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8. Kapitel.

»Bis jetzt habe ich noch nicht darüber nachgedacht, wie es wohl im Himmel aussehen mag, aber heute bin ich ziemlich sicher, es muß ungefähr so ähnlich sein wie das hier.«

Malchen Mühe stand auf der Terrasse ihres Herrenhauses in Singenburg und überblickte den Garten, ihre Augen schwelgten vor Freude.

»Ich habe nie geahnt, daß es auf dem Land so schön ist,« rief sie nach einer Pause und seufzte vor reinem Entzücken. Dann verfiel sie wieder in Schweigen während ihre Blicke über die herrliche Aussicht schweiften.

Der Rasen, der sich von der Terrasse herabsenkte, war von jener samtartigen Weichheit, wie sie sich nur bei sehr altem und sehr gepflegtem Boden findet, und wurde von Beeten umrahmt, die den begeisterten Augen der Großstädterin als eine ungeheure Blumenmasse erschienen. Herr Haller hatte stets der Art von Gärtnerei widersprochen, die im Pflanzen regelrechter Reihen von Geranien, Lobelien und Pantoffelblumen, umgrenzt von Fieberkraut, ihre Hauptaufgabe erblickt, und trotz aller Einwendungen seines auf alte Tradition haltenden Gärtners darauf bestanden, die Beete mit krautartigen Pflanzen zu füllen, mit den Schätzen der Heimat, vor allem mit Rosen. Die Einfassungen, auf die Malchen so entzückt sah, zeigten eine volle und doch geregelte Blütenpracht. Großer Rittersporn, dunkel- und hellblau, rosig und weiß, stand zwischen Lupinen mit Glockenblumen und Malven. Hier und dort gaben Ringelblumen goldgelbe Felder, und weiße Lilien standen stattlich und groß im Hintergrund. Vor dem Geländer, gegen das sich die junge Herrin all dieser Schönheiten lehnte, wuchsen in üppigen Reihen Nelken aller Schattierungen, und Wellen von Duft stiegen, von den sanften Juniwinden gehoben, empor.

An dem Steingemäuer der Brüstung selbst rankten sich Rosen, Klematis und sternenheller Jasmin in üppiger Verschlingung hinauf, und weiter entfernt auf dem Rasen strahlten große Rosenbeete im sommerlichen Sonnenschein.

»Ich kann es gar nicht begreifen, weshalb die Menschen das Verlangen hegen, in großen Städten zu wohnen, wenn sie doch an solchen Orten leben könnten,« fuhr sie fort, nachdem sie eine ganze Weile sich schweigend ergötzt hatte; »es ist jammerschade, daß wir nicht hier bleiben und uns freuen können, statt uns in Straßen einzuzwängen.« Ihre Augen wandten sich von dem Garten zu Frau Bendler, die auf einem niedrigen Stuhl im Schatten wenig Schritte von ihrer Schutzbefohlenen saß, die Stirn kraus gezogen und einen bestickten Sonnenschirm in der Hand, der sie vor den Sonnenstrahlen schützen sollte, die gar nicht bis zu ihr reichten.

»Sie reden in den Tag hinein,« sagte sie gemessen und viel kühler, als sie sich für gewöhnlich mit dem reichen Fräulein Mühe zu sprechen erlaubte, »wenn Sie eine Frau von Welt werden und sich wie andere Menschen benehmen wollen, so müssen Sie eben in der Welt und mit Menschen zusammen leben. Es wäre der reinste Unsinn, zu glauben, daß es für Sie Zweck hätte, sich hier zu verbergen.« Ihre Augenbrauen zogen sich dicht zusammen, und ihr Ausdruck hätte mit giftig bezeichnet werden können.

Malchen bemerkte nichts davon.

Sie hatte sich schon wieder in eifriges Anschauen des Gartens versenkt, und außer einem leichten Erstaunen über die Erregbarkeit ihrer Begleiterin nahm sie von deren unangemessenen Ausdrücken kaum Notiz.

»Ich werde mich dem, was Sie und Herr Brand bestimmen, nicht widersetzen, da ich weiß, daß Sie beide Ihr Bestes für mich tun, und ich bin Ihnen auch sicherlich dankbar dafür. Aber doch! Ich komme mir hier vor, als sei ich direkt ins Paradies verpflanzt.«

»Es freut mich, daß Sie von Ihrem Besuch hier befriedigt sind.« Frau Bendler sprach noch herbe. Es war für sie alles andere als ein Vergnügen gewesen, Malchen mitten in der Hochflut gesellschaftlichen Treibens nach Singenburg begleiten zu müssen, und nur aus Furcht, Malchen und Malchens hohes Pensionsgeld zu verlieren, wenn sie den dringenden Wünschen des Mädchens, ihr Landgut zu sehen, noch weiteren Widerstand leistete, hatte sie sich die Reise auferlegt. Man war übereingekommen, daß der Aufenthalt wenige Tage dauern sollte. Malchens Entzücken über alles Schöne verdroß Frau Bendler, während sich Stella darüber amüsierte. Malchen bereitete jeder neue Augenblick neue Offenbarungen und wunderbar frische Eindrücke, und es ergriff sie das starke Verlangen, an diesem schönen Ort zu bleiben und eine Zeitlang wenigstens die Unbequemlichkeiten zu vergessen, die mit dem Damewerden verknüpft waren, hier ein Dasein zu führen, das ihr völlig fremd war und ihr doch zu gleicher Zeit so außerordentlich zusagte.

Auf Frau Bendlers letzte Worte entgegnete sie sanft:

»Das will ich meinen! Ich bin mehr als befriedigt, hier zu sein. Ich wollte nur, ich könnte länger bleiben. Die Zeit ist ja zu kurz, um alles auf sich wirken zu lassen.«

»Ach, du meine Güte,« sagte Stella dicht hinter ihr und begleitete ihre Worte mit einem nachdrücklichen Gähnen. »Ich kann das dumme Land in fünf Minuten erfassen: ein Garten, ein Gehölz, ein schmutziger Weg, ein Junge mit einem Pflug, diese vier immer wiederholt, dazwischen Kühe und Schafe – und ach! wie bald hat man das satt!«

»Es ist doch ganz anders, wenn man die Dinge noch gar nicht kennt,« meinte Malchen mit sehnsüchtigen Blicken, »mir ist, als käme ich nie zu Ende damit. Mir vergeht der Atem! Du bist daran gewöhnt und wirst in fünf Minuten müde davon. Aber es gibt trotzdem noch vieles, das dir gut gefällt.«

»Es würde mir auf dem Land nie gut gefallen,« sagte Stella und gähnte wieder. »Und wenn mir das hier gehörte, würde ich es einfach verpachten oder verkaufen, aber nicht wieder herkommen.«

Frau Bendler hob den Kopf mit schneller Bewegung und sah in ihrer Tochter schönes, ausdrucksloses Gesicht, und ein schnelles Erinnern raste ihr durch den Sinn, daß Stella unter gewissen Bedingungen doch Herrin dieses Gutes sein könnte. Wenn – wenn – Malchen – durch irgendeinen Zufall – früh sterben und Arthur den Besitz antreten würde – und Arthur und Stella –

Sie konnte in diesem Augenblick nicht mehr sitzen bleiben. Sie stand auf, ihr Stuhl knirschte laut auf dem Kies der Terrasse. Ihre eigenen Gedanken hatten zuweilen die Kraft, ihr Angst einzujagen, das taten sie auch eben jetzt.

»Rede keinen Unsinn, Stella,« sagte sie. Ihre Stimme klang abermals ärgerlich, der Verdruß entsprang ihrer Nervosität. »Du wirst wahrscheinlich niemals ein solches Gut besitzen, würde das aber der Fall sein, so wäre es sehr wahrscheinlich, daß du mit Freuden einen Teil des Jahres dort zubrächtest.«

Stella sperrte die Augen auf und beobachtete ihre Mutter, die mit eiligen, ungleichmäßigen Schritten auf der Terrasse hin und her ging.

»Ich ziehe die Großstadt vor,« sagte sie mit ruhiger Hartnäckigkeit, »und wenn ich dort nicht sein kann, so ist mir das Reisen im Ausland das liebste. Wir müßten doch mit Malchen eigentlich auch Reisen machen, Mutter?«

»Reisen – mit Malchen – ins Ausland?« Frau Bendler zuckte zusammen, ihre Gedanken waren wieder weit gewandert, und Stellas Worte hatten sie erschreckt. »Ins Ausland? Gewiß, wir werden mit Malchen große Reisen machen – sie wird sich sehr gut amüsieren.«

Sie schloß mit einem nervösen Lachen, denn sie hatte sich vorgestellt, wie Stella sich ausnehmen würde – wenn sie die Herrin des großen Hauses sein würde – und ob – es war natürlich eine merkwürdige Idee – und ob Malchen – wohl auf dem kleinen Kirchhof hier bestattet würde – wenn – wenn sie jung stürbe.

Wiederum fuhr sie erschreckt zusammen, als Malchen eine unwichtige Bemerkung machte, und ihr Spaziergang auf der Terrasse nahm ein plötzliches Ende, als Malchen von dem Geländer zurücktrat und Arm in Arm mit Stella die Richtung nach dem Herrenhause einschlug.

Frau Bendlers Blicke folgten den beiden Gestalten und sie fühlte sich im Herzen immer wieder und wieder sagen:

»Natürlich, sie sieht wirklich nicht so aus, als ob es bald ans Sterben ginge – aber – das Leben ist doch unsicher – das sagt man ja immer.«

Sie pflückte ganz mechanisch eine Monatsrose vom Stamm und zog dann ein Blatt nach dem anderen aus, die sie zu ihren Füßen umherstreute, wie einen Regen weicher Färbung, und dabei wiederholte sie immer wieder die Worte: »Das Leben ist unsicher – unsicher – unsicher.«

»Mutter!« Stellas Ruf unterbrach diese düsteren Gedanken und ließ sie wiederum nervös zusammenfahren, was sie an diesem sonnigen Junimorgen oft quälte. »Mutter, wir dürfen nicht vergessen, daß Frau Grau heute zum Kaffee kommt. Jedenfalls bietet sie eine kleine Abwechslung in diesem monotonen Dasein.«

»Ist das deine Patin, von der du mir erzähltest und die nicht weit von hier wohnt?« fragte Malchen, als die beiden Mädchen ihren Weg ins Herrenhaus fortsetzten.

»Ja, sie wohnt nur eine halbe Stunde weit entfernt. Sie ist die richtige Gevatterin, ein bißchen langweilig, und besucht die Armen und Kranken. Ich gefalle ihr nicht.«

»Du gefällst ihr nicht?« Malchens kluges Auge blickte forschend in das liebliche Gesicht der anderen.

»Weshalb nicht, das weiß der Himmel,« antwortete Stella leichthin und zog die Achseln. »Sie sagte einmal zu mir, ich hätte keine Wurzeln – ich habe nicht die leiseste Ahnung, was sie damit meinte.«

»Keine Wurzeln?« wiederholte Malchen, die Augen noch immer nachdenklich auf Stella gerichtet. »Ich hätte an deiner Stelle sie doch gefragt, was sie damit meinte. Vielleicht wollte sie dir etwas helfen.«

»Vielleicht,« entgegnete Stella gleichgültig. Sie gingen beide durch die Glastür, die in die Bibliothek führte, ins Haus.

Malchen erinnerte sich dieser kurzen Unterhaltung später am Tage wieder, als sie unter den Bäumen auf dem Rasen saßen und ein Ponygefährt auf der Rampe vorfuhr. Eine kleine Dame stieg heraus und wurde über den Rasen von dem alten Haushofmeister geleitet, der nebst Frau und Tochter das Herrenhaus seit Herrn Hallers Tod in alleiniger Obhut hatte.

Frau Bendler stand von ihrem Platz hinter dem Kaffeetisch auf, um die Ankommende zu begrüßen, und die beiden jungen Mädchen, die auf dem Gras neben ihr gesessen hatten, erhoben sich ebenfalls. Stella war sich ihrer Anmut und Schönheit zu bewußt, um verlegen zu sein, Malchen erschien sich selbst plötzlich zu groß, zu linkisch und zu unbeholfen, angesichts der kleinen, zierlichen Dame, die sich ihnen näherte.

Frau Grau gehörte zu den zarten, überaus vornehm und hübsch gestalteten kleinen Frauen, bei deren Anblick man sich verwundert fragt, weshalb es eigentlich große Frauen gibt. Von der Spitze ihres Kopfes, den weiches, weißes Haar krönte, bis hinunter zu dem feinen, kleinen Fuß war sie eine vollendet anmutige Erscheinung, und wenn Malchen von der Existenz Meißener Porzellans etwas gewußt hätte, so würde sie Frau Grau mit diesem graziösen Fabrikat verglichen haben. Die kleine Dame tauschte einen Händedruck mit Frau Bendler und küßte Stella.

»Und das ist meine neue Nachbarin hier auf dem Herrenhause?« fragte sie freundlich, wandte sich zu Malchen und streckte ihr beide Hände mit einem so gütigen, mütterlichen Lächeln entgegen, daß das Mädchen ein eigenartiges, erstickendes Gefühl in der Kehle empfand und sich ihre braunen Augen feuchteten. »Willkommen auf Singenburg, mein liebes Kind! Sie sind zum erstenmal hier?«

Malchens Erregung gestattete es ihr nicht, eine verständliche Antwort zu geben, aber ihre großen Augen sagten, was sie im Herzen fühlte. Ohne ein weiteres Wort an Malchen zu richten, setzte sich die Dame in einen niedrigen Stuhl, den Stella ihr hingeschoben hatte, und begann nun angenehm über die verschiedensten Gegenstände zu plaudern, die in gar keinem Zusammenhang mit dem Herrenhaus und seiner neuen Besitzerin standen. Malchen war sich aber bewußt, daß sie auf eine feine zarte Art in die Unterhaltung mit hineingezogen wurde, und daß die milden Augen von Frau Grau zuweilen mit demselben mütterlichen Blick auf ihr ruhten, der ihr das Herz so schnell hatte schlagen lassen. Sie lehnte sich in den kleinen Stuhl zurück, auf dem sie zuerst nur an einer Seite gesessen hatte, sodaß sie jetzt ununterbrochen das Gesicht von Frau Grau vor sich hatte, und es war ihr in ihrem kindlichen Gemüt, als ob sie noch nie ein so liebes Gesicht angeschaut, noch nie eine so liebe Stimme gehört habe. Frau Grau konnte nicht Anspruch darauf erheben, für eine Schönheit zu gelten, aber ihre Züge strahlten Vornehmheit und Reinheit aus, der Reflex ihrer schönen Seele. Und aus diesen tiefen, sanften Augen angeblickt zu werden, tat Malchen ungemein gut.

Erst als der Kaffeetisch abgeräumt war, wandte sich Frau Grau wieder an Malchen, die inzwischen ihre unerklärliche Scheu überwunden hatte. Mit der sanften Stimme, die auf Malchen eine so ungewöhnlich starke Anziehungskraft ausübte, fragte sie:

»Sie bleiben also nur bis Montag hier? Es ist ja aber wohl auch schwer, sich gerade jetzt dem großstädtischen Leben zu entziehen.«

»Ich finde es nicht schwer und möchte hier wochenlang bleiben, am liebsten immer. Mir kommt es hier wie im Paradies vor. Ich bin bis jetzt noch nie auf dem Land gewesen.« Sie redete sich immer mehr in Eifer hinein und machte dabei auch Sprachfehler, die sie aber gar nicht genierten, als sie das wachsende Interesse bei ihrer Zuhörerin wahrnahm.

»Ich kann Ihre Freude vollkommen verstehen und auch den Wunsch, länger hier zu bleiben. Vielleicht kommen Sie bald wieder zurück?« Dabei blickte sie fragend zu Frau Bendler hinüber, die recht kühl erwiderte:

»Unsere Sommerpläne stehen noch nicht endgültig fest. Vielleicht machen wir große Reisen, oder wir nehmen einige Einladungen auf längere Zeit an. Stella und ich sind von mehreren Freunden gebeten worden; vielleicht können wir Malchen bei ihnen einführen!«

Frau Bendler hatte niemals viel für Frau Grau übrig gehabt, im Gegenteil, sie mißfiel ihr und sie hatte von Anfang an ihrem Gatten widersprochen, die kleine, sanfte Dame als Patin für ihre Tochter zu nehmen. Das unangenehme Gefühl verließ sie nicht, daß Frau Grau mit den sehr scharfsichtigen Augen ihre Unaufrichtigkeiten und Lügen durchschaute.

Vielleicht kannte Frau Grau auch diese Abneigung der Mutter Stellas gegen sie, vielleicht erwiderte sie sie in gewissem Grade, denn zwischen der offenherzigen, klaren Natur der einen und der gewundenen, unsicheren Natur der anderen Frau bestand kaum ein gemeinsamer Berührungspunkt. Trotzdem behielt Frau Grau stets ihr freundliches Wesen gegen die Bendlerschen Damen und sagte nun:

»Ich denke, daß Malchen, wenn ich sie so nennen darf,« – mit einem gütigen Blick gegen das Mädchen – »in Ihre Einladungen stets mit eingeschlossen ist. Jedenfalls hoffe ich aber, daß Sie einmal zu mir auf Besuch kommen, wenn es Ihnen bei einer alten Frau nicht zu langweilig ist.«

»Zu Ihnen kommen?« rief Malchen vor Freude hochrot und mit strahlenden Augen. »Aufs Land und zu Ihnen?« Der Nachdruck auf dem letzten Wort erschloß ihr das Herz von Frau Grau.

»Sie möchten also gern zu mir kommen und würden es nicht langweilig finden?«

»Langweilig?« Malchen lachte, und Frau Grau glaubte, ein frischeres Lachen noch nie gehört zu haben. »Bei Ihnen und auf dem Lande langweilig?! Das gibt es gar nicht. Darf ich wirklich kommen? Ich kann doch?« Die letzte Frage richtete sie an Frau Bendler, die für diesen Ueberschwall an Freude nur ein mitleidig verächtliches Lächeln hatte.

»Natürlich dürfen Sie zu Frau Grau, mein liebes Malchen. Ich bin doch kein Drache und habe auch, wie Sie wissen, keine rechtmäßigen Befugnisse über Sie.« Sie machte den Versuch zu scherzen, was ihr aber nur schwach gelang. »Diese junge Dame,« dabei legte sie die Hand auf Malchens Schulter, »ist vollständig unabhängig, Frau Grau, ganz ihre eigene Herrin. Es war seitens Herrn Hallers sehr vertrauensvoll, ihr so viel Macht einzuräumen. Und doch ist es für so junge Schultern eine schwere Last, und man glaubt –«, sie unterbrach sich, weil sie Malchen fragen hörte:

»Was glauben Sie? Weshalb sprechen Sie von einer Last? Ist es denn nicht schön, reich zu sein?«

»Gewiß, sehr schön und angenehm. Aber großer Reichtum legt doch auch Verpflichtungen auf, und wenn ich ein großes Vermögen besäße, ließe ich mich zu allererst darin unterweisen, wie ich davon am zweckmäßigsten und besten Gebrauch machen könnte.«

»Am besten? Ich weiß nicht, wie ich vom Geld anders Gebrauch machen soll, als mir Sachen dafür zu kaufen.«

»Das ist ja auch ganz richtig,« meinte Frau Grau und erhob sich. »Wenn Sie sich hier erst einmal länger umgesehen haben, werden Sie finden, daß die armen Leute im Dorf einen gewissen Anspruch auf das Herrenhaus machen. Es gibt oft Not ringsherum.«

Frau Bendler zog die Brauen hoch, als sie sah, wie Malchen am Mund von Frau Grau hing und jedes ihrer Worte auf sich wirken ließ, Stella zog graziös die Achseln.

»Sie sind eine so großartige Menschenfreundin, meine liebe Frau Grau,« sagte Frau Bendler schmeichelnd, »daß ich mich, denke ich an all Ihre Wohltaten, förmlich schämen muß. Wir dürfen aber hier nicht außer acht lassen, daß Herr Brand, Malchens Anwalt, große Ausgaben kaum gutheißen wird.«

Malchen meinte etwas boshaft:

»Er hat ja gar nichts zu sagen. Es ist ja genau so, wie Sie eben Frau Grau erzählten, ich bin meine eigene Herrin. Ich kann tun und lassen mit meinem Geld, was mir beliebt. Ich werde mich nach den Leuten hier umsehen.«

Frau Grau ergötzte sich weidlich an diesen Worten. Ihr gefiel das Mädchen mit dem herrischen Kinn, den klugen braunen Augen und dem naiven und doch bestimmten Wesen. Sie erkannte, wie das der Anwalt Brand erkannt hatte, als die kleine, wenig nett aussehende Dienstmagd zum erstenmal in seinem Bureau stand, daß diese braunen Augen und der feste Mund einen tüchtigen Charakter bekundeten. Frau Grau beging nicht den Irrtum, den Frau Bendler gemacht hatte, Malchen als Objekt zu betrachten, das sich so leicht formen und behandeln ließ wie der Ton vom Töpfer.

»Wenn Sie mich morgen oder Montag besuchen können, so tun Sie es, bitte,« sagte Frau Grau beim Abschied. »Es ist ja nur eine gute halbe Stunde Weges durch den Park und ein hübscher Spaziergang. Zur Kaffeezeit bin ich stets bestimmt anzutreffen. Uebrigens wohnt da ein armer alter Mann dicht neben dem Parktor auf meiner Seite, der Mühe heißt. Vielleicht ist er mit Ihnen noch entfernt verwandt, Malchen?«

Frau Bendler zog die Stirn kraus.

Malchen rief begeistert:

»Wenn es ein Verwandter ist, werde ich gern etwas für ihn tun. Ich fragte Herrn Brand, als ich mein Testament machte, ob hier herum keine Verwandten von mir wohnten, er sagte aber, es existierte niemand. Er wollte aber Nachforschungen halten.«

Frau Bendler wechselte die Farbe bei dem Wort Testament, sie hatte aber ihre Fassung wieder, als Malchen zu Ende gesprochen, und fragte:

»Sagten Sie mir nicht, mein liebes Kind, daß Sie überhaupt keine Verwandten besäßen?«

»Als meine Mutter starb, erklärte sie mir, daß ich gar keine Angehörigen hätte – keine Seele. Sie und mein Vater sind mit jungen Jahren aus Singenburg fortgezogen, und Mutter erzählte mir, daß die beiderseitigen Familien schon vor ihrem Fortgang ausgestorben gewesen wären.«

»Wie war der Mädchenname Ihrer Mutter?« fragte Frau Grau und blickte gedankenvoll auf Malchen, deren lockiges Haar die Sonnenstrahlen wie in einem wirklichen goldenen Heiligenschein erglänzen ließen. »Stammte Ihre Mutter auch aus Singenburg?«

»Sie hieß Maddinger, und sie hat mir oft gesagt, daß ihre Mutter das schönste Mädchen weit und breit umher im Lande gewesen wäre; sie habe Singenburg aber auch in ihrer frühen Jugend verlassen und wäre nur heimgekehrt, um dort zu sterben. Mutter hat auch sehr, sehr früh geheiratet, und da Vaters Familie auch ausgestorben war, sind sie beide von hier fortgegangen.«

»Ich glaube,« sagte Frau Grau, die aufmerksam zugehört hatte, »daß der alte Mühe, den ich eben erwähnte, doch ein Verwandter Ihres Vaters sein wird. Sie werden ihn sicherlich gern aufsuchen und unterstützen. Er ist ein guter alter Mann und lebt in recht dürftigen Verhältnissen.«

»Ich werde morgen zu ihm gehen,« antwortete Malchen ruhig, ohne diesesmal Frau Bendler einen fragenden Blick zu gönnen, »und ob er nun ein naher oder entfernter Verwandter ist, soll er es doch bis an sein Lebensende gut haben. Arm zu sein, ist kein Scherz, das habe ich an mir selbst gut genug erfahren. Ich werde mit dem alten Mann sprechen, darauf können Sie sich verlassen.«

*

Vater Mühes kleines Anwesen war in ein dreieckiges Stück Land eingezwängt, das gebildet wurde durch eine Biegung in dem zum Herrenhause gehörenden Grundstück, der langen Straße, die in das Dorf führte, und einer Wiese, die sich steil auf eine Pachtung neben dem Fluß im Tal hinabsenkte. Das Häuschen lag sehr malerisch, war aber nicht wetterdicht und wenig behaglich. Im Laufe der Jahre hatten sich seine Mauern etwas gesenkt, was ihm den Anschein gab, aus dem Gleichgewicht gekommen zu sein, und als ob der leiseste Stoß genüge, es wie ein Kartenhaus zusammenfallen zu lassen. Das mit Stroh bedeckte Dach trug auch Flechten und Hauslauch, was ihm Farbe und einen ehrwürdigen Anstrich verlieh, und die Mauern waren derart mit Schlinggewächs überzogen, daß man sich fragen mußte, ob irgendwie Licht oder Luft durch die kleinen runden Fensterscheiben eindringen konnte. Von innen waren die Fenster mit Geranien besetzt, die Vater Mühes Lieblinge waren und eine hübsche Blütenpracht zeigten. Das viereckige Plätzchen vor dem Hause bildete die einzige andauernde Freude seines Lebens, und jeden Augenblick, den er sich von dem Hüten der Schweine des Pächters Dehrend absparen konnte oder von den anderen gelegentlichen Arbeiten auf dem Pachthofe, die seine rheumatischen Arme zuließen, nützte er zur Pflege des kleinen Gärtchens aus.

Als seine Schmerzen das Arbeiten nicht mehr gestatteten, machte er es sich zur Gewohnheit, in dem verfallenen Hauseingang zu sitzen und zärtliche Blicke auf seine Blumen zu werfen, die seinen geschwächten Sinnen allmählich so lieb wie menschliche Wesen wurden.

An diesem Juninachmittag saß er dann auch wieder auf seinem Plätzchen, betrachtete seinen Garten und erinnerte sich in unbestimmten, unzusammenhängenden Gedanken jener längst verflossenen Jugendzeiten, in denen er an den Sonntagnachmittagen den hübschen Mädchen den Hof gemacht hatte, genau wie es die Dorfjugend heute tat.

»Es gibt doch keine schöneren Maßliebchen in der ganzen Gegend ringsumher, als diese hier,« dachte der alte Mann, als er von der Erinnerung früherer Zeiten wieder zu den Schönheiten seines Gartens zurückkehrte, »auch keine Reseda als meine, wenn ich das auch selbst sage. Und ich möchte den sehen, der mich mit seinen Zentifolien übertreffen könnte.«

Die Gedankenreihe des alten Mannes wurde plötzlich durch das Geräusch des Parktores unterbrochen; er wandte sich rasch um, um zu sehen, wer da herauskam. So weit seine trüben Augen zu erkennen vermochten, war es eine große, schlanke Gestalt. Mit wachsendem Interesse spähte er, auf seinen Stock gestützt, hinaus, als die Person langsam den Dorfweg betrat und vor seinem Garten stillstand. Trotz seiner schlechten Augen erhaschte er den Glanz roten Haares und gold-brauner Augen in einem blassen Gesichtchen, und in einem Nu erhob sich der Alte, und trollte den schrägen Gang durch seinen Garten hinunter. Seine Hände zitterten so stark, daß sie kaum den Stock halten konnten, auf den er sich stützte.

»Bist du endlich wiedergekommen, meine liebe Johanna, um mich zu besuchen?« Seine Stimme bebte vor Erregung, die Augen zeigten jugendliches Feuer. »Komm doch herein, mein Schatz, komm herein,« und als er an der kleinen Pforte angelangt war, erhob er seine zitternden, rheumatischen Hände und schob den Riegel zurück, um das große Mädchen hineinzulassen. Sie blickte ihn freundlich an aus ihrer Höhe und antwortete ihm mit sanfter Stimme:

»Sie halten mich vermutlich für jemand anders, denn ich glaube nicht, daß Sie mich schon einmal gesehen haben.«

Seine Augen sahen ihr sehnsüchtig und forschend ins Gesicht, dann trat ein Ausdruck kummervoller Verlegenheit in den Blick, mit dem er die Züge und die schlanke Gestalt in einfachem, aber hübschem, weißem Kleid musterte.

»Ach, ich dachte, Sie seien Johanna,« sagte er, und seine Stimme zitterte noch stärker als vorhin. »Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, nur haben Sie ein anderes Kleid an. Johanna war auch ein hübsches Mädchen, und sie wäre die meine geworden, wenn nicht der feine Herr dazwischen gekommen und sie ihrem Christian fortgenommen hätte, der sie so sehr liebte – so sehr liebte,« wiederholte er altersschwach, schüttelte den grauen Kopf und äugte das Mädchen teils bewundernd, teils argwöhnisch an.

»Sehe ich aus, wie ein Mädchen, das Sie lieb gehabt haben?« fragte Malchen beschwichtigend. »Ich wollte Sie besuchen, weil –«

»Ja, ja,« unterbrach er sie hastig. »Eine, die ich sehr lieb hatte, so ist es – ich muß wohl gnädiges Fräulein sagen – so ist es.« Dabei humpelte er den schrägen Pfad bis zum Hauseingang wieder hinauf; Malchen folgte ihm. »Johanna und ich, wir gingen Sonntags zusammen, wie die Mädels und Burschen heute noch zusammen gehen, und wir sprachen über unser Aufgebot in der Kirche, als der Herr – ich brauche wohl keinen Namen zu nennen, nicht wahr, das würde sich für mich nicht schicken?« Dann drehte er sich wieder mit listigem Blick nach Malchen um.

»Dachten Sie an jemand, der Ihnen Ihren Schatz fortnahm?« fragte sie voll Mitleid für den einsamen alten Mann mit seinen Erinnerungen an die verlorene Vergangenheit.

»So ist es – er nahm sie mir – der Herr Georg, und es war nicht zu hoffen, daß sie noch weiter an den alten Christian dachte, nachdem sie die Aussicht hatte, eine große Dame zu werden. Aber es erging ihr doch schließlich gar nicht gut, der armen Johanna.«

Jetzt hatte er sich wieder auf seinen Sitz vor dem Häuschen niedergelassen, stützte den Kopf auf die Hände, die er über seinem Stock zusammengefaltet hatte, und blickte traurig von seinen Blumenbeeten auf das Mädchen und von ihr wieder auf seine Blumen.

»Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten,« wiederholte er, »merkwürdig, wie aus dem Gesicht geschnitten.«

»Ging sie von hier fort?« fragte sie und setzte sich ihm gegenüber. »Hat sie den Herrn geheiratet?«

»Niemand weiß, was geschehen ist.« Seine Augen sahen wieder listig aus. »Johanna ging mit mir nicht mehr spazieren, sie wurde immer blasser und blasser und sah immer trauriger aus, und eines Tages ging sie in die Stadt – so sagen die Leute – und kam erst viele Jahre später wieder zurück.«

»Sie kam also wieder zurück?«

»Ach ja, das tat sie, und sie hat auch geheiratet; er war ein sehr achtbarer Arbeiter, und sie wohnten hier, bis sie beide gestorben sind. Aber einige Leute sagten, sie hätte zu Herrn Georg gehalten, solange er lebte, und einige sagten, daß sie rechtmäßig mit ihm verheiratet gewesen wäre. Aber niemand weiß die Wahrheit, bis alles ans Tageslicht kommt.«

Einige Minuten blieb Malchen sitzen und betrachtete den kleinen Gartenstreifen. Die Bienen flogen von Blume zu Blume, und aus dem nahen Wald hörte man das Summen der Käfer und Insekten.

Dann beugte sie sich nach vorn und berührte Vater Christians zitternde Hand.

»Ich kam zu Ihnen in der Meinung, Sie wären ein Verwandter von mir, und weil ich wissen möchte, ob ich Ihnen dienlich sein kann.«

Des Alten Augen wurden plötzlich ganz scharfsinnig und schlau. Jetzt sah er Malchen noch einmal forschend ins Gesicht.

»Sie wären mit mir verwandt? Ich habe keine vornehme Verwandtschaft und habe auch nie davon reden hören.«

»Ich bin ja gar nicht vornehm,« antwortete sie, und ihre weißen Zähne blitzten, »ich heiße Miranda Mühe, meine Eltern lebten früher hier in Singenburg und –«

»Sie gehen nicht wie eine Arbeiterin,« unterbrach der Alte sie ernst. »Sie sehen doch aus wie eine Dame.«

»Das kam so. Ich war sehr, sehr arm und diente bei einer Frau in der Stadt, die Zimmer vermietet. Mein Pate vermachte mir aber eine ganze Menge Geld. Er wohnte hier, es ist Herr Gottfried Haller, und sein Schloß gehört jetzt auch mir.«

»Sie haben doch nicht Hallers Geld geerbt? So'n Kieck-in-die-Welt und so viel Geld?! Wie kam denn Herr Haller gerade dazu, Ihnen das Geld zu vererben?«

»Er war mein Pate und kannte meine Eltern, als sie noch hier wohnten. Mein Vater hieß Fritz Mühe.«

Ein vergnügter Ausdruck überzog das Gesicht des Alten. Es war, als ob ihm der Verstand aufs neue gekommen wäre.

