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2. Kapitel.

Der Anwalt Brand zögerte einige Sekunden, ehe er die Stufen zu dem Haus Nr. 144 Georgstraße hinaufschritt. Er besah sich das Haus, blickte dann in den schmalen, unter dem Straßenniveau liegenden und ausgemauerten Raum vor dem Kellergeschoß, nach welchem die Fenster der Küche hinausgingen, und sah dann wieder zu dem Haus hinauf. Der Eindruck, den das Ganze auf ihn machte, war keineswegs günstig. Das Haus stand in einer langen Reihe anderer schmutzig-grauer Häuser, und Nr. 144, vom Alter und Rauch dunkel geworden, mehrfach mit zerbrochenen Fensterscheiben, erschien noch monotoner und häßlicher als die übrigen.

In sein Notizbuch blickend, das er offen in der Hand hielt, sagte der Anwalt kopfschüttelnd: »Nr. 144 Georgstraße – ja, es ist doch die richtige Adresse. Weiß Gott, ich hätte nicht geglaubt, daß das Patenkind von Herrn Haller und die Erbin seines großen Vermögens hier hausen könnte. Wenn sie hier wirklich wohnt, wird es schwer sein, sich über ihre Person das richtige Urteil zu bilden.«

Er unterbrach sein Selbstgespräch, indem er langsam die Klingel zog, die in den unteren Räumen des Hauses scharf widerhallte. Mehrere Minuten verstrichen, aber niemand erschien auf das unharmonische Geräusch. Der verdrießliche Anwalt zog abermals die Klingel, deren erhöhtes, unangenehmes schier endloses Gellen ihm gewaltig auf die Nerven fiel. Nach einer geraumen Weile ließen sich dann endlich Schritte im Korridor vernehmen, die Haustür wurde einige Zoll breit geöffnet und ein zerzauster Rotkopf erschien in der Spalte.

»Wohnt Fräulein Miranda Mühe hier?«

Das lange Warten hatte den Fragenden sehr verdrossen, seine Stimme klang scharf und streng. Bei seinen Worten wurde aber die Tür plötzlich krampfartig geöffnet und enthüllte die ganze Gestalt, zu der das zerzauste Rothaar gehörte.

Es war ein Mädchen von vielleicht 17 Jahren, dem ganzen Eindruck nach: Mädchen für alles. Ein sehr schmächtiges Geschöpf, mit magerem und blassem Gesicht, das von einem flammenden Rothaar umgeben war, wie es der Anwalt in solch wunderbarer Farbe noch nicht gesehen hatte. Sein Blick blieb unwillkürlich an dem lockigen Gewirr haften, das wie ein farbiger Heiligenschein den Kopf des Mädchens umgab. Es drängte sich ihm auch die sonderbare Frage auf, wie eine Person auf dieser Lebensstufe zu einem solchen Haarreichtum komme. Die Gesichtszüge traten scharf hervor und trugen Spuren von Ueberarbeitung und Ermüdung; auch die eigenartigen rotbraunen Augen zeigten Müdigkeit, wenngleich jetzt in ihnen die Ueberraschung deutlichen Ausdruck fand.

Das Mädchen in dem rußgeschwärzten roten Rock blieb regungslos stehen und starrte den fremden Herrn an.

»Wohnt Fräulein Miranda Mühe hier?« wiederholte Brand in lauterem und herrischem Ton.

»Jawohl.«

»Ich möchte sie sprechen.« Der Anwalt sagte das noch eindringlicher, da er meinte, das Mädchen vor ihm sei etwas taub, weil es ihn so nichtssagend und ratlos anstarrte.

»Jawohl, das können Sie.«

»Wollen Sie nicht gefälligst zu ihr gehen und ihr sagen, daß ein Herr mit ihr zu sprechen wünscht? Sie wohnt doch hier?« Seine Geduld schwand allmählich durch die offenbare Dummheit des Mädchens, und der anhaltende starre Blick der rotbraunen Augen machte ihn etwas nervös. Ein leichtes Lächeln breitete sich über das schmutzige Gesicht.

»Ach, du lieber Gott, sie wohnt nicht! Wenn Sie Miranda Mühe sprechen wollen, dann legen Sie nur los. Ich höre.«

»Gott bewahre, Sie wollen – ich meine, Sie können – Sie sind doch nicht selbst Miranda Mühe?«

Zum erstenmal in seinem geordneten Dasein hatte Albert Brand das Gleichgewicht verloren und war zu verlegen und außer Fassung gebracht, um zusammenhängend sprechen zu können.

»Jawohl, ich bin Miranda Mühe. Was wollen Sie mir sagen, bitte?«

»Ich – ich – trete doch lieber ins Haus, um die Sache mit Ihnen zu besprechen,« entgegnete er rasch, von der Erscheinung und dem Benehmen des Mädchens immer mehr abgestoßen. »Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.

Er bedauerte, daß er sich durch seinen Eifer hatte hinreißen lassen, diesen Besuch zu machen, anstatt die junge Person in sein Büro beschieden zu haben.

Das schmierige Gesicht grinste noch einmal, dabei wurde aber eine Reihe starker, hübscher weißer Zähne sichtbar, und es wollte Brand auch scheinen, als ob die rotbraunen Augen beim Aufleuchten einen ganz eigenartigen Reiz besäßen.

»Wichtiges für mich? Na, das gibt es doch gar nicht!« Sie machte dabei die Tür etwas weiter auf und ließ den Anwalt in dem engen Korridor an sich vorübergehen.

In diesem Augenblick erhob sich eine kreischende Stimme von irgendwoher aus dem Erdgeschoß.

»Malchen, Malchen, komm herunter. Was fällt dir ein, so lange an der Haustür zu schwatzen?«

»Hier ist ein Herr« – das Mädchen für alles war an die obere Stufe der Küchentreppe getreten, um ihre Antwort hinunterzurufen – »ein Herr, der mich in wichtiger Sache zu sprechen hat.«

»Ich werde dich bewichtigen,« tönte es kreischend herauf, und einen Augenblick später erschien eine schlampig angezogene Frau, die Haare in Papierwickeln aufgesteckt, blickte mürrisch auf Brand und die Rothaarige und hob gegen diese eine drohende Hand, worauf sich das Mädchen von ihr forttrollte und lächelte.

»Was bedeutet das hier?« herrschte die Frau, doch der Zorn in ihrer Stimme schwand schnell, als ihr praktischer Blick den Anwalt maß und es ihr aufdämmerte, in dem Besuch wirklich einen Herrn vor sich zu haben.

»Wünschen Sie mich zu sprechen?« fragte sie, und dabei verwandelte sich ihre Stimme mit komischer Schnelligkeit aus dem schrillen Mißbehagen zu salbungsvoller Unterwürfigkeit. »Wollen Sie ein Zimmer mieten?«

Schon der Gedanke, in diesem schmierigen Haus eine Wohnung verlangen zu sollen, jagte dem Anwalt ein Frösteln über den Rücken.

»Nein, ich danke Ihnen. Ich wollte nur mit Fräulein Miranda Mühe sprechen und Ihr Mädchen sagt mir, daß sie so heißt.«

»Um Himmels willen, mach' doch die Tür zu, Malchen, und stehe nicht mit offenem Munde so blöde wie ein dreijähriges Kind da,« fuhr ihre Herrin sie an.

Miranda, genannt Malchen, die den Anwalt noch immer voller Verwunderung angestarrt hatte, schloß gehorsam die Tür. Sie ließ aber auch jetzt den Blick nicht von dem fremden Herrn, rollte eine Ecke ihrer Schürze verlegen zusammen und harrte der Dinge.

»Ja, ja, Herr, sie heißt Miranda Mühe, wir dachten aber, Malchen eigne sich besser für ihre Stellung und ist auch kürzer,« bestätigte die Hausfrau.

»Ohne Zweifel. Ich möchte die Angelegenheit nun so rasch als möglich erledigen und habe dazu einige Fragen an Fräulein – Fräulein Mühe zu richten. Könnten Sie mich nicht in ein Zimmer führen?«

Die Frau war ganz Aufregung und Geschäftigkeit, verbunden mit einem unangenehm aufdringlichen Wesen.

»Gewiß, gewiß, mein Herr, treten Sie gefälligst nur hier herein.« Sie öffnete eine Tür zur Rechten und wies den Anwalt in ein kleines Zimmer, das derart mit allerlei Möbeln vollgestellt war, daß ein Mensch kaum darin Platz hatte. Sie folgte dem Anwalt auf dem Fuß, und zuletzt kam das rothaarige Mädchen, ohne sich an die vernichtenden Blicke ihrer Herrin zu kehren.

»Vielleicht sagen Sie mir, was Sie vom Malchen zu wissen wünschen,« begann die Frau in geschmeidigem Ton. »Sie ist noch ein junges Ding, ich bin wie eine Mutter für sie gewesen. Die Arme ist Waise, ich habe ihr nach Kräften beigestanden und –«

Ein nicht mißzuverstehendes Lachen ertönte aus der Ecke, in der Miranda stand. Brand beeilte sich, der Szene ein Ende zu machen.

»Ich danke Ihnen, Frau –«

»Frau Mauring ... Herr – ich bin sicher, Malchen hätte es gern, wenn –«

»Ich danke Ihnen,« wiederholte der Anwalt. »Ich muß mit Fräulein Miranda Mühe selbst verhandeln, und ehe ich es tue, habe ich mich zu vergewissern, ob sie wirklich die von mir gesuchte Persönlichkeit ist.«

Ohne Frau Mauring Zeit zu einer Erwiderung zu lassen, wandte er sich an das Mädchen:

»Können Sie mir etwas von sich erzählen? Wissen Sie, wer Ihre Eltern waren, ob Sie einen Paten hatten und so weiter?«

Er hatte sich auf einen Stuhl niedergelassen, den ihm Frau Mauring aus dem Möbelgemengsel hingeschoben. Miranda stand ihm jetzt gegenüber.

»Vater und Mutter sind tot. Ich kann mich nicht mehr auf sie besinnen. Ich bin bei einer Tante erzogen. Sie war die Schwester von Mutter. Als ich dreizehn Jahre alt war, mußte ich in Dienst gehen. Ich mußte mir mein Brot selbst verdienen.«

Während sie diese abgerissenen Sätze in schlechtem Deutsch hervorbrachte, fiel dem Anwalt eine gewisse störrische Kraft in ihrem Ausdruck auf, und als sie schwieg, schloß sich der Mund in einer geraden festen Linie, die Entschlossenheit und Charakterstärke bekundete.

»Wo haben Ihre Eltern gelebt?«

»In der Lachenstraße, die dritte Ecke links,« antwortete sie schnell. »Sie waren aber nicht aus der Stadt, sie stammten vom Lande, aus Singenburg.«

Brand fuhr unwillkürlich zusammen. Wenn des Mädchens Eltern aus dem Dorfe waren, das zu Gottfried Hallers Besitz gehört, wurde es wahrscheinlicher, daß Miranda die Gesuchte sei.

»Sind Sie hier in der Stadt geboren?«

»Nein, ich bin aus Singenburg und der Gutsherr, er hieß Haller, war mein Pate.«

Ehe er weiter fragte, konnte er einen leichten Ausruf der Erregung nicht unterdrücken.

»Haben Sie ihren Paten einmal gesehen, seitdem Sie aus Singenburg fort sind?«

»Nur einmal. Vor einem halben Jahre war er mal hier. Er fragte mich nach meinem Alter und schenkte mir eine Bibel und zehn Mark.«

»Ja, nichts weiter,« warf Frau Mauring ein. »Ich fand das sehr schäbig von einem Herrn, dem man ansehen konnte, wie gut es ihm ging, wo ich gegen Malchen doch immer so nett gewesen bin.«

»Können Sie mir Herrn Haller beschreiben?« fragte Brand, ohne Frau Mauring weiter zu beachten, und blickte scharf in das blasse Gesicht des Mädchens.

»Es war ein komisch aussehender alter Herr. Klein, mit rotem Gesicht und nicht mehr Haaren auf dem Kopf, als ein kleines Kind. Seine Augen sahen einen immer so an, als ob er sich über einen lustig mache.«

Brands Gesicht zog sich in Falten. Diese Beschreibung paßte so genau auf seinen verstorbenen Klienten, daß er Arthur Darberg nur bedauern konnte. Je länger er sich in dem kleinen vollgepfropften Zimmer befand und das Mädchen in dem scheußlichen Rock ansah, desto mehr leuchtete ihm die Unmöglichkeit für Darberg ein, sich den Bedingungen des Testaments zu unterziehen.

»Hat Herr Haller damals gar nichts gesagt, woraus Sie schließen konnten, daß er Ihrem Fortkommen förderlich sein und Ihnen in Zukunft helfen wollte?«

Miranda schüttelte ihren roten Kopf heftig.

»Ach nein, er hat gar nichts über die Zukunft gesprochen. Er sagte nur: »Lies in deiner Bibel, sei ein gutes Mädchen, und versuche, vorwärts zu kommen in der Welt. Ich kann in deinem Gesicht sehen, daß das Zeug dazu in dir steckt.« Ja, das hat er gesagt: ich soll vorwärts kommen in der Welt, und das will ich auch tun, ganz gewiß.« Ein trotziger Blick auf ihre Herrin blitzte aus den Augen.

Der Ausdruck ungeheuerer Ueberraschung, der Brand zuerst aufgefallen, war verschwunden, auch ihre Bestürzung und ihr Schrecken waren völlig gewichen, in jedem Wort und Blick trat eine unverkennbare Willenskraft zutage.

»Das war ein guter Rat,« meinte er, »aber jetzt habe ich Ihnen eine sehr wichtige Mitteilung zu machen, Miranda. Wenn sich Ihre Angaben als zutreffend erweisen, woran ich nicht zweifle, und Sie wirklich Herrn Hallers Patenkind sind, dann werden Sie finden, daß er Sie nicht vergessen hat. Im Gegenteil, er hat Sie in sehr großherziger Weise bedacht.«

»Er ist doch nicht gestorben?«

»Ja, er ist tot und hat Sie in seinem Testament erwähnt.«

»Großer Gott,« rief Miranda, und Frau Mauring sekundierte:

»Ach, du meine Güte, solch ein Glück, das Kind!« und fragte dann: »Hat er Miranda ein kleines Legat vermacht?«

»Er hat ihr ein Legat vermacht, und ich möchte es nicht klein nennen,« erwiderte Brand, der sich an der Freude weidete, ganz trocken. »Es wird ihr sicherlich bei dem Vorwärtskommen, von dem sie sprach, gute Dienste leisten.«

»Großer Gott!« sagten sie nun beide, die den Sinn seiner Worte nur halb verstanden, aber doch ahnten und Brand, der den Wortschwall von Frau Mauring fürchtete, beeilte sich fortzufahren:

»Ich kann Ihnen erst Näheres mitteilen, sobald ich Ihre Angaben geprüft habe, Miranda. Darüber werden wohl einige Tage vergehen. Besuchen Sie mich Donnerstag morgen in meinem Bureau; hier ist meine Adresse.«

Er reichte seine Karte dem Mädchen, ehe es Frau Mauring gelungen war, sich derselben zu bemächtigen.

»Sie wird kommen,« rief die Hausfrau voll Eifer, »und ich würde gern mitkommen, wenn ich nur könnte. Aber ich kann das Haus doch nicht allein lassen, wenn Malchen, ich meine Miranda, fortgeht.«

»Richtig,« entgegnete Brand vergnügt, weil ihm dadurch so leicht das Wiedersehen mit Frau Mauring erspart blieb. »Sie können beide nicht zusammen fort, also erlauben Sie, daß Miranda Donnerstag morgens um 11 Uhr zu mir kommt.«

Miranda sah ihn schüchtern an, als er sich zum Fortgehen bereit machte.

»Es war sehr gütig von Ihnen, sich selbst zu mir zu bemühen,« erklärte sie mit Anstrengung, äußerst höflich zu erscheinen. »Was ich Ihnen gesagt habe, ist so wahr wie ein Bibelwort.«

»Das ist ja eine nette Bescherung,« dachte der Anwalt, als ihn sein Auto heimwärtsfuhr. »Die dümmste Geschichte, die ich je erlebt habe. Zwei Millionen Mark einem dummen, schmutzigen, unerzogenen Dienstmädchen an den Kopf zu werfen – armer Darberg!«

*

Kein Lichtstrahl erhellte des Anwalts trübe Gedanken während der beiden Tage, die ihn die Nachforschungen in Sachen Haller-Mühe kosteten. Brand stellte fest, daß sich jedes Wort, das Miranda ihm gesagt, als wahr erwies, und somit lag ihm als Sachwalter des Testators Gottfried Haller die Pflicht ob, das große Vermögen den Händen einer Siebzehnjährigen zu übergeben, deren höchster jährlicher Lohn knapp 250 Mark betrug und deren kühnster Ehrgeiz sich wohl zu der Stellung einer Köchin in einem vornehmen Hause verstiegen hatte.

Wie gern wünschte Brand, daß Darberg den kleinsten Vorwand finden möchte, das Testament auf Grund einer Unzurechnungsfähigkeit Hallers anzufechten, aber er sagte sich, es sei nur weggeworfenes Geld, denn Haller war bis zu dem letzten Augenblick ganz klar bei Verstand gewesen. Das Testament war einfach eine Schrulle, eine Laune: Haller mußte sich eine lächerliche Idee in den Kopf gesetzt haben, sonst hätte ihm niemals einfallen können, das bedeutende Kapital ganz in den Besitz eines solchen Mädchens zu bringen oder vorauszusetzen, Darberg würde ein solches Mädchen heiraten. Widersinnig! Hatte der junge Mann ihn in irgend einer Weise beleidigt? fragte sich Brand. Oder hat die Familie Mühe Ansprüche an den alten Herrn gehabt?

Das waren die Gedanken, mit denen sich der Anwalt beschäftigte, als er an dem Donnerstagmorgen in seinem Bureau auf Miranda wartete und ihm nun »Fräulein Miranda Mühe« gemeldet wurde. Als sie nun vor ihm stand, glaubte er doch, sein ungünstiges Urteil über sie etwas einschränken zu müssen.

Die Kleidung Mirandas ließ alles zu wünschen übrig. Ihr Rock war sehr lang, ihr Jackett viel zu groß und hing ganz komisch um ihre schmale Gestalt; der Hut mußte einst bessere Tage gesehen haben und war vielleicht ganz modern, als Madame Noah die Arche verließ. An den Füßen hatte sie geradezu Ungeheuer von dicken, viel zu großen Schuhen. Und trotz dieses unglaublichen Kostüms machte Miranda, deren Gesicht von dem Gebrauch von Seife und Wasser glänzte und deren Augen munter in die Welt blickten, einen guten Eindruck.

Er schob Miranda einen Stuhl hin und sagte:

»Guten Morgen, Fräulein Mühe, bitte setzen Sie sich, wir wollen die Angelegenheit in Ruhe besprechen.«

Die Anrede ließ sie aufblicken: ein schwaches Lächeln umschwebte ihren Mund. Sie erwiderte nichts und setzte sich auf den ihr angewiesenen Stuhl.

»Ich habe die nötigen Erkundigungen eingezogen und hege keinen Zweifel mehr, daß Sie die in dem Testament von Gottfried Haller genannte Miranda Mühe sind, das Patenkind des Erblassers. Die Eröffnung, die ich Ihnen mit Bezug auf dieses Testament zu machen habe, wird eine große Ueberraschung für Sie sein. Wie ich festgestellt habe, kannte Herr Haller Ihre Eltern von ihrer frühesten Jugend an, sie waren beide aus Singenburg und standen auch nach ihrer Verheiratung und Ihrer Geburt zum Gutsherrn in Beziehung. Bald nach Ihrer Geburt zogen Ihre Eltern hierher, und Herr Haller verlor sie aus dem Gesicht. Erst vor einigen Monaten, also gar nicht lange vor seinem Tode, ließ er ihren Aufenthalt ermitteln und besuchte Sie dann in Ihrer jetzigen Stellung. Zwei Tage darauf machte er sein Testament, durch das er Ihnen sein ganzes Vermögen, abgesehen von einigen kleinen Legaten, unter gewissen Bedingungen vererbte.«

Miranda errötete lebhaft. Mit einer impulsiven Bewegung stieß sie ihren Hut aus der Stirn und beugte sich vornüber.

»Ist das viel Geld?«

»Ein sehr, großer Betrag, mehr als Sie ahnen,« entgegnete Brand in freundlicherem Tone, als er bisher mit ihr gesprochen hatte. »Das Ihnen zufallende Kapital beläuft sich auf etwa zwei Millionen Mark und dazu kommt noch der Besitz in Singenburg.«

In ihre Augen trat ein sonderbares Leuchten, ihr Atem stockte.

»Ein Landbesitz? Ach wie schön!« Offenbar hierüber mehr erfreut, als über das viele Geld. »Das habe ich mir nie träumen lassen. Ich bin so gern auf dem Lande.« Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde noch fröhlicher.

»Sie können jetzt so viel aufs Land gehen, wie Sie nur wollen,« sagte Brand und freute sich unwillkürlich beim Anblick der Freude, die auf dem sommersprossigen Gesicht lag. »Sie können auch dort so lange bleiben, wie es Ihnen beliebt, und sich das ganze Leben nach Ihren Wünschen gestalten. Das Herrenhaus in Singenburg ist wundervoll.«

»Hat es wohl acht Zimmer, wie das von meiner Herrin, Wohnzimmer und Eßzimmer, jedes für sich?« fragte sie mit weit geöffneten Augen.

Brands Lächeln wurde mit jedem Augenblick freundlicher und väterlicher.

»Das Singenburger Herrenhaus hat viel mehr als acht Zimmer. Es ist ein sehr großes Haus, und Sie sind ein sehr reiches Mädchen.«

»Das ist doch eine gelungene Geschichte,« platzte sie heraus. »Ich habe gerade dreißig Pfennig in der Tasche, die Frau gab mir das Fahrgeld, meinen Lohn kriege ich erst in vierzehn Tagen.«

»Sie brauchen sich für die Folge wegen des Fahrgeldes auf der elektrischen Bahn weiter keine Sorgen zu machen.«

Das Benehmen des Mädchens, das so sanft und angenehm lachte, die Einfachheit und Offenheit gefielen dem Anwalt. Der Blick aus ihren braunen Augen erinnerte an die Treue eines Hundes, und er sah es gern, wie zierlich sie den Mund schloß, wenn sie zu sprechen aufhörte. »Sie können fortan Ihren eigenen Wagen haben.«

»Ich und Wagen fahren? Ach, mein Gott, das habe ich ja noch nie getan. Werden die Leute nicht gucken?« Der Gedanke ließ sie den Kopf zurückwerfen und wieder in das harmonisch klingende Lachen ausbrechen.

»Ich erwähnte bereits, daß an die Erbschaft einige Bedingungen geknüpft sind, und möchte sie Ihnen jetzt deutlich machen.«

»Gewiß, ich werde Ihnen aufmerksam zuhören und versuchen, alles zu verstehen. Ich bin nicht gar so dumm, obgleich mir die Erziehung fehlt, die ich gern gehabt hätte.«

Ihre anfängliche Scheu vor Brand hatte sie gänzlich überwunden. Sie redete ihn jetzt mit der gleichen Unbefangenheit an, wie sie mit dem Bäcker und Milchmann zu sprechen pflegte.

»Zunächst muß ich Ihnen sagen, daß das Ihnen vermachte Geld ursprünglich einem Herrn Arthur Darberg zufallen sollte, einem anderen Patenkind von Herrn Haller, und erst in den letzten sechs Monaten hat Herr Haller sein erstes Testament umgestoßen und Darberg zu Ihren Gunsten enterbt.«

»Das ist doch für den jungen Mann aber recht hart.«

»Von Herrn Darbergs Standpunkt aus sicherlich sehr hart, obgleich Herr Haller vielleicht gute Gründe gehabt haben mag, die Aenderung zu treffen; mir sind die Gründe allerdings unbekannt. Wenn es nun auch den Anschein hat, als ob Herr Darberg sehr schlecht behandelt worden ist, so bleibt doch noch eine Möglichkeit, wie er wenigstens einen Teil des Geldes für sich retten kann. Das Ganze gehört Ihnen unter der Bedingung, daß Sie entweder drei Jahre lang unverheiratet bleiben oder Herrn Darberg zum Mann nehmen. Falls Sie in den nächsten drei Jahren jemand anders als Herrn Darberg heiraten, so büßen Sie dadurch das Geld ein, das dann Herrn Darberg zufällt. Verstehen Sie das?«

»O, sehr gut! Das ist ein komisches Testament. Ich glaube, Herrn Darberg könnte es passen, wenn ich mich recht schnell verheiratete. Aber das werde ich schön bleiben lassen. Wenn der alte Herr mir das Geld vermachte, so wird er doch wohl auch die Absicht gehabt haben, daß ich es behalte. Und ich will es Ihnen nur sagen – ich will vorwärts kommen, wie er es mir gesagt hat.«

»Eine sehr richtige Ansicht«, meinte Brand, der ebenso erstaunt wie amüsiert war, und dessen Interesse an seiner neuen Klientin sprungweise zunahm. »Vielleicht wünschen Sie Herrn Darberg zu sprechen und sich mit ihm in irgendeiner Weise zu verständigen?«

»Ich habe nichts dagegen. Er wird sich über das Testament, über mich und alles übrige nicht besonders freuen, der arme Herr. Es ist nicht sehr hübsch, wenn man einen großen Topf Geld erwartet und dann sieht, wie ihn ein anderer bekommt. Wie soll ich mich aber mit ihm verständigen? Ein Mädchen wie mich zu heiraten, dazu wird er sich nicht leicht entschließen können, wenn er an Damen gewöhnt ist. Ich will aber vorwärts kommen, viel lernen und selbst eine Dame werden, und wenn ich erst ein bißchen weiter bin, kann man ja nicht wissen, wie dann der arme Mensch denkt. Vielleicht will er mich dann am Ende haben –« und sie kicherte vergnügt.

»Sie denken an die Erfüllung dieser Bedingung?«

»Aber natürlich!« Sie sah ihn offen und überrascht an. »Ich werde doch den jungen Mann nicht um all sein Geld und Gut bringen wollen, und ich habe auch nicht die geringste Absicht, eine alte Jungfer zu werden, beileibe nicht. Es ist aber ganz undenkbar, daß ich in den nächsten drei Jahren einen anderen heirate und mein Geld im Stich lasse; nein, das tue ich bestimmt nicht, so wahr ich Miranda Mühe heiße, und das hat mein Pate auch nicht gemeint. Wenn die drei Jahre vorüber sind, kann ich doch machen, was ich will?«

»Was Sie wollen!«

»Das würde dann aber Herrn Darberg in die Patsche setzen?«

»Herrn Darberg bliebe dann nichts außer seinem kleinen Legat von 2000 Mark jährlich.«

»Sie haben mir das alles sehr schön erklärt. Ich gehe jetzt nach Haus, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich muß mir vieles überlegen, denn man erbt doch nicht jeden Tag so viel Geld. Und wenn ich mir erst alles überlegt habe, wäre es vielleicht angebracht, den Herrn zu sprechen, der durch mich ums Geld gekommen ist.«

»Sehr schön.« Brand hatte sich unwillkürlich auch erhoben, als sie aufgestanden war, und er sann darüber nach, durch welche Laune der Natur dieses kleine rothaarige Aschenbrödel mit einer solchen angeborenen Willenskraft und Charakterstärke ausgestattet sein konnte. »Wenn Sie sich die Dinge zurechtgelegt haben, müssen wir uns die Frage betreffs einer Gesellschafterin für Sie überlegen und betreffs – Ihrer – Ihrer Erziehung, die Ihrer nunmehrigen Stellung entspricht.«

»Das ist richtig.« Sie nickte fröhlich mit dem Kopf. »Ich muß vorwärts kommen, weiß Gott. Wir müssen jemand finden, der mich lehrt, wie ich eine Dame werde, und zu dem armen Menschen passe, der enterbt ist. Hat er den alten Herrn nicht vielleicht beleidigt?« fragte sie plötzlich und sah den Anwalt ganz verschmitzt an.

»Er mag vielleicht etwas getan haben, was dem alten Herrn mißfiel, obgleich ich mir gar nicht denken kann, was das gewesen sein soll,« entgegnete Brand mit einiger Zurückhaltung. »Arthur Darberg ist ein ehrenhafter Charakter im besten Sinn des Wortes.«

»Ah, das ist famos, nicht wahr? Aber wer weiß, was so einen alten Herrn verdrießlich machen kann? Vielleicht hat Herr Darberg ein Mädchen gern, das Herrn Haller nicht gefiel?«

Wieder suchten die sonderbaren Augen mit den goldenen Lichtern und dem klugen durchdringenden Blick des Anwalts Augen zu begegnen, der sich auf dem Gedanken ertappte, woher wohl diese Weltweisheit einem Mädchen aus dem Volk kommen mochte, das kaum 17 Jahre zählte.

»Man kann so ein Mädchen ja nie auskennen,« fuhr Miranda fort. »Und wenn es so ist, muß es ihn entweder aufgeben, oder ich muß es ausstechen.«

Der Anwalt gab sehr zögernd zu, daß es so ungefähr kommen könne.

Miranda reichte ihm die Hand mit dem vollen aufblitzenden Lachen, das ihr Gesicht gänzlich verwandelte.

»Ich gehe jetzt also und werde nachdenken, was ich am besten tue. Meistenteils führe ich das aus, was ich mir vorgenommen habe. Ich bin noch jung und ohne Erziehung, aber durchgesetzt habe ich doch noch, wozu ich einmal entschlossen war.«


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