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15. Kapitel.

»Mein Gott!« Das sagte der Schloßherr als Antwort auf den schwachen Hilferuf aus der schwarzen Tiefe des Brunnenverließes und taumelte dabei von dem Geländer zurück, als ob er von der gräßlichen Situation völlig überwältigt worden sei.

Zwei jüngere Herren schickten sich zur schleunigen Tat an.

»Hole rasch ein Tau, Anstrut,« rief Distelmann, »sie lebt.«

Der Angeredete stürzte wie der Blitz davon, die Treppe hinauf, und Frau Grau nahm seinen Platz am Geländer ein: ihre zitternde Hand klammerte sich an Distelmann.

»Ist – sie – das? Ist das Malchen?« fragte sie erschüttert. Doch ehe der junge Mann ihr noch antworten konnte, hatte sie sich weit über die Eisenstangen gelehnt und rief mit verzweifelten Herzenstönen:

»Malchen – Malchen – mein Kind, mein Liebling – bist du da?«

»Da – da – da,« gab das Echo von dem gewölbten Dache, von den kahlen Mauern zurück, aber keine weitere Antwort erfolgte.

Als das Echo verklang, störte kein anderer Laut die Totenstille, als das schauerliche Rauschen des Stromes unter der Erde und das Tröpfeln von den schlammigen Mauern auf den schlammigen Steinboden.

»Malchen!« klang es wieder von Frau Grau, die Folterqualen erlitt, und abermals wurde das Wort wie höhnend von allen Seiten im Echo wiederholt, aber aus der Tiefe schallte keine Stimme, keine Antwort.

»Das Weiße, das wir sahen, ist noch da,« sagte Distelman zu Frau Grau, dessen Augen noch immer angespannt die Dunkelheit durchdrangen, »aber selbst beim Laternenlicht läßt sich nicht erkennen, was es ist. Vielleicht nur ein weißer Fetzen Zeug, der abriß, als sie –«

Der Satz wurde nicht beendet: ein plötzliches Beben vom Kopf bis zum Fuß ergriff den jungen Mann, als er sich klar machte, was er hatte sagen wollen.

»Wenn – wenn es aber kein weißer Fetzen ist? –« Es war Frau Grau, als ob sich ihr diese Worte mechanisch abzwängen. »Was ist es denn?«

»Das wissen wir nicht,« antwortete Distelman. »Wir können ja nicht sehen, ob es ein Stück Zeug oder eine Hand ist.«

Frau Grau überkam das Gefühl einer tödlichen Ohnmacht, – sie klammerte sich ganz verzweifelt an Distelman an.

»Wäre es nicht besser, ich führte sie zu Frau von Cönnern hinauf,« sagte er teilnehmend. Fritz Distelmann war stets sehr hilfreich gegen Schwache, und das Unglück der kleinen Dame ging ihm tief zu Herzen. »Wir werden, was menschenmöglich ist, für Fräulein Mühe tun. Wenn – wenn es möglich ist, sie zu retten, werden wir sie retten.«

»Ich kann nicht von hier fort,« entgegnete Frau Grau und raffte sich mit hastiger Gebärde aus seinen schützenden Armen. »Wenn mein geliebtes Kind, mein Malchen, dort unten ist, so will ich warten – bis – bis wir das Schlimmste wissen.«

Fritz Distelman unterließ jeden weiteren Versuch, sie von der grausigen Stätte fortzugeleiten. So stand sie neben ihm während dieser qualvollen Minuten, die wie Stunden schienen – nein, wie Tage, Monate.

Endlich, endlich erschallten laute Schritte und Stimmen, man sah das Aufblitzen von Fackeln und Lichtern auf der Treppe, und einen Augenblick später wurden die Umstehenden von einer Anzahl erregter, hilfbereiter Diener umringt, die von Max Anstrut geführt wurden und denen die Damen folgten, die bisher oben gestanden hatten.

Anstrut hatte ein starkes Seil mitgebracht, und der Haushofmeister trug eine lange hölzerne Stange, an deren Spitze sich ein Haken befand, wie man sie zum Oeffnen und Schließen hochgelegener Fenster gebraucht.

Frau v. Cönnern trat bleich und aufgeregt zu ihrem Gatten heran.

»O, Richard, was ist denn geschehen? Frau Bendler ist wie eine Wahnsinnige und – wo ist Fräulein Mühe? Ich habe Diener mitgebracht – falls –«

Ihre Stimme erstarb, als sie ringsherum die ernsten Gesichter sah, Zeugin der von Anstrut und Distelman in Angriff genommenen Vorbereitungen wurde, und wie sie dann bemerkte, wie alle Blicke sich auf die Mündung des Verließes richteten.

»Sie ist doch nicht dort unten?« brach es dann von ihren Lippen. »Sie kann doch nicht da hineingefallen sein – da hinein?«

Auch sie lehnte sich jetzt gegen das Geländer und sah in die dunkle Tiefe, die in diesem Augenblick durch die vielen Lichter, die jetzt im Raum leuchteten, noch dunkler erschien.

»Es muß jemand mit hinuntergelassen werden,« sagte der Schloßherr. »Wenn sie dort – überhaupt zu erreichen ist – so muß sie bewußtlos sein, oder sie hätte uns rufen hören. Es muß jemand hinunter.«

»Ich will,« rief Distelmann eifrig und schlug das Seilende fest um seinen Körper. »Seien Sie nur sehr vorsichtig, wenn Sie mich hinunterlassen; das Seil muß ganz langsam gleiten, damit ich nicht etwa auf Fräulein Mühe stoße und sie hinabstürze, wenn – wenn sie noch oben ist,« fügte er leise hinzu.

In einem so gespannten Schweigen, daß man es förmlich fühlte, wurde das Seil an einem gewaltigen eisernen Ring befestigt, der in der Mauer hing, und dann von den übrigen Herren und Dienern gehalten, während sich Distelman langsam und mit größter Vorsicht über den Rand des Verließes hinabgleiten ließ, und in noch tieferem Schweigen beobachteten die am Geländer Stehenden, wie er allmählich immer weiter nach unten kam und dann allen Blicken entschwand. Laternen und Fackeln wurden über die Oeffnung gehalten, aber ihr Licht drang doch nicht tief genug, um für die oben stehenden Beobachter von praktischem Wert zu sein, und außer der beständigen Bewegung des Seiles, das die Leute, die es hielten, langsam weitergleiten ließen, war von Distelmans Fortschritt nichts zu bemerken. Abermals kam es denen, die in furchtbarem Zweifel und Grausen warteten, vor, als müßten Jahre verstrichen sein, ehe sich ein dumpfes Geräusch hören ließ, das aus der Tiefe kam. Im selben Augenblick blieb das Seil ruhig, nachdem es zuvor einen scharfen Ruck erhalten, der es den Händen der Haltenden fast entrissen hätte.

Noch einmal kam aus der Tiefe der unbestimmte Laut, Und dann wurde das Seil plötzlich so fest angezogen, daß einer der vorne stehenden Diener das Gleichgewicht verlor. Zu gleicher Zeit klang die Stimme aus der Tiefe deutlicher, und Anstrut, der sich weit über das Geländer hinab gebeugt hatte, vernahm die Worte:

»Zieht hinauf – schnell!«

Der Befehl wurde von ihm schnell wiederholt, die Leute am Ring an der Mauer arbeiteten mit allen Kräften und wenige Augenblicke später wurden die mit vorgestrecktem Halse Zuschauenden des glatten braunen Kopfes und der breiten Schultern von Fritz Distelman ansichtig, und dann tanzte das Licht über rote Haarmassen, und ein nicht zu unterdrückendes Freudengeschrei erscholl, als man sah, daß auf dem Arm des jungen Mannes das totenblasse Gesicht von Malchen Mühe ruhte.