»Ich erinnere mich an Fritz Mühe ganz gut. Er war so eine Art Vetter von mir und hielt es mit der Tochter meines Mädchens, mit Johannens Tochter.«

»Dann war also meine Mutter die Tochter Ihrer Johanna?« rief Malchen erregt. »Kein Wunder, daß ich Ihrer Johanna ähnlich sehe.«

Ohne auf ihre Worte zu achten, sagte er:

»Mein Mädchen kam nach Singenburg zurück, wie ich Ihnen erzählte, nachdem sie in der Stadt gewesen war – sie kam mit ihrem Mann zurück: der hieß Maddinger, und sie brachten ein kleines Mädchen mit.«

»Das war meine Mutter!«

Der Alte starrte aber jetzt wieder ins Leere und folgte ihren Worten nicht mehr. »Und Sie – Sie haben nun Herrn Hallers ganzes Geld?« – änderte er plötzlich sein Thema. »Ist das nicht merkwürdig, daß das Kind von Johanna das Geld von Herrn Haller bekommen hat? Sieht ganz so aus, als ob er schließlich doch alles wieder hat gut machen wollen – ja so ist es, er wollte es wieder gut machen an Johanna, daß er ihr das Geld auf diese Weise gab.«

Er schüttelte den Kopf, und keine der freundlichen Fragen, die Malchen an ihn richtete, konnte von ihm eine andere Antwort erzielen, als die Wiederholung der Worte: »Er wollte es an Johanna wieder gut machen, deshalb gab er sein Geld an ihr Kind.«

Die beständig wiederholten Worte blieben Malchen doch rätselhaft. Sie erhob sich endlich, nachdem sie einsah, daß es keinen Zweck habe, ihm klar zu machen, was sie für den Rest seiner alten Tage für ihn zu tun gedenke. Er schien ihre Erklärungen als eine Drohung aufzufassen, sein Häuschen verlassen zu müssen. Seine Mienen nahmen einen kläglich flehenden Ausdruck an, seine Stimme bebte, als er sie bat, doch hier bleiben zu dürfen, wo er als Junge und Mann nahezu 80 Jahre gehaust habe. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie griff liebevoll nach seinen Händen.

»Aber natürlich sollen Sie in Ihrem Haus bleiben und brauchen es auch nie zu verlassen. Ich werde es Ihnen hier sehr behaglich machen. Verstehen Sie mich nun, Sie brauchen hier niemals fortzuziehen.«

Die Worte schienen endlich Eingang bei ihm gefunden zu haben. Er lachte halb kindisch und sah sie wie ein treuer Hund an.

»Papa Christian bleibt immer hier, so ist es, Fräulein?« kicherte er. »Und Herr Haller hat Johanna Gerechtigkeit widerfahren lassen – weil ihre Tochter ihm doch näher stand, als die Leute glaubten – ja, viel näher, als die Leute glaubten, und deshalb hat er recht an ihr getan.«

Er lachte wieder halblaut, und Malchen hörte das noch, wie sie den Garten durchschritt und den Dorfweg wieder betrat. Seine rätselhaften Worte klangen in ihr nach, und je mehr sie darüber nachdachte, desto unverständlicher wurden sie ihr.

Zwischen hohen Hecken setzte sie nun ihren Weg fort, um zu dem Haus von Frau Grau zu gelangen, dessen Lage ihr der alte Haushofmeister Martin ausführlich beschrieben hatte. Der Junitag strömte den sommerlichen Duft aus, des Mädchens muntere Augen sogen alle Schönheit ringsumher gierig ein, und jede sich ihr neu enthüllende Schönheit des wunderbaren Landstrichs begegnete vollem Verständnis bei ihr. Dornröschen und Geißblatt, vom Juniwind leicht bewegt, schmückten die Hecken, Vergißmeinnicht schauten wie blaue Sterne aus dem Grase hervor, und Butterblumen verwandelten die Wiesen in Felder mit goldener Decke. Im Holz zur rechten Seite sangen die Drosseln, vom Sommer und von Freude, hoch oben in den Lüften schwang sich eine Lerche und zwitscherte ihr nie endenwollendes Loblied auf des Himmels Größe.

Ohne es in Worte zu fassen, bewegte Malchen das Gefühl, jeden Augenblick dieses kostbaren Tages zu genießen, jeden Zoll, den sie auf ihrem Wege weiterschritt, und deshalb bedauerte sie es fast, als bei einer Biegung des Weges das niedrige weiße Haus sich plötzlich ihren Blicken darbot. Jedes Bedauern war indes sogleich wieder verschwunden, als sie zu Frau Grau geführt wurde.

Frau Grau saß in dem Garten hinter ihrem Haus auf einem Rasenplatz, der sich zum Flusse zu senkte.

