehen habe; aber alles Sinnen und Grübeln brachte ihr die Lösung nicht.

Auch an einem schwülen Juliabend, etwa drei Wochen nach der Abreise der Damen, dachte Frau Grau wieder auf das lebhafteste an Malchen und deren Zukunft. Der ganze Tag war sehr heiß und drückend gewesen, und beim Sonnenuntergang waren aus dem Süden dunkle Wolken aufgestiegen, als sichere Vorboten des herannahenden Gewitters.

Ein gewaltiger Blitzstrahl durchkreuzte das dunkle, massige Gewölk im Westen und ließ jeden Baum und Strauch, jede Blume mit gespenstischer Deutlichkeit eine Sekunde lang erkennen, um dann nach seinem Verschwinden die Dunkelheit noch tiefer erscheinen zu lassen. Aus den fernen Wäldern klang es wie das leise Grollen des Donners, und ein Zittern durchlief die Bäume, bis jedes Blatt zu beben schien.

Frau Grau stand schweigend am Fenster, das herannahende Gewitter zu betrachten, bis ein wilder Windsturm über das Wiesenland einhersauste, die Aeste bog und dann um das Haus stöhnend herumjagte wie eine klagende Seele. Mit dem Wind setzte auch ein starker Regenguß ein, der Frau Grau zwang, das Fenster zu schließen, und sich in die Ecke des Salons zurückzuziehen, wo ihr Zimmermädchen die angezündete Lampe auf einen Tisch stellte und dabei ängstliche Blicke zu den Fenstern warf, die jede paar Sekunden durch glänzende Blitze erleuchtet wurden.

Ihre Herrin sah sie freundlich an.

»Ich will die Jalousien schon selbst herunterlassen, Bertha; das Gewitter ist sehr stark.«

»Ach, gnädige Frau,« schrie das Mädchen mit schreckensbleichem Gesicht. »Ich habe so 'n Gewitter noch nie erlebt. Es hört ja keine Minute mit Donnern und Blitzen auf – und oh – was ist denn das?« Sie kreischte auf, denn trotz des gewaltigen Donners hörte man die Klingel an der Haustür scharf ertönen. Das ängstliche Mädchen zitterte am ganzen Körper und blickte voll Entsetzen auf ihre Herrin. Die Zähne klapperten ihr, als sie sagte: »Wer kann denn an einem solchen Abend nur kommen – und so spät?«

»Gleichviel, wer es ist, wir müssen doch öffnen,« sagte Frau Grau etwas streng. »Bei einem so furchtbaren Wetter läßt man doch keinen Hund draußen.«

Das Unwetter raste jetzt mit einer geradezu dämonischen Heftigkeit. Da sich sonst niemand im Hause befand, eilte Frau Grau die Treppe hinunter in die Eingangshalle. Der Sturm umtoste das Haus und heulte, als ob zehntausend Teufel losgelassen wären. Als sie nun die Haustür öffnete, brauste ein Windstoß in die Halle und trieb eine mächtige Regenwelle hinein, während eine Stimme aus der Dunkelheit draußen anhob: »Wollen Sie mich einlassen? Sie sagten mir, daß ich zu Ihnen kommen dürfte, wenn ich in Not wäre – ich bin jetzt in Not.«

Frau Grau stieß einen Ruf unbeschreiblichen Erstaunens aus, als sie ihre Hand dem jungen Mädchen auf den Stufen reichte, das eine Sekunde lang in der Lohe eines blauen Blitzes deutlich erkennbar wurde.

»Mein liebes Kind – Sie?« war alles, was Frau Grau herausbringen konnte, als sie das von Regen triefende Mädchen, an das sie noch vor einer halben Stunde so lebhaft gedacht hatte, ins Haus zog. »Malchen Mühe,« wiederholte sie, ganz verwirrt die blassen Wangen und die völlig durchnäßte Kleidung der vor ihr Stehenden betrachtend. »Sie hier – und allein? Was ist geschehen?«

Das blasse Gesicht wurde noch aschfahler, der entsetzte Ausdruck der braunen Augen verschärfte sich: sie haschte nach Frau Graus Hand, als wolle sie sich an etwas Starkes, Schutz suchend, klammern.

»Behüten Sie mich,« flüsterte sie. »Ich – bin von ihnen – von ihr fortgelaufen. Sie hat mich vergiften wollen, da bin ich zu Ihnen gekommen.«

Zuerst faßte Frau Grau ein kleiner Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Mädchens: da sie dann aber sah, daß Malchen viel zu sehr erschöpft war, um Fragen zu beantworten oder zusammenhängend zu erzählen, führte sie sie sanft die Treppe hinauf und befahl der erstaunten Bertha sofort für heißes Getränk zu sorgen. Dann brachte sie Malchen in ein Schlafzimmer, schürte das Feuer und begann die nassen Kleider herunterzuziehen, die wie nasse Decken an der bebenden Mädchengestalt klebten.

»Ich lief fort,« wiederholte Malchen monoton. »Ich lief fort, als ich sah. was sie zu tun versuchte. Ich hatte gerade Geld genug bei mir, um mir eine Karte für den Zug zu nehmen. Von der Station mußte ich bis hierher gehen. Ich lief fort.« Ihre Blicke waren so starr und seltsam, sie wurde immer erregter, je häufiger sie das wiederholte, was sie schon vorher gesagt hatte, daß Frau Grau ihr ruhig, aber bestimmt erklärte, kein Wort von ihr anhören zu wollen, ehe sie sich nicht ausgeruht und erwärmt habe. Malchen ließ sich denn auch folgsam in ein erwärmtes Bett tragen und trank ebenso gehorsam, was Frau Grau ihr zu trinken befahl. Dabei beobachteten ihre großen Augen das Gesicht der kleinen Dame mit den rührenden Blicken eines treuen Hündchens.

Als sie dann warm geworden, gestärkt und in ein wonniges Gefühl der Sicherheit eingehüllt war, sich in die Kissen lehnte und einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, sagte Frau Grau ruhig:

»Und nun, mein liebes Kind, erzählen Sie mir einmal genau, was Sie heute abend in dieser Weise zu mir geführt hat? War es wirklich nötig, daß Sie so rasch fortgingen? Wird sich Frau Bendler nicht erschrecken und den Kopf zerbrechen, wo Sie sein mögen?«

»Erschrecken? Sie erschrickt sich nicht,« sagte Malchen mit hartem Lächeln. »Sie wird sich freuen, mich los zu sein; sie wäre mich am liebsten auf immer los. Sie wollte mich töten, verstehen Sie das nicht? Was ich vorhin sagte, ist die Wahrheit – sie wollte mich vergiften.«

»Aber – mein liebes Malchen, erzählen Sie mir die Geschichte einmal klar und deutlich, und versuchen Sie, es mir zu erklären, weshalb Sie vermuten, daß Frau Bendler etwas so Gräßliches tun könnte.« Sie hatte sich über das Bett gebeugt und streichelte des Mädchens prächtiges Haar, das sich wie eine Farbenglut über dem Kissen ausbreitete, »Ich kann es nicht begreifen, nicht fassen: eine Dame von ihrer Herkunft und Stellung vergiftet keine Menschen.«

»Sie mag eine Dame sein – sie ist aber auch eine Katze. Ich habe immer gewußt, daß sie die Tatzen versteckt, obgleich ich nie daran gedacht habe, daß sie jemals so weit gehen würde, wie heute.«

»Aber welche Gründe hätte sie denn, Ihnen Böses zuzufügen, liebes Kind? Es ist ja gerade ihr Vorteil, daß Sie bei ihr wohnen.«

»Soll ich Ihnen sagen, was ich denke?« Malchen wandte den Kopf und blickte Frau Grau fest in die fragenden Augen. Unwillkürlich hatte sie die Stimme gesenkt, als fürchte sie, belauscht zu werden. »Soll ich Ihnen sagen, was mir in den Sinn gekommen ist, während ich im Zuge saß?« Sie schwieg, und Frau Grau sagte:

»Was fiel Ihnen denn ein?«

»Daß, wenn ich stürbe, es für Stella das beste wäre, weil dann Herr Darberg das Geld bekäme – und –«

»Welches Geld?«

»Meines. Als ich vor einigen Wochen mein Testament machte, habe ich Herrn Darberg das Vermögen bis auf einen kleinen Rest verschrieben. Wenn Frau Bendler das weiß, so lohnt es sich ihr doch der Mühe, mich aus dem Weg zu räumen?« Sie sprach mit einer gewissen ruhigen Gleichgültigkeit; ihre natürliche Gemütsruhe war ihr wiedergekehrt, nachdem sie sich sicher und vor dem Druck und Schrecken des Tages befreit fühlte. »Das ist der einzige Grund, weshalb sie mich zu vergiften trachtete, und es gelang ihr beinahe.« Sie schauerte zusammen. »Wenn ich mich nicht umgedreht und sie dabei ertappt hätte, wäre ich jetzt nicht hier. Stella und ich kehrten aus einem Konzert spät heim, es kann nahe an 6 Uhr gewesen sein. Frau Bendler saß in ihrem Boudoir, ganz Lächeln und Liebenswürdigkeit. Sie sagte, zum Kaffee sei es zu spät, und ließ etwas Limonade und Abkühlendes für uns hinaufbringen. Das Tablett stand auf dem Tisch neben ihr, ich sah zum Fenster hinaus und Stella hatte sich ans Klavier gesetzt und begann ein Stück zu spielen, das wir im Konzert gehört hatten. Frau Bendler goß die Limonade für uns ein und sprach fortwährend dabei und ganz schnell – über eine Gesellschaft am Abend, über ein neues Kleid für mich und dieses und jenes. Ich glaubte, das heiße Wetter hätte ihr zugesetzt, und wollte mich eben nach ihr umdrehen, als ich die Beobachtung machte, in den Spiegel an der Wand sehen zu können, nachdem ich meinen Kopf halb umgewandt hatte. Da sah ich Frau Bendlers Gesicht, und das hielt mich gebannt, als ob ich gelähmt sei. Ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht sprechen. Aus ihren Mienen sprühten Haß und Bosheit. Sie sprach noch immer weiter und lächelte auch: bei ihrem Lächeln überlief es mich kalt, obgleich die Hitze unerträglich war. Sie hatte zwei Glas Limonade eingegossen, und dann sah ich, wie sie rasch aufblickte, zuerst auf Stella, die träumerisch Klavier spielte, und dann auf mich, die am Fenster stand und hinauszublicken schien, aber sie ahnte nicht, daß ich sie im Spiegel fortwährend beobachten konnte. Dann sah ich, wie sie die Hand in die Tasche steckte und schnell ein kleines Papier aus der Tasche zog.«

Frau Grau holte tief Atem: ihre Hand, die auf Malchens Arm lag, faßte fester zu.

»Sie öffnete das zusammengefaltete Papier geräuschlos und ganz schnell und ließ etwas weißes Pulver in eines der Gläser fallen. Und dann« – Malchen stockte, der Blick des Entsetzens trat wieder in ihre Augen – »dann sagte sie sehr liebenswürdig und süß: »Nun, meine Lieben, kommt und trinkt, Ihr müßt ja beide ganz geschmolzen sein,« und damit hob sie das Glas, in das sie das weiße Pulver geschüttet hatte, und reichte es mir. Und als ich sah, wie sie mich anlächelte, da hätte ich ihr das Glas ins Gesicht werfen mögen.«

»Was taten Sie dann?« Frau Grau war jetzt ebenso blaß wie Malchen. »Sagten Sie ihr etwas?«

