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14. Kapitel.

»Und das hier ist das berüchtigte Schloßverließ.« Die Stimme des Barons v. Cönnern hallte unheimlich von den Steinmauern und dem gewölbten Dache des unseligen, schlecht erleuchteten Kerkers wider, in dem er mit seinen Gästen versammelt war, und seine Worte wurden mit einem Stillschweigen aufgenommen, das durch die trübe und niederdrückende Umgebung verursacht zu sein schien. Die Gesellschaft hatte die oberen Zellen, die über dem Erdboden lagen, besichtigt und war von diesen wenig einladenden stillen Orten über eine schmale, zum Teile eingebrochene Treppe in das unter der Erde befindliche Verließ gelangt, das in vergangenen Zeiten zum Sterbezimmer für manchen Feind des Cönnern'schen Geschlechts geworden war.

Das Tageslicht, das durch ein vergittertes Fenster kam, war sehr spärlich. Das Gitter lag ganz hoch in der Mauer, und war so dicht mit starken eisernen Stangen besetzt, daß kein menschliches Wesen, selbst wenn es an der glatten Mauer hätte hinaufzuklettern vermocht, sich durch die engen Vierecke hindurchzwängen konnte. Der steinerne Fußboden war rauh und durch Feuchtigkeit schlüpfrig; grüner Schlamm bedeckte die Mauern, und man hörte das Tropfen der herabrieselnden Feuchtigkeit von dem gewölbten Dache.

»Welch schrecklicher Ort!« wagte endlich jemand zu flüstern, und selbst dieses Flüstern klang unheimlich wie ein Echo von den Wänden wider, bis es sich in einen Seufzer verlor.

Fräulein Knopf flüsterte Frau Bendler zu:

»Ich kann mich nicht erinnern, an einem unheimlicheren Ort gewesen zu sein. Ich wollte, ich könnte da hinuntersehen und dann aber schnell von hier fortkommen.«

Sie erhielt keine Antwort und war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um das merkwürdig blasse und verzerrte Gesicht von Frau Bendler in der trüben Beleuchtung zu beachten, und sie vergaß in der nächsten Minute ihre Freundin auch vollständig über dem Eifer, das zu sehen, was Herr von Cönnern der Gesellschaft zeigte.

»Sie sehen, meine Herrschaften, daß wir die Oeffnung hier durch ein Geländer ringsherum geschützt haben, doch muß ich Sie trotzdem bitten, sehr vorsichtig zu sein. Der Boden ist schlüpfrig, an manchen Stellen abschüssig.«

Mit furchtsamen Schritten näherten sich die Gäste vorsichtig dem Platz, auf dem der Schloßherr stand, und guckten durch die Düsterkeit auf eine große runde Oeffnung in dem Boden, die mit einem eisernen Geländer umfriedet war. Der Baron hatte eine Laterne angesteckt und hielt sie nun über das Wasser.

Die Mündung der Höhle streckte sich vor den bebenden Blicken der Gäste weit aus, ihre dunklen Tiefen wurden durch das Laternenlicht noch schwärzer und grausiger, und ihre glatten Seitenwände, auf denen die Feuchtigkeit in schweren Tropfen lag, gaben den Worten des Schloßherrn eine nachdrückliche Bedeutung.

»Sie sehen, hier an den Mauern ist weder für Hand noch Fuß ein Stütz- oder Haltepunkt. Wer einmal in die Oeffnung hineingerät, kann nie wieder heraus. An nichts kann sich die Hand anklammern, nichts das tödliche Abrutschen und Versinken aufhalten. Das Opfer muß unbedingt gleich auf den Grund des Verließes in den Strom fallen, dessen Rauschen Sie von unten herauf hören können.«

Nachdem er zu Ende gesprochen, trat wieder ein langes Stillschweigen ein, während dessen sich alle anstrengten, das Geräusch des unterirdischen Stromes zu hören. Ja, man konnte das Rauschen jetzt deutlich vernehmen. Tief, tief unten mußte es sein, wo dieses Wasser schnell dahinfloß, und als in der nächsten lautlosen Stille das Rauschen immer klarer heraufklang, durchlief die ganze Gesellschaft ein nicht zu unterdrückendes Schaudern. Jeder zog sich von dem Geländer, das die gefährliche Stelle umschloß, möglichst weit zurück, und alle Augen wandten sich instinktiv von der dunklen Tiefe ab. Nein – nicht alle Augen. Frau Bendlers Blicke blieben auf die schlüpfrigen Seitenwände des Verließes geheftet: es schien, als ob es ihr eine Freude bereite, in die grausige Tiefe zu schauen, denn ein eigenartiges Lächeln ruhte auf ihren Zügen.

»Herr von Cönnern«, klang jetzt die lustige Stimme von Fritz Distelmann und gab der Spannung des Augenblickes eine willkommene Ablenkung, »es ist zwar von mir ein wenig unbescheiden, ich möchte aber bald behaupten, daß das Geländer gar keinen Schutz bietet.«

»Keinen Schutz?« fragte der Angeredete bestürzt.

»Nein, wirklich nicht, da Sie sagten, daß der Fußboden abschüssig ist. Wenn durch einen unglücklichen Zufall jemand auf dem Boden ausgleitet und hinstürzt, so ist die Eisenstange des Geländers viel zu hoch angebracht, um ihn davor zu bewahren, in die fatale Mündung hineinzurollen. Wenn ich mir einen Vorschlag gestatten darf, so würde ich für aufrechtstehende Eisenstangen sein, wie sie um das Denkmal auf dem inneren Schloßhofe angebracht sind.«

»Ich bin Ihnen für die Anregung sehr dankbar«, sagte der Baron in herzlicher Weise, »und werde ihr Folge leisten. Uebrigens wird das ganze Verließ stets verschlossen gehalten, außer mir kommt niemand hinein, nur bei Gelegenheiten wie heute, und ich habe stets geglaubt, daß es keiner größeren Vorsicht bedarf, als wie sie mein Großvater zur Anwendung brachte. Ich stimme Ihnen aber trotzdem zu, das Geländer wäre bei einem Unglücksfall nur von mäßigem Nutzen, und ich will es ändern lassen. Und nun, meine Damen und Herren, wenn Sie sich mit Grausen genügend versorgt haben, lassen Sie uns wieder hinaufgehen und an angenehmere Dinge als an Verließe mit unterirdischem, abgrundtiefem Wasser denken.«

Ein Murmeln herzlicher Zustimmung durchlief die Versammlung, und die Bewegung auf die Tür zu nahm fast die Form eines eiligen Rückzuges an. Ein hörbarer Seufzer der Erleichterung stieg von den Gästen aus, als sie langsam die beschädigte Treppe hinaufstiegen.

Fräulein Knopf meinte: »Ich freue mich, daß ich nicht mehr in die greuliche Tiefe zu sehen brauche. Sie auch, verehrte Frau Bendler?«

Die Frage blieb unbeantwortet, und als das Fräulein sich nach links wandte, wo sie Frau Bendler vermutete, entdeckte sie zu ihrer Ueberraschung, daß sie nicht neben ihr ging.

Fräulein Knopf sah noch einmal in die Dunkelheit nach unten zurück, bemerkte aber keine Spur von ihrer Freundin.

»Ich trage kein Verlangen, je solches Verließ oder ähnliche Schauerlichkeiten wiederzusehen,« sagte sie zu Frau Grau, nachdem sie die obere Tür gesichtet hatte, bei der der Baron stand, als ein heftiger Ausruf des Barons sie plötzlich zum Schweigen brachte.

»Wir – wir sind nicht alle hier,« rief er, seine Gäste überblickend. »Wo ist Frau Bendler – und – wo –«, er schwenkte seine Laterne in der Richtung nach der Treppe, dann in dem oberen Kerker umher, wo die Uebrigen standen –, »wo ist Fräulein Mühe? Ich sehe sie auch nicht hier.«

»Malchen?« Frau Grau rief den Namen voller Angst. »Sagen Sie, daß Malchen nicht hier wäre – und Frau Bendler – auch nicht – weshalb – wo –«

Ihre Worte unterbrach ein so furchtbarer Schreckensruf, der so entsetzlich, so bluterstarrend klang, daß sich die Gäste einen Augenblick ganz ratlos, wie von Angst gebannt, anstarrten, dann wandte sich der Schloßherr zur Treppe zurück und stürzte mit aschfahlem Gesicht und mit vor Schreck irren Augen hinunter.

Ehe er aber noch die letzte Stufe der schmalen Treppe erreicht hatte, wurde die Tür des unteren Verließes mit aller Heftigkeit aufgestoßen, eine Frauengestalt flog heraus und schrie in höchster Angst:

»Malchen – rettet sie – sie ist gestürzt – das Verließ – Malchen!«

Da der Schloßherr die Laterne hoch in der Luft hielt, konnten die bleichen, vor Schrecken erstarrten Gäste, die im Tageslicht am Kopf der Treppe sich zusammendrängten, erkennen, daß die Kreischende Frau Bendler war. Sie jagte nun blindlings die Treppe hinauf und zeigte so verzerrte Züge, daß alle vor ihr bebend zurückwichen, als sei sie wahnsinnig geworden.

Während Herr von Cönnern durch die Tür am Fuße der Treppe eilte, trat Frau Grau oben plötzlich einige Schritte vor und sperrte Frau Bendler in ihrer rasenden Flucht den Weg. So zierlich sie war, so lag doch eine gewaltige Kraft in dem Griff, mit dem sie Frau Bendlers Arm festhielt.