Distelman selbst war aschfahl und von Schweiß bedeckt; dunkle Linien lagen unter seinen Augen, er rang nach Atem, und sobald er die Oberfläche erreichte und eifrige Hände ihn von der leblosen Last des Mädchens befreiten, sank er auf dem Steinboden vor Erschöpfung ohnmächtig zusammen.

Liebevolle Arme trugen Malchen ins Schloß, hinauf in ihr Zimmer und legten sie auf ihr Bett, wo sie stundenlang bewußtlos und fast ohne zu atmen verharrte.

Nachdem Distelman wieder an die frische Luft geführt war. erholte er sich rasch und war imstande, eine kurze Erklärung zu geben. Aber nur wenig war es, was er sagte.

»Fragen Sie mich nicht zu viel,« gab er den ihn Umringenden auf ihr eifriges Verlangen zur Antwort. »Ich kann über das Gräßliche nicht sprechen, es läßt sich mit Worten gar nicht schildern. Ich weiß nur, daß ich fühlte, als ich in die Dunkelheit hinunterkam, daß dort jemand, dicht an der Mauer, sein mußte – ich nahm sie in meine Arme und rief nach oben, mich hinaufzuziehen. Das ist alles. Ums Himmelswillen, sprechen Sie nicht mehr davon.«

Wenn ein so starker junger Mann davor zurückschreckte, über den dunklen, grauenhaften Schacht zu sprechen, so konnte es nicht überraschen, daß Malchen, als sie endlich aus der stundenlangen Bewußtlosigkeit erwachte, es rundweg ablehnte, das Thema ihres schrecklichen Unfalles überhaupt zu erwähnen.

Frau Graus Gesicht war das erste, auf das ihre schreckensvollen Augen fielen, als sie diese langsam öffnete.

»Sie sind es? Ich glaubte, der Tod – der Tod –«, sie bebte am ganzen Körper, und ihre Augen schlossen sich wieder, während sich Frau Grau liebreich über sie beugte und ihr das Haar aus dem Gesicht strich.

»Ich bin hier bei dir, liebes Kind,« sagte sie, und ihre sanfte Stimme übte den beruhigendsten Eindruck auf des Mädchens angstvollen Zustand. »Du bist nicht mehr in Gefahr. Du liegst in deinem Bett, ich stehe neben dir.«

»In meinem Bette.« Ihre Augen öffneten sich wieder, sie richtete sich langsam auf und blickte verwundert im Zimmer umher. »Ich dachte, der Strom käme immer näher und näher und die Dunkelheit – ach, bringe mich aus der Dunkelheit heraus.« Sie drückte eine Hand an die Augen, sank zitternd in die Kissen zurück und griff fieberhaft mit der freien Hand nach Frau Grau, indem sie sich wie ein verschüchtertes Kind an sie schmiegte.

Während der Nacht traten ähnliche Krampferscheinungen mehreremal ein, und erst gegen Morgen versank sie in einen schweren Schlaf, aus dem sie nicht früher erwachte, bis die helle Sonne ins Zimmer schien. Frau Grau, die noch neben ihr wachte, bemerkte zu ihrer Freude, daß die Augen des Mädchens den Ausdruck der Furcht verloren hatten, auch war ihr Verhalten ruhiger.

»Weshalb sitzest du hier?« war ihre erste Frage, dann flutete ihr die Erinnerung wieder zu, und sie flüsterte heiser:

»Ach, ich weiß – ich weiß, aber frage mich nicht. Niemand soll mich fragen. Ich kann dir nicht sagen, was, wer, ich kann nicht darüber sprechen,« schloß sie plötzlich, und ihre Augen schweiften unbehaglich durch das Zimmer, als ob sie fürchtete, etwas Gräßlich« zu sehen.