»Ich wollte, ich könnte immer an solchem Oertchen wohnen«, sagte Malchen seufzend, als sie umherblickte. »Von der Stadt habe ich mein ganzes Leben lang genug.«

»Es freut mich, daß Sie das Land lieben,« entgegnete Frau Grau etwas zerstreut, und nachdem sie des Mädchens Züge lange durchforscht hatte, meinte sie plötzlich: »Ich sinne und sinne, ob ich Sie nicht wohl schon früher einmal sah. Gestern, als sie keinen Hut trugen, habe ich es gar nicht so bemerkt, aber heute rufen mir der weiße Hut, Ihr weißes Kleid und Ihr prachtvolles Haar Erinnerungen in mir wach – ich weiß nur nicht, wohin damit.«

»Sie sind nicht die Erste, die durch meinen Anblick heute an eine andere Person erinnert wird. Der alte Christian drüben hielt mich für ein Mädchen, das er in seiner Jugend kannte. Er nannte sie Johanna, und es scheint mir, daß sie meine Großmutter war, soweit ich habe feststellen können; der gute Alte ist ein bißchen kindisch und konfus.«

»Ihre Großmutter?« Frau Grau starrte Malchen an.

»Anderes läßt sich aus des alten Mannes Reden kaum entnehmen. – Sie hieß Johanna, sagte er, und ging mit ihm spazieren, als sie beide jung waren. Dann gab sie ihm aber den Laufpaß – eines vornehmen Herrn wegen.«

»Eines vornehmen Herrn wegen. Nannte er Ihnen dessen Namen?«

»Er sprach nur von einem Herrn Georg: den Familiennamen nannte er nicht.«

Frau Grau unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens und fragte dann weiter:

»Was erzählte er Ihnen sonst noch von dieser Johanna?«

»Er sagte, sie sei in die Stadt gegangen, von dort nach langer Zeit mit ihrem Mann, namens Maddinger, zurückgekommen, und sie hätten ein kleines Mädchen mitgebracht. Das Mädchen muß meine Mutter gewesen sein.«

»Das kann zutreffen.« Frau Grau hatte sich von ihrer Verwunderung noch nicht erholt. »Als ich herzog, hörte ich noch viel über die Schönheit dieser Johanna reden, obgleich sie schon längst tot war. Also, der alte Christian hat Sie anfänglich für diese Johanna gehalten?«

»Ja, als ich über die kleine Gartenpforte sah. Ich glaube, das kam von meinem Haar, auf das die Sonne schien. Das muß ihm seine Johanna in Erinnerung gebracht haben. Und er schien zu glauben, daß durch meine Erbschaft von Herrn Haller seiner Johanna etwas Gutes geschehen sei. Was kann nun wohl Hallers Geld mit meiner Großmutter zu tun haben?«

»Es ist richtig, daß er kindisch ist, und man kann sich das, was der alte Christian sagt, nicht immer zusammenreimen,« meinte Frau Grau ausweichend. »Er spricht zuweilen ganz kindisch und vergißt auch manches. Der brave Mann hat ein sehr einsames Leben geführt, und jetzt ist er recht arm.«

»Das soll er nicht länger bleiben,« erklärte Malchen fröhlich. »Ich werde Sorge tragen, daß es ihm bis an sein Lebensende an nichts mehr fehlt. Könnte man nicht eine saubere Frau hier bekommen, die ihn pflegt?«

»Das wäre vortrefflich, und wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen gern, eine solche zu suchen, und werde alles tun, damit sich der alte Mann behaglich und glücklich fühlt. Ich nehme an, daß Sie nicht so bald wieder nach Singenburg zurückkommen?«

»Ich werde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie das für mich übernehmen wollen,« sagte sie seufzend. »Ich weiß wirklich nicht, wann ich einmal wieder hier sein werde. Frau Bendler und Stella sind nicht gern auf dem Land, ihr Herz hängt an der Stadt, und Herr Brand meint, ich müßte auch dort bleiben, um all die vielen, mir bisher noch ganz unbekannten Dinge kennen zu lernen. Ich hätte nie geglaubt, wie viel das ist, was man zu lernen hat, ehe man überhaupt noch zu wissen beginnt, was eine Dame weiß.« Sie schloß mit einem Seufzer.

Frau Grau lächelte voll Mitgefühl. Ihre Hand berührte Malchens Schulter: es war wie eine Liebkosung.

»Mein liebes Kind! Wahr und rein zu sein, für andere zu leben, das ist es, was eine echte Dame ausmacht. Alles übrige ist unerheblich.«

Malchen ergriff plötzlich Frau Graus Hand und rief: »Ich wollte, ich könnte mit Ihnen zusammenleben. Ich würde von Ihnen alles lernen, denn Sie verstehen mich. Sie sehen mich nicht in einer Minute hart, zornig und verächtlich an und lächeln mir in der Minute darauf freundlich zu.«

»Später im Sommer müssen Sie auf längere Zeit zu mir kommen,« erwiderte Frau Grau und gab sich den Anschein, die Andeutungen Malchens nicht zu verstehen. »Ich denke, das läßt sich leicht einrichten, wenn Frau Bendler längere Zeit bei Freunden zu Besuch weilt. Und wenn Sie irgendeinmal in Verlegenheit geraten und einer Freundin bedürfen sollten, so wenden Sie sich an mich. Ich werde mich immer freuen, Ihnen nützlich sein zu können.«

Die Unterhaltung ging auf andere Dinge über, aber diese Worte prägten sich in Malchens Gedächtnis tief ein.

Als sie nach einer Stunde zu ihrem Bedauern Abschied nehmen mußte, trug sie mit dem beruhigenden Gefühl des Friedens und der Sicherheit die Gewißheit mit sich fort, daß sie in Frau Grau eine aufrichtige, wahre Freundin gefunden hatte.

Frau Grau blickte dem fortgehenden Mädchen lange nach. Von allen Dingen, über die sie mit Malchen gesprochen, blieb ihr doch am längsten, was sie ihr von dem alten Christian erzählt hatte.


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