»Wo ist Malchen?« wiederholte sie. »Was haben Sie ihr getan?«

In der Aufregung des Augenblicks entging allen, nur Fritz Distelmann nicht, die sonderbare Wortstellung, die vielmehr eine Anschuldigung als eine Frage enthielt.

»Wo ist Malchen?« wiederholte sie, als Frau Bendler sie nur mit leeren, weit aufgerissenen Augen anstierte und sich aus ihren Händen zu befreien suchte. »Weshalb schreien Sie? Wo ist Malchen?«

»Malchen – Malchen!« Mit jedem Wort klang ihre Stimme schriller und glühten ihre Augen wilder. »Weshalb fragen Sie mich nach Malchen? Was habe ich mit ihr zu schaffen? Lassen Sie mich gehen!« Doch Frau Graus kleine Hände hielten sie fest, der ernste Blick ließ von dem blassen, qualvollen Gesicht der anderen nicht ab.

»Wo – ist – Malchen?« wiederholte sie abermals.

Jetzt richteten sich die starren Blicke plötzlich verständnisvoll auf Frau Grau.

»Malchen – das Verließ – ich weiß nicht!« kreischte Frau Bendler und riß sich dann aus den ihren Arm umklammernden Händen gewaltsam los. Sie floh aus dem oberen Kerker hinaus, man sah ihr erstaunt und angstvoll nach, aber niemand folgte ihr. Die Damen hatten sich in der namenlosen Furcht dicht zusammen gedrängt, während die Herren dem Baron gefolgt waren, dessen flackernde Laterne sichtbar wurde, als sie sich in der Dunkelheit des unteren Verließes hin und her bewegte.

Frau Grau schien die einzige zu sein, die ihre erschütterten Sinne zusammenhielt. Sie wandte sich an Stella, die nach Atem ringend, sich blaß wie der Tod an die Mauer lehnte.

»Gehen Sie Ihrer Mutter nach; sie ist offenbar krank und außer Fassung. Holen Sie Frau v. Cönnern herbei und sehen Sie zu, was Sie für Ihre Mutter tun kann.«

Die Baronin hatte sich den Gästen bei der Besichtigung des Brunnenverließes nicht angeschlossen, indem sie erklärte, den greulichen Ort schon genügend zu kennen. Stella folgte dankbaren Herzens der Weisung von Frau Grau, die Schloßherrin aufzusuchen und deren Beistand für ihre Mutter anzurufen. Die Worte und das Benehmen ihrer Mutter hatten Stella über alle Maßen erschreckt.

Nun wandte sich Frau Grau der Treppe zu, und ungeachtet der Einwände der Umstehenden ging sie schnell hinunter, wie es die Dunkelheit und die unsicheren Stufen nur eben zuließen. Aber als sie unten angelangt war, sah sie den Baron und mehrere Herren sich tief über das Geländer der Mündung des Verließes bücken.

Sie wagte kaum zu atmen, viel weniger noch ein Wort zu sprechen, die entsetzliche Angst drückte ihr das Herz ab, daß sein Pochen sie fast erstickte. Sie schlich sich über den Steinboden zu der schweigenden Gruppe der Herren, die in die Tiefe der dunklen Oeffnung schauten.

»Was ist's?« flüsterte sie endlich. Aber nicht einer der über das Geländer gebeugten Herren rührte sich bei dem Geräusch ihrer Stimme, nicht einer wandte sich bei den Schritten auf dem Steinboden um, offenbar strengten sie alle Sinne an, um etwas zu sehen, etwas zu hören, das in der furchtbaren Tiefe des Verließes verborgen war.

Frau Grau erbebte, als ob der eisigste Wintersturm sie umtoste, ihre Zähne klapperten vor Furcht, die selbst ihre zurückhaltende, so gut ausgeglichene Natur nicht einzudämmen vermochte, nur in ihren Augen lag die entsetzliche Frage, die ihre Zunge nicht zu stellen wagte.

Jetzt hatte sie sich der schweigenden, aufmerksamen Schar rings um das Geländer so weit genähert, daß sie ebenfalls, in den Abgrund hinunterblicken konnte. Ihre Augen sahen zuerst aber nichts weiter als die tiefste Finsternis, und sie hörte nur das dumpfe Murmeln des unterirdischen Stromes. Mehr an die Dunkelheit gewöhnt, stieß sie einen Ruf aus und berührte den Arm des ihr nächststehenden Herrn.

»Was ist das – da – tief unten – was sich gegen die schwarze Wand abhebt? Was – ist – das?«

Ihre Stimme erhob sich in einer bis zum Wahnsinn getriebenen Todesqual und versank in ein so ausdrucksvolles Schweigen, wie kein Wort es hätte tiefer ausdrücken können, als aus der dunklen, grausigen Höhlung, die vor ihnen klaffte, ein leiser, aber nicht mißzuverstehender Ruf ertönte:

»Hilfe – Hilfe!«


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