*

Genau, dasselbe wiederholte sich, als sie später am Tag hinunter ging und seitens aller Gäste herzlich begrüßt wurde. Bei der ersten leisen Frage nach dem Ereignis des gestrigen Tages wurde sie blaß, ihre Augen weiteten sich vor Bestürzung, und sie sagte schnell:

»Bitte – bitte, fragen Sie mich nichts – ich – kann nicht darüber sprechen. Fragen Sie mich nicht.«

Gegen Fritz Distelman drückte sie ihre Dankbarkeit schlicht und ruhig aus, aber auch ihm sagte sie nicht mehr. Sie konnte es eben nicht ertragen, über den Unglücksfall zu sprechen. Jedermann im Schlosse respektierte ihre Wünsche, und sie wurde von keinen Fragen behelligt.

Frau Grau, die auf alles, was sich auf ihre vielgeliebte Pflegetochter bezog, genau achtete, bemerkte indes, daß sich Malchen trotz der Rücksicht aller Gäste unbehaglich fühlte, und daß sie, in welchem Zimmer sie sich auch aufhielten, immer ruhelose Blicke umherschweifen ließ, als ob sie etwas oder jemand suche. Auch bemerkte sie, daß Malchen die Tür mit einem nervösen Blick beobachtete und stets zusammenfuhr, wenn sich eine Tür öffnete. Frau Grau konnte nicht entscheiden, ob der Eintritt einer Person Malchen angenehm berührte oder unangenehm war. Erst als sie sich am Abend zur Ruhe begab, erhielt die besorgte Frau die Aufklärung über Malchens Benehmen.

Malchen blieb noch an dem Toilettentisch von Frau Grau stehen, ehe sie sich in ihr anstoßendes Zimmer begab, und spielte zerstreut mit einigen Gegenständen, die sie hin und her rückte, so daß sich leicht erkennen ließ, daß ihre Gedanken anderweitig beschäftigt waren. Eine ganze Weile schwieg sie, dann sagte sie langsam, ohne Frau Grau anzublicken:

»Ich habe Frau Bendler heute abend nicht an der Tafel gesehen – ist sie – hat sie –«

»Sie ist fort,« antwortete die Aeltere, »sie reiste heute morgen ab, ehe du aufgestanden warst. Sie ist krank.«

»Krank?« Malchen wandte sich mit einer raschen Bewegung zu Frau Grau und ließ eine silberbeschlagene Bürste zur Erde fallen. »Krank? Was fehlt ihr denn?«

»Sie befand sich im Zustande höchst ungewöhnlicher hysterischer Erregung,« antwortete Frau Grau zögernd – »man könnte auch wohl sagen, daß ihr geistiges Gleichgewicht stark gestört schien.«

Um Malchens Lippen spielte ein sonderbares Lächeln; es lag aber keine Freude darin, sondern Sarkasmus, der sich fast zum Zorn steigerte.

»Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß ihr geistiges Gleichgewicht eine sehr ernstliche Störung erlitten hat, denn was sie gestern erlebte, kann jeden um den Verstand bringen.«

Frau Grau sah Malchen besorgt an, weil ihr das zornige Lächeln einen Ausdruck gab, der dem Mädchen so ganz unähnlich war.

»Weshalb sprichst du so, mein Liebling?« fragte sie sanft, trat an Malchen heran und legte den Arm um sie. »Glaubst du, daß Frau Bendler wirklich dadurch so erregt wurde, daß sie Zeugin des dich gestern betroffenen Unfalles war?«

Malchen stieß ein hartes Lachen aus.

»Ich glaube, daß sie durch das, was sich gestern ereignete, außer Fassung gebracht wurde – aber das war kein Unfall!«

Malchen war ganz blaß geworden. Ein Zittern erfaßte sie, sie machte sich aus der Umarmung von Frau Grau los und lehnte sich an den Ofen, den Kopf in die Hand gestützt.

»Kein Unfall?« Frau Grau war aufs tiefste bewegt. »Liebes Malchen, bedenke wohl, was du sagst, beschuldige niemand vorschnell eines – eines –«

»Eines zweiten Mordanschlages?« sagte das Mädchen zornig und hob das blasse Gesicht, um gerade in die sorgenvollen Augen ihrer Pflegemutter zu schauen.

»Malchen – mein liebes, liebes Kind,« stammelte die andere.

»Es ist wahr!« sagte Malchen in dem gleichen zornigen Ton. »Ich bin nicht phantastisch, ich erfinde keine Geschichten. Das ist das zweite Mal, daß Frau Bendler den Versuch gemacht hat, mich zu töten, aber ich denke nicht, daß sie das noch einmal tut.«

Sie zitterte jetzt heftig, daß Frau Grau sie in die Arme schloß und sie dann sanft nach dem großen Lehnsessel führte, wo sie neben ihr stehen blieb und ihr das Haar mit zärtlicher, beschwichtigender Hand streichelte.

»Sie wollte mich hinunterwerfen – in den gräßlichen Abgrund,« fuhr Malchen noch immer bebend fort – »sie wollte mich in das Wasser, das rauschte und brauste, hinunterwerfen, – o, wenn ich nur das Sausen vergessen könnte!«

Sie legte die Hände an ihre Ohren, als ob das Geräusch darin noch widerhallte: die Augen verloren den wütenden Ausdruck, der durch den der Furcht ersetzt wurde. Trotz der wohlgemeinten Bemühungen von Frau Grau, sie am Weitersprechen zu hindern, fuhr sie mit monotoner Stimme fort:

»Ich sehe noch immer die dunklen Mauern der scheußlichen Höhle vor mir, jedesmal, wenn ich die Augen schließe, glaube ich mich wieder dort zu befinden und mich an etwas anzuklammern, das mich davor bewahrte, hinunter in die Finsternis zu fallen. Ich glaube, es war ein langer starker Haken in der Mauer, der mich auffing. Ich weiß es nicht genau, ich erinnere mich nur, daß ich mich an einem Gegenstand festhielt und dadurch vor dem Hinabsinken in das tiefe Wasser gerettet wurde.«

»Aber, Liebste, so höre doch!«

Malchen beugte sich im Sessel nach vorn über und fuhr unbeirrt fort: »Es war kein Unglücksfall – kein Zufall. Als alle zur Treppe zurückgingen, blieb ich zufällig hinter den übrigen zurück, und neben mir stand plötzlich Frau Bendler, die ihre Hand ausstreckte und meinen Arm so fest anfaßte, daß es mir förmlich weh tat. Ihre Hand war ganz heiß, das konnte ich sogar durch den Aermel meines Kleides fühlen. Sie brachte ihr Gesicht dicht an das meinige, und ich sah, wie ihre Augen unheimlich glühten. »Malchen,« flüsterte sie mir heiser zu. »ich möchte mit Ihnen sprechen. Ich möchte Sie bitten, mir zu verzeihen.« Als sie stockte, als ob ihre Stimme bebte, empfand ich Mitleid mit ihr und glaubte, daß sie das aufrichtig bedauerte, was sie getan hatte. So blieb ich denn stehen, antwortete ihr freundlich und war gewillt, mich mit ihr auszusöhnen. Jetzt waren alle übrigen die Treppe hinaufgegangen, und niemand hatte wohl bemerkt, daß wir zurückgeblieben waren. Ich war so aufmerksam auf das, was Frau Bendler mir sagte, daß ich nicht merkte, daß die Tür am Fuße der Treppe geschlossen wurde.

Da, ehe ich noch ein Wort sprechen oder rufen konnte, packte sie mich plötzlich ganz fest am Arm, legte ihre andere Hand auf meinen Mund, daß ich fast erstickte, und zog mich rückwärts gegen die gräßliche Oeffnung.« Die Erinnerung daran überwältigte Malchen wieder, sie zitterte aufs neue, bis sie nach einer Pause erregt fortfuhr: »Wenn mir gestern morgen noch jemand gesagt hätte, daß Frau Bendler stärker sei als ich, so würde ich ihn ausgelacht haben. Aber in dem Verließ gestern nachmittag war ich so hilflos in ihren Händen wie ein kleines Kind. Sie schien plötzlich mit dämonischer Kraft ausgerüstet zu sein. Ich kann kein anderes Wort dafür finden. Das Licht im Verließ war sehr matt, doch konnte ich gerade noch den wütenden Blick in Frau Bendlers Augen erkennen. Das waren keine Frauenaugen mehr, solche Augen hat nur eine Bestie. O, sie waren gräßlich – gräßlich! Die ganze Sache muß einige Sekunden gedauert haben, aber mir schien es eine Ewigkeit, als ich den schwarzen Abgrund immer näher und näher gebracht wurde, bis zuletzt – zuletzt etwas unter meinen Füßen fortzugleiten schien – ich fiel.«

Ihre Stimme sank zum Flüsterton herab, sie schmiegte sich abermals an Frau Grau nach Kinderart an, und deren Arme schlangen sich zärtlich um sie, wobei sie ihr besänftigende Worte ins Ohr flüsterte.

Nach einer kleinen Pause hob Malchen wieder an: »Es schien mir, als ob ich immer tiefer glitt – glitt und für immer hinabglitt. Das Geräusch des Wassers da drunten kam mit jeder Sekunde näher, und der Gedanke an seine dunkle Tiefe machte mich vor Furcht fast wahnsinnig. Mein Hinabgleiten hörte plötzlich auf; ich fühlte, daß mich etwas auffing, mein Kleid festhielt, und ich streckte meine Hand aus und fand etwas, das ein eiserner Halm oder Ring sein mußte. O, wie fest, wie fest hielt ich mich daran! Ich glaube, davon waren meine Hände auch blutig. Und als ich mich da anklammerte, in der Finsternis schwebend, rief ich um Hilfe und rief – und rief. Einmal glaubte ich, eine Antwort zu hören, dann aber trat eine solche Ruhe ein, daß ich dachte, es würde nie, nie Hilfe kommen. Und in der fürchterlichen Stille hörte ich das Brüllen des Wassers unter mir, als wenn es meiner spotten wollte: »Ich warte auf dich – ich warte.« Und dann verlor ich alle Kenntnis von dem, wo ich mich befand und was geschehen war. Vielleicht war ich ohnmächtig geworden, ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an nichts mehr, bis ich in meinem Bette erwachte, dein liebes Gesicht sah und erkannte, gerettet zu sein.«

Auf Malchens Erzählung folgte ein langes, langes Stillschweigen; Frau Grau machte keine weitere Bemerkung zu dem, was sie gehört hatte. Sie streichelte nur liebkosend des Mädchens Haare und blickte ihr zärtlich in das blasse Gesicht, das noch die Spuren des Schreckens und der Seelenqualen zeigte, die es ausgestanden hatte.

Malchen sprach zuerst wieder und mit dem Lachen, das ihre Pflegemutter schon vorhin erschreckt hatte.

»Sie hat zum zweitenmal es versucht, mich zu ermorden. Aber dieses Mal werde ich sie nicht mehr schützen oder frei ausgehen lassen. Wenn mich jetzt noch jemand fragt, was sich gestern zugetragen hat, so werde ich die Wahrheit sagen.«

Während einer zweiten langen Pause blickte Frau Grau in Malchens Gesicht und bemerkte da zum erstenmal eine harte, ernste Miene, einen strengen, finsteren Ausdruck in den Augen. Sie schien unschlüssig, ob sie dem Mädchen eine Mitteilung machen sollte, und entschied sich endlich dafür.

»Ich glaube, mein Liebling, dir nach allem, was du mir erzählt hast, etwas sagen zu müssen.«

»Was ist das denn? Ist etwas Besonderes passiert? Ist Frau Bendler wirklich fort? Oder ist sie doch noch hier?«

»Nein, sie ist nicht mehr hier. Seit gestern nachmittag war sie schon nicht mehr bei Verstand, und heute in aller Früh ist sie aus dem Schlosse geschafft worden – sie ist tobsüchtig geworden.«


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