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11. Kapitel.

»Ich möchte unsere gute Frau Grau doch dieses Jahr bestimmt einladen; wir haben sie seit über zwei Jahren nicht gesehen.«

»So lange ist sie auch wohl mit ihrem Schützling auf Reisen gewesen, meine liebe Helene; du weißt ja, die Erbin, die sie erzog, Fräulein Mühe, wohnt doch beständig bei ihr oder sie bei Fräulein Mühe; wie ist das eigentlich?«

»Ich dachte, auch Fräulein Mühe mit einzuladen,« entgegnete Frau v. Cönnern. »Frau Grau schreibt mit so viel Wärme von ihr, daß sie wohl gesellschaftsfähig sein muß, und wie auch ihre früheren Verhältnisse waren, sie ist doch unstreitig die Herrin von Schloß Singenburg und eines sehr großen Vermögens, und wir können sie nicht länger übersehen, da sie von Frau Grau bemuttert wird.

Der Baron lachte gutmütig. Richard v. Cönnern ließ sich stets gern von seiner Frau leiten. Erstens ersparte ihm das die Mühe, sich eine eigene Meinung zu bilden, die vielleicht noch gar verfochten werden mußte, und sodann, weil seine Frau einen stärkeren Charakter als er selbst besaß; es schien ihm somit unendlich viel einfacher und ebenso angenehm, jedem ihrer Vorschläge zuzustimmen.

»Also laden wir auch die Erbin ein. Ich bin sogar etwas neugierig auf sie, denn ich möchte sehen, was Frau Grau aus der – was war sie doch, eine Pächterstochter? – eigentlich hat machen können. Und mehr noch, weshalb der alte Haller gerade ihr sein Geld vererbte.«

»Eine Pächterstochter? Mein lieber Richard, sie ist nicht halb so aristokratisch gewesen. Sie war die Tochter ganz armer Arbeitsleute, die ursprünglich in Singenburg wohnten und dann in die Stadt zogen. Und als Haller starb und sie zu seiner Universalerbin machte, war sie Mädchen in einem Pensionat dritter Güte.«

»Bei Gott, das muß ja eine Sensation machen. Ist das ihr erstes Erscheinen in der Gesellschaft?«

»Nein, mein lieber Richard. Du hast doch sicherlich vor zwei Jahren in der Stadt von ihr gehört? Sie war damals unter den Fittichen von Frau Bendler, und trotz aller schönen Kleider und ihrem Reichtum beurteilte man sie abfällig, sie war gar zu unbeholfen. Aber ich meine, Frau Bendler war auch nicht die geeignete Persönlichkeit, einem Mädchen in dieser Lage helfen zu können. Ich habe nie begriffen, weshalb Frau Bendler sie überhaupt zu sich genommen hat.«

»Vielleicht hatte die Dame Geld nötig,« meinte Richard v. Cönnern. »Geld spielt eine große Rolle bei ihr; sie hat nicht genug davon für das Leben, das sie gern führen möchte. Uebrigens, weshalb laden wir sie nicht auch für den Oktober ein? Sie ist eine famose Gesellschafterin.«

Frau v. Cönnern machte erst eine leichte abwehrende Bewegung, lachte dann aber:

»Schön, ich schreibe Frau Bendler auch auf meine Liste. Persönlich mache ich mir nicht besonders viel aus ihr, aber sie ist, wie du richtig sagst, ein sehr unterhaltendes Element in der Gesellschaft, sie kennt auch alle Menschen. Voraussichtlich wird sie sich mit Fräulein Mühe verstehen?«

»Weshalb denn nicht?« sagte der Baron offenbar überrascht. »Du sagtest doch, das junge Mädchen hätte eine Zeitlang bei ihr gewohnt.«

»Gewiß, sie wohnte bei ihr. Die Frage, die mir aufstieß, war, weshalb das Verhältnis ein Ende nahm. Ich erinnere mich, daß Fräulein Mühe damals sehr plötzlich bei Frau Grau auftauchte. Das hat aber schließlich gar nichts auf sich. Bei der großen Zahl unserer Gäste braucht sich einer um den anderen nur gerade so viel zu bekümmern, wie es ihm beliebt.«

»Sie müßten sich ja jedenfalls irgendwo treffen, wenn Fräulein Mühe dieses Jahr offiziell eingeführt wird,« entgegnete Richard sehr weise, »es hat keinen Zweck, in einem so engen Kreise, wie es die Gesellschaft nun einmal ist, Leute auseinander halten zu wollen. – Wie ist es denn mit der kleinen Stella Bangler? Ich habe sie immer gern gehabt, wenn sie auch nur eine oberflächliche Natur ist. Soll sie trotz ihrer Trauer doch mitkommen?«

Frau v. Cönnern ließ ihren silbernen Bleistift balanzieren und blickte nachdenklich aus dem Fenster auf die Blumenbeete, die sich von dem Rasen abhoