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»Wir müssen doch die Wahrheit schließlich herausbekommen«, sagte der Baron v. Cönnern mit ernster Entschiedenheit.
Frau Grau, die ihm in der Bibliothek auf Schloß Mainard gegenübersaß, nickte ihm zustimmend zu, doch es war Frau v. Cönnern, die antwortete:
»Ich werde auch nicht eher ruhen, bis ich genau weiß, wieso Fräulein Mühe der hübschen Ahne Richards so ähnlich sehen kann – es ist aber noch etwas anderes aufzuklären.«
»Und was ist das?« fragte Frau Grau.
»Er bezieht sich auf etwas, was die unglückliche Frau Bendler in ihren Rasereien in der Nacht nach dem Unglück im Schloßverließ gesagt hat. Es scheint mir auf eine Beziehung zwischen dem Unfall und Herrn Gottfried Haller hinzudeuten, dem Paten ihrer Pflegetochter, meine liebe Adele, und –«
»Wie kann denn der alte Herr Haller mit dem Unfall in Verbindung gebracht werden, er ist ja schon fast drei Jahre tot?«
»Ja, das weiß ich, aber in irgendeiner mir noch unverständlichen Weise hat Frau Bendler ihn doch mit dem, was sich im Verließ ereignete, in Zusammenhang gebracht. Ich saß während jener schrecklichen Nacht an ihrem Bette, und jedes Wort ihrer Phantasien ist mir in Erinnerung geblieben.«
»Was sagte sie denn?«
»Sie wiederholte fortwährend: »Ich habe meine Rache gekühlt, Gottfried, ich habe mich gerächt.« Und jedesmal, wenn sie an diese Stelle kam, lachte sie, und das Lachen ließ mir fast das Blut stocken.«
»Was hatte sie denn mit Haller zu schaffen?« fragte der Baron.
»Das kann ich dir nicht sagen. Sie muß aber immer aufs neue geglaubt haben, er sei neben ihr im Zimmer. Zuweilen streckte sie die Hand aus, als ob sie ihn willkommen heiße, und sagte: »Na, da bist du ja endlich, Gottfried.« Und dann kreischte sie wieder und befahl ihm, fortzugehen, sie in Ruhe zu lassen und ihr nicht mit seiner Rache zu drohen. Mitunter aber sagte sie auch sehr höhnisch: »Ich habe dich diesmal doch untergekriegt, Gottfried: sie ist tot – tot – tot.« Ihre Stimme sank alsdann wieder zum Murmeln herab, als sei sie erschöpft, und ich verstand nur einzelne Worte, wie – der Strom – die Felsen – Rache an Gottfried – Gottfrieds Pläne vereitelt.«
»Was du uns erzählst, liebe Helene, beweist, daß zwischen Herrn Haller und Frau Bendler allerdings Beziehungen bestanden haben müssen, aber das gibt uns doch nicht den geringsten Anhaltspunkt über die Aehnlichkeit zwischen Fräulein Mühe und dem Bild im blauen Zimmer.«
»Nein – es ist mir aber ganz so, als müßten die beiden Dinge etwas miteinander zu tun haben,« meinte Frau von Cönnern nachdenklich. »Ich habe zwar keine Gründe für diese Vermutung, sie entstammt lediglich einem weiblichen Kopf und ist somit ziemlich unlogisch. Immerhin liegt offenbar ein Geheimnis vor, das Frau Bendler, Herrn Haller und Fräulein Mühe umgibt und auch deine Diana Cönnern mit einschließt. Und das Geheimnis aufzuklären, soll unsere Aufgabe sein.«
»Ich werde sofort nach meiner Heimkehr den alten Christian Mühe aufsuchen«, meinte Frau Grau, »und wenn ich ihn nun einmal in seinen lichten Augenblicken treffe, werde ich ihn schon ausforschen.«
»Andere Mittel und Weg«, etwas über Fräulein Mühes Vorfahren herauszufinden, gibt es wohl nicht?«
»Nein, daß ich nicht wüßte, wenn nicht« – Frau Grau stockte – »wenn nicht Frau Bendler Kenntnis von Dingen hat, die wir nicht wissen. Ich fürchte jedoch, daß man sie nicht befragen kann.«
»Nein, wirklich nicht. Sie war, wie Sie wissen, vollständig tobsüchtig, als man sie von hier fortschaffte, und ich erfuhr heute morgen, daß ihr Zustand sich noch nicht geändert hat. Das schließt jede Möglichkeit aus, sie zu fragen.«
»Dann muß ich eben sehen, aus dem alten Christian alles herauszubekommen, vielleicht gibt Ihnen Ihre Familienchronik auch einen Aufschluß.«
»Vielleicht. Ich werde sie sorgfältig durchstöbern. Mich interessiert die Frage zu sehr, um sie ruhen zu lassen; sie muß gelöst werden.«
»Auch mich,« erklärte Frau Grau. »Und Christian Mühe soll mich häufig bei sich sehen, sobald wir heimkehren. Sie wissen,« wandte sie sich an die Baronin, »daß wir nicht mehr zu mir gehen, sondern zu Malchen, die das Herrenhaus als Besitzerin beziehen will.«
»Und was wird aus Ihrem eigenen schönen Heim?«
»Während unserer langen Reise hatte ich es vermietet, und die netten Leute, die dort wohnen, sollen auch noch ein halbes Jahr da bleiben. Malchen meint, das Herrenhaus müßte wieder geöffnet werden, und ich kann ihr darin nur beipflichten. Sie ist aber doch zu jung, um allein zu hausen, und behauptet niemand lieber bei sich zu haben, als mich.«
»Das überrascht mich nicht,« meinte die Schloßherrin in herzlichem Ton. »Es ist aber auch wieder ungemein gut von Ihnen, Ihr hübsches eigenes Heim noch länger zu entbehren, um mit Ihrem Malchen zusammen zu bleiben.«
»So besondere Güte steckt da gar nicht drin. Ich bleibe nicht mit ihr zusammen, weil ich das augenblicklich für meine Pflicht halte, sondern aus ganz selbstsüchtigen Gründen – sie ist mir so teuer und lieb geworden, daß ich nicht weiß, wie ich es ertragen soll, von ihr getrennt zu leben.«
»Sie ist ein liebenswürdiges und sehr anziehendes Geschöpf. Ich wundere mich sogar, daß Sie sie noch nicht verloren haben, meine liebe Adele. Es ist doch auch nicht wahrscheinlich, daß sie noch lange unverheiratet bleibt.«
»Ich habe mich schon oft glücklich geschätzt, sie zwei Jahre behalten zu haben, und daß sie noch immer Miranda Mühe heißt, ist sicherlich nicht deshalb, weil sie noch niemand gebeten hat, ihren Namen zu verändern. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Anträge sie im Laufe der letzten zehn Monate erhalten hat.«
»Es hat doch wohl niemand in ihrem früheren Leben ihr Herz gewonnen?« fragte die Baronin. »Irgend jemand aus ihrem Stande, den sie nicht zu vergessen vermag?«
»Das halte ich durchaus nicht für wahrscheinlich. Je länger ich mit Malchen zusammenlebe, desto schwerer finde ich es zu glauben, daß sie je etwas anderes war als die liebenswürdige, vornehme Dame, die sie jetzt ist, und ich frage mich oft, zu welchem Stande sie eigentlich gehört. Und doch weiß ich, daß sie einige Monate, ehe ich sie kennen lernte, das Mädchen für alles bei einer Zimmervermieterin vierten Ranges in der Hauptstadt gewesen ist und daß sie ein unglaublich schlechtes und fehlerhafter Deutsch gesprochen hat.«
*
Zu derselben Zeit, während sich die drei ihr so wohlwollenden älteren Personen mit ihr und ihrer Zukunft in der Bibliothek beschäftigten, erlebte Frau Graus »liebstes Malchen« im Schloßgarten eine jener Episoden, die sich ihr in letzter Zeit so unangenehm oft wiederholt hatten. Sie versuchte fortwährend jeden Antrag, den sie von weitem herandrohen sah, abzuwehren. Es gelang ihr auch bei ihrem Retter Distelman. Sie versuchte es stets in zartfühlendster Weise, den Eifer ihrer Verehrer zu hemmen, ehe dieser die gefürchtete Höhe erreichte, doch jeder zeigte eine fatale Hartnäckigkeit, sich kopfüber in sein Schicksal zu stürzen, statt sich daran hindern zu lassen, und Max Anstrut machte es in dieser Hinsicht nicht besser als seine vielen Vorgänger.
Es war ganz vergeblich, daß Malchen den Versuch machte, ihn kühl zu behandeln und ihm ganz deutlich zu zeigen, wie unbegründet seine Hoffnungen waren; mit einer eigensinnigen Blindheit und einer Beharrlichkeit konnte oder wollte er Malchen nicht verstehen. Und jetzt war der Augenblick, den sie gefürchtet und den hinauszuschieben sie ihr Bestes getan, doch gekommen, und der junge Anstrut stand neben der Sonnenuhr im Rosengarten und sah auf das zum Boden gesenkte Köpfchen des Mädchens.
Seine Rede war so stockend und so unzusammenhängend, und obgleich er sie doch zu Ende führte, wurde ihm ihre Zwecklosigkeit durch den mitleidigen Blick aus Malchens braunes Augen und ihren traurigen Mienen bald klar.
»Ich weiß, was Sie sagen wollen,« rief er verzweifelt nach Beendigung seiner stotternd« Rede. »Ich kann es Ihrem Gesicht ansehen, daß Sie mir Nein sagen wollen, aber bei Gott, Malchen – lassen Sie mich Sie dieses eine Mal so nennen – ich glaube doch nicht, daß irgend ein anderer Sie so lieb haben kann wie ich.«
»Ich will das gerne glauben,« antwortete sie, und ihre Augen blickten freundlich in des jungen Mannes verstörte Mienen, »und danke Ihnen für alles Schöne, was Sie über mich gesagt haben – aber –«
»Ach! Ich wußte, es würde ein Aber kommen. Ich ahnte, daß Sie mich abweisen würden, aber Sie sollen doch wissen – Sie dürfen nicht glauben, ich wollte Sie wegen ihres vielen Geldes heiraten! Daraus mache ich mir gar nichts. Ich wäre viel froher, Sie hätten keinen Heller, ich würde Sie deshalb noch mehr, noch tausend Mal mehr lieben.«
Malchens Lächeln flackerte, in ihren hellen Augen trübte es sich – die heißen Worte rührten sie, die jugendlich glühende Art, wie sie heraussprudelten, ging ihr zu Herzen.
»Ich bin vollkommen davon überzeugt, daß Sie nicht nach meinem Geld fragen. Ich weiß, daß Sie mich nur um meinetwillen lieben. Ich wollte, ich wollte, ich könnte Ihnen geben, was Sie verlangen. Ich wollte, ich könnte Ihnen ein Ja sagen, ich kann es aber nicht. Es wäre mir nur dann möglich, einen Mann zu heiraten, wenn ich ihn über alles in der Welt liebte, wenn ich fühlte, daß mir ohne ihn die ganze Welt leer erschiene.« Ein weicher Glanz trat plötzlich in ihre Augen, was Austritt nicht entging.
»Und Sie könnten das Gefühl für mich niemals hegen? Ach, natürlich nicht. Ich bin ein eitler Tor, das nur zu vermuten.«
»Nein – das sind Sie sicherlich nicht.« Malchen trat einen Schritt auf ihn zu und legte leise ihre Hand auf seinen Arm. »Sie müssen sich nicht beschimpfen. Sie sind so gut gegen mich gewesen, so rücksichtsvoll, daß ich doch wenigstens offen gegen Sie sein will.«
»Offen gegen mich?« Er sah, wie sie die Farbe wechselte, und auch den Glanz in ihren Augen bemerkte er wieder, als sie antwortete:
»Ja – ich will aufrichtig gegen Sie sein. Ich kann Sie nicht lieben – weil,« ihre Stimme sank – »weil ich einen anderen liebe.«
Nach diesen Worten trat ein langes Schweigen zwischen ihnen ein, und Anstrut glaubte das Klopfen seines eigenen Herzens hören zu können. Dann ergriff er ihre Hand, verbeugte sich und drückte seine Lippen sanft darauf.
»Ich danke Ihnen, daß Sie mir die Wahrheit gesagt haben. Es sieht Ihnen ganz ähnlich, so tapfer zu sein. Ich hoffe – ich hoffe. Sie werden sehr glücklich werden.«
Malchen hob ihr zu Boden gesenktes Gesicht, und die daraus entwichene Farbe überflutete ihr aufs neue Wangen und Stirn.
»Ich glaube nicht, daß ich in dem von Ihnen gedachten Sinne glücklich werde,« sagte sie. »Ich werde wohl niemals heiraten, aber – aber – obgleich ich den Mann wahrscheinlich nicht heiraten werde – den ich liebe – kann ich doch keinen anderen heiraten, und ich hielt es für richtiger. Ihnen die Wahrheit zu sagen.«
Trotzdem sie stark errötet war, blickte sie ihn mutig an, und eine unendliche Verehrung für sie flammte aus seinen Mienen.
»Ich danke Ihnen noch einmal für das, was Sie mir gesagt haben. Ich werde Sie stets für das tapferste und begehrenswerteste Mädchen halten.« Er beugte sich noch einmal herab, um ihre Hand zu küssen, und dann ließ er sie zwischen den Rosen allein.
Ihre Augen waren feucht von unvergossenen Tränen, und ihr Herz schlug schnell in Erinnerung an etwas, das in ihr aufstieg und sich nicht beiseite schieben ließ. Es war nur die Erinnerung an eine Lindenallee und an einen glatten grünen Rasen. an ein Mädchen mit Sonnenhut, in bedrucktem Kattunkleid und an einen Mann, der auf sie mit ernsten blauen Augen und einem hübschen energischen Gesicht hinunterblickte. Nur eine Erinnerung. Aber als sie endlich den Rosengarten verließ, flüsterte sie leise vor sich hin:
»Vielleicht kommt er niemals zurück, und selbst wenn er kommt, wird er sich nichts aus mir machen – aber ich – ich werde ihn bis an mein Lebensende lieben.«