»Ich nahm das Glas und sagte: »Danke schön, ich will oben trinken, während ich mich umziehe,« und Frau Bendler blickte mich ganz merkwürdig an und entgegnete: »Ganz recht, meine Liebe.« Der Haß, der aus ihren Augen leuchtete, erschreckte mich. Ich lief hinauf in mein Zimmer, verschloß die Tür und setzte mich auf mein Bett. Ich zitterte wie Espenlaub. Dann goß ich die Limonade aus dem Glas in eine Flasche, in der ich früher Haarwaschwasser hatte, und steckte die Flasche zu mir, ohne recht zu wissen, was ich tat, aber doch mit dem Gefühl, etwas tun zu müssen. Und als ich mich nun zitternd wieder hingesetzt hatte und nachdachte, hörte ich draußen vor meiner Tür leise Schritte und das Rascheln von Frauenröcken und wie jemand versuchte, die Klinke geräuschlos herunterzudrücken. Und ich wußte, daß Frau Bendler hinaufgeschlichen war, um nachzusehen, ob ich das Gift getrunken hätte und ob – und ob ...« Sie unterbrach sich. »Ich war zu Tode erschreckt. Ich wußte jetzt, daß sie es auf mein Leben abgesehen hatte. Ich fürchtete mich vor ihr – fürchtete mich unsäglich. Aber ich hielt mich nicht länger mit Denken auf. Den Hut und das Kleid, die ich im Konzert getragen hatte, legte ich nicht mehr ab, packte den mir zunächst hängenden Mantel und meine Börse, öffnete die Tür so leise es nur gehen wollte und sah auf den Korridor hinaus. Es war niemand dort; ich hörte Frau Bendler schnell und laut in Stellas Zimmer sprechen. Ich konnte auch verstehen, was sie sagte, als ich an der Tür vorbeikam. Sie sprach über Stellas Ausstattung und ihr Hochzeitskleid. Sie hielt mich wohl schon für tot, glaube ich.«

Malchen lächelte eisig, und Frau Grau zitterte wiederum.

»Wie eine Maus schlich ich die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Als ich auf der Straße stand, überkam mich aufs neue die entsetzliche Angst, und ich lief davon, als ob sie hinter mir her sei, ich blieb keine Sekunde stehen und blickte mich nicht um, bis ich eine ganze Strecke vom Hause fort war. Dann nahm ich mir eine Droschke und fuhr zur Bahn. In einer Minute hatte ich mich entschlossen, zu Ihnen zu kommen. Ich wußte, bei Ihnen bin ich sicher und geborgen.«

»Sie sind hier geborgen, liebes Kind!« sagte Frau Grau ernst, »und Sie können so lange hier bleiben, wie es Ihnen beliebt. Morgen wollen wir Herrn Brand bitten, zu uns zu kommen und ihn um Rat fragen. Jetzt müssen Sie aber einschlafen.«

Es dauerte indes noch sehr lange, bis die kleine alte Dame sich von Malchens Bett entfernen konnte, denn bis tief in die Nacht hinein warf sich das Mädchen umher, stöhnte und richtete sich voll Schrecken in die Höhe, vom Kopf bis zum Fuß in Schweiß gebadet und kläglich rufend:

»Ich will es nicht trinken, ich sage Ihnen, ich will es nicht trinken! Weshalb wollen Sie mir Leid antun? Ich habe Ihnen doch nichts Böses zugefügt!«

Am anderen Morgen depeschierte man Herrn Brand, und die Flasche mit der Limonade wurde seiner Obhut anvertraut. Er war zuerst geneigt, die ganze Geschichte als das Phantasiegebilde eines hysterischen Mädchens aufzufassen, und rümpfte die Nase bei dem bloßen Gedanken, daß eine so reizende Dame, wie Frau Bendler, einer so nichtswürdigen Handlung überhaupt fähig sein könnte, deren Malchen sie bezichtigte. Mehr um Frau Grau zu beruhigen, als weil er selbst in der Angelegenheit irgendwelchen Zweifel hegte, nahm er die Limonade mit zur Stadt und versprach, sie analysieren zu lassen. Er empfahl Malchen aber in sehr gemessener Form, sich nicht durch alberne Einbildungen beeinflussen zu lassen, und bestand darauf, daß Frau Bendler drahtlich benachrichtigt wurde, wo sich Malchen befand.

Als jedoch am nächstfolgenden Morgen Frau Grau, die sich mit Malchen im Salon befand, der Anwalt wieder gemeldet wurde, und er mit ganz verstörtem Gesicht eintrat, wußte sie sofort, daß etwas sehr Ernstes geschehen sein mußte.

»Ich hielt es für das beste, gleich selbst herauszukommen,« sagte er in einer Aufregung, die von seiner gewöhnlichen Ruhe sehr abstach, »und ich bitte Sie um Entschuldigung, Fräulein Mühe, gestern Ihre Worte angezweifelt zu haben. Die mir übergebene Limonade ist analysiert worden und – sie enthält ein Quantum Aconitum, das hinreicht, um den Tod von mindestens drei Menschen sofort zu verursachen.«

Es trat Schweigen ein.

Malchens Gesicht wurde leichenfahl, und sie sank in die sie umfassenden Arme von Frau Grau, die sich ihr genähert hatte, als der Anwalt zu sprechen begonnen.

Nach einer Weile sagte Brand:

»Es ist entsetzlich, ganz entsetzlich und geradezu unfaßbar. Weshalb soll Frau Bendler den Tod eines absolut unschuldigen Mädchens herbeiwünschen, dessen Anwesenheit in ihrem Hause geradezu von wesentlichem Vorteil für sie ist?!«

»Kennt sie vielleicht den Inhalt von Malchens Testament?« fragte Frau Grau. Der Anwalt fuhr zusammen und starrte Frau Grau an, als habe sie etwas ganz Außerordentliches gesagt.

»Ihr Testament – das Testament von Fräulein Mühe? Glauben Sie, daß der Inhalt Frau Bendler zur Kenntnis gelangt ist? Wenn das der Fall wäre, so unwahrscheinlich es auch klingt, dann hätten wir wenigstens den Grund für ihre Handlungsweise gefunden, die sonst ebenso unmotiviert wie unverständlich bleibt. Haben Sie mit ihr über das Testament gesprochen, Fräulein Mühe?«

»Nein, ich habe ihr kein Wort von dem Inhalt gesagt. Sie war ja Zeugin, konnte aber bei ihrem Unterschreiben nichts von dem Testament selbst lesen, weil Sie das zusammengefaltet hatten. Von mir hat sie nichts erfahren.«

»Es ist eine gräßliche, unbegreifliche Sache. Daß ein Vergiftungsversuch vorliegt, läßt sich nicht bestreiten. Was wollen Sie nun tun, Fräulein Mühe? Wollen Sie die Anklage erheben?«

»Gegen wen? Gegen Frau Bendler? Ach, nein. Zwischen uns hat nie Liebe bestanden, aber ich möchte doch Stellas Mutter nicht vors Gericht bringen. So oberflächlich Stella auch ist, ich liebe sie und möchte ihr nicht wehe tun. Lassen wir Frau Bendler laufen. Sie soll nur erfahren, weshalb ich nicht zu ihr zurückkehre, weiter will ich nichts.«

»Sie erhält von mir eine sehr deutliche Erklärung, aus welchem Grunde Sie nicht wieder zu ihr zurückkommen,« sagte Herr Brand mit einer ihm sonst ganz fremden Heftigkeit. »Ich bin mir aber doch noch nicht klar darüber, ob Ihre Großmut wirklich so weit gehen darf, sie für ihren versuchten Mordanschlag unbestraft zu lassen.«

»Ach, sprechen wir nicht mehr darüber. Sie hat keine Gelegenheit mehr, mir das noch einmal anzutun. Wenn Sie und ich ihr schreiben, so wird sie erschrecken und recht böse Stunden durchleben und wenn sie ein Gewissen besitzt – so tut das das übrige.«

Ob sich Frau Bendlers Gewissen wohl besonders regte? Immerhin erlebte sie keinen geringen Schrecken, als sie an dem Morgen, der der zweiten Fahrt des Anwalts nach Singenburg folgte, zwei Briefe erhielt. Das erste Schreiben rührte von Brand her und war kurz und ernst, indem er lediglich konstatierte, daß unter Frau Bendlers Dach das Leben von Fräulein Mühe gefährdet sei, und diese deshalb mit seiner Zustimmung bei Frau Grau im Weißen Hause bei Singenburg ihren Wohnsitz aufgeschlagen habe, welche Dame fortan ihre Beschützerin sein würde. Von weiteren Schritten habe er auf den großmütigen Wunsch von Fräulein Mühe hin Abstand genommen.

Genügte dieser Brief schon, um seine Empfängerin aufs höchste zu bestürzen, so versetzte der zweite, von Malchens kritzelnder Hand geschrieben, sie in einem Zustand von Wut und Raserei, die an Wahnsinn grenzten.

 

»Es ist jammerschade, daß Sie den Versuch machten, mich umzubringen, weil ich Ihnen und Stella immer gut gesinnt gewesen bin. Es ist doch nicht meine Schuld, daß Herr Haller mich zu seiner Erbin machte. Ich weiß, daß Sie mich stets gehaßt haben, und wenn ich Stella nicht lieb hätte, würde ich Herrn Brand nicht gebeten haben, von einer Anklage abzusehen, damit Sie ins Gefängnis kämen, weil Sie in mein Glas Gift schütteten. Ich habe Stella aber wirklich lieb und werde deshalb mit niemand darüber sprechen, was Sie getan haben. Nur Frau Grau und Herr Brand wissen es. Und wenn Sie doch noch einmal solche Dinge unternehmen, dann sehen Sie sich vor und lassen keine Spiegel an der Wand hängen.

Miranda Mühe.«

 

Malchen trieb ihre Großmut so weit, auch an Stella zu schreiben. »Es wird Frau Bendler nicht leicht fallen, Stella zu erklären, weshalb ich so plötzlich ausgerückt bin«, sagte sie zu sich selbst. »Ich will ihr deshalb ein Wort schreiben.«

Wenn die Erklärung, die sie Stella abgab, die wenig intelligente junge Dame auch nicht völlig überzeugte, so wurde diese doch wenigstens dadurch davon abgehalten, nach einem Grund für Malchens plötzliche Abreise zu suchen, der ihre eigene Mutter verdächtigen konnte.

Die drei Briefe erreichten das Bendlersche Haus zur Frühstückszeit, und Stella fuhr erschreckt zusammen, als sie den Ausdruck boshafter und enttäuschter Wut in den Mienen ihrer Mutter bemerkte.

»Ach, Mutter, wie komisch von Malchen.« Dabei reichte sie ihr deren Brief über den Tisch hinüber. »Sie schreibt einfach, sie sei von uns und zu Frau Grau gegangen. Wirklich sonderbar!«

»Sehr sonderbar!« zischte Frau Bendler, »aber doch genau das, was man von einem solchen Mädchen erwarten darf.« Sie blickte ihre Tochter forschend an, ob in Stellas überraschten blauen Augen nicht ein Argwohn lauerte.

»Das sagt Malchen ungefähr selbst. Wir sollten uns über ihr seltsames Benehmen nicht wundern, sie wäre nun einmal ganz anders wie wir erzogen, und ihre und unsere Art seien von Grund aus verschieden.«

»Das trifft allerdings zu! Ich bedauere, daß ich dem Mädchen überhaupt erlaubt habe, mein Haus zu betreten. Es war von Anfang an gegen mein besseres Wissen.«

»Aber, Mutter!« Stellas Augen öffneten sich noch weiter. »Ich glaubte, es wäre dir so sehr daran gelegen gewesen, sie bei uns zu haben. Ich betrug mich ja albern dabei und bat dich, Malchen nicht kommen zu lassen. Du sagtest aber, es sei sehr gut, wenn sie käme, daß es dein Wunsch sei, und – und ich dachte – du hättest das auch wirklich ernsthaft gewünscht, sie bei dir zu haben.«

»Zuweilen denkst du noch gerade das Verkehrte,« erklärte Frau Bendler mit dem kalten Blick, der niemals verfehlte, ihre Tochter zu entwaffnen und sie zur Unterwerfung zu zwingen. »Natürlich meinte ich deinethalben, daß uns Miranda Mühes Geld nützlich sein würde, aber den Wunsch zu hegen, ein solches Mädchen in meinem Haus wohnen zu haben, das konnte mir niemals in den Sinn kommen. Bitte, Stella, verstehe mich recht, ich wünsche nicht, daß du mit dem Mädchen noch irgendetwas weiter zu tun hast.«

»Du meinst, ich soll Malchen nicht schreiben, sie nicht mehr sehen? Sie wohnt ja nun bei Frau Grau, meiner Patin, die –«

»Frau Grau steht es frei, so absonderlich und abgeschmackt zu handeln, wie es ihr beliebt, und wenn sie Gefallen daran findet, dieses gewöhnliche und, wie ich nun sagen möchte, übelbeleumundete Geschöpf bei sich aufzunehmen, so kann ihr das niemand verwehren. Ich verlange aber von dir, daß du dich nicht mehr mit Miranda Mühe abgibst.«

»Ach, Mutter,« stammelte Stella mit dicken Tränen in den Augen. »Ich habe Malchen aber so gern, und sie ist immer sehr gut gegen mich gewesen. Erinnere dich nur an alle die schönen Geschenke, die sie mir gemacht hat. Wie kann ich sie nun auf einmal ganz aufgeben?«

»Du kannst das, weil ich es dir sage,« lautete die eisige Antwort, als Frau Bendler vom Tisch aufstand und auf ihren Schreibtisch zuschritt, in dem sie ihre Geschäftspapiere aufbewahrte, und der sie stets an die halbe Stunde erinnerte, die sie mit dem Inhalt des Testaments von Malchen bekannt gemacht hatte.

»Ich habe sie doch so lieb gewonnen,« wiederholte Stella mit dem widerspenstigen Zug um den Mund, den ihre Mutter kannte und fürchtete. »Ich begreife nicht, weshalb du anderer Meinung über sie geworden bist. Erst verlangtest du, mit ihr befreundet zu sein, und jetzt soll ich sie grob behandeln.«

»Es ist nicht nötig, daß du grob gegen sie bist, ich wünsche nur, daß du sie einfach vergißt. Ihr Benehmen gegen mich, in dieser Weise ohne einen Schatten von Entschuldigung fortzulaufen, ist doch ein völlig hinreichender Grund für dich, sie fortan zu übersehen.«

Frau Bendler arbeitete allmählich ein sehr glaubhaftes System über Malchens schlechte Aufführung aus, und Stella, stets gewohnt, sich den Befehlen ihrer Mutter stillschweigend zu unterwerfen, schrieb einen kühlen, zurückhaltenden Brief an Malchen.

»Ich habe es getan, wie du mir gesagt hast, Mutter,« meldete Stella, nachdem sie den Brief geschrieben hatte und in Frau Bendlers Salon zurückkam. »Ich erklärte Malchen, daß ich glaubte, da sie uns so plötzlich und auf so eigentümliche Weise verlassen habe, sie lege auf meine Freundschaft wenig Wert, und es sei deshalb das Beste, wir schrieben uns nicht mehr und hätten überhaupt nichts mehr miteinander zu tun. – Was wohl Arthur dazu sagen wird? Er hat immer behauptet, Malchen sei ein gutes Mädchen, wenngleich er sich nie dazu verstehen würde, sie oder eine ihresgleichen zu heiraten.«

»Arthur kann über diese Angelegenheit nicht urteilen. Ueberhaupt ist es besser für dich, viel weniger an Herrn Darberg zu denken und über ihn zu sprechen. Starre mich doch nicht so überrascht an,« fuhr sie noch verdrießlicher fort. »Ich habe die Fortdauer deiner Verlobung in der Hoffnung gestattet, daß Herr Darberg vielleicht einen höheren Posten erhalten würde, oder daß das Frauenzimmer so viel Takt besäße, ihr Geld mit ihm zu teilen. Sie scheint aber ihr Geld bis auf den letzten Heller behalten zu wollen, und du kannst keinen armen Mann heiraten.«

»Verlangst du denn von mir, daß ich Arthur aufgebe, wie ich Malchen aufgeben mußte?« fragte Stella, und die Farbe wich ihr aus dem Gesicht. »Als er das Vermögen verloren hatte, sagtest du, daß, solange wir glücklich miteinander wären, Geld keine Rolle spiele.«

Frau Bendlers Geduld war erschöpft; ihre Augen glühten vor Wut. Stella hatte Furcht vor ihr und wich zurück, indem sie stammelte:

»Aber – ich kann – ich kann meine Verlobung mit Arthur nicht aufgeben. Es wäre so gemein – so gräßlich – jetzt zu sagen, daß ich ihn aufgebe, weil er arm ist.«

»Du bist eine Närrin, Stella, eine vollkommene Närrin.« Frau Bendler legte die Hände auf die Schultern ihrer Tochter und schüttelte sie leicht, aber ärgerlich. »Du hast so unreife und lächerliche Ideen, wie sie dein Vater hatte. Ueberlasse mir gefälligst alles und mische dich nicht hinein.«

Stella wich von ihr blaß und zitternd zurück; ihre Mutter lachte trocken auf.

»Ich will dich nicht totschlagen. Ich will dein Bestes, obgleich ich bis jetzt nur Unheil angerichtet zu haben scheine. Komm, mein liebes Kind und sieh mich nicht mit so großen erschreckten Augen an.« Frau Bendler wurde ganz zärtlich. »Du mußt zu deiner alten armen Mutter Vertrauen haben. Diese ganze Geschichte mit Malchen hat mich furchtbar aufgeregt, und meine Nerven sind stark mitgenommen. Wenn ich etwas heftig war, so darfst du das so genau nicht nehmen. – Jetzt wollen wir einmal alle unangenehmen Gedanken beiseite schieben und uns darüber einig werden, was du heute abend anziehst. Der Baron Bangler kommt heute zum Diner, und da möchte ich, daß mein kleines Mädchen recht hübsch aussieht.«

Stella errötete tief, die Angst wich aus ihren Augen, und sie schmiegte sich an ihre Mutter.

»Ich wollte, der Baron schickte mir nicht immer so prachtvolle Blumen – ich finde das nicht hübsch gegen Arthur –«

»Unsinn, meine Liebe, Unsinn,« sagte Frau Bendler, streichelte die Rosawangen und lachte: »Arthur ist nicht so töricht, etwas dagegen zu haben, wenn dir jemand anders einige Blumen schenkt. Uebrigens – der Baron sprach davon, wir möchten doch im August eine Woche auf seinem Schloß bei ihm verbringen; wäre das nicht sehr hübsch?«

»Sehr hübsch,« entgegnete Stella zerstreut.

Ihre Mutter beobachtete sie genau, lächelte dann und sagte sich:

»Es wird gar nicht so schwer sein, die Sache schließlich zu drehen. Einen jungen Menschen, wie Arthur Darberg, kann man leicht glauben machen, was man wünscht, daß er glauben soll.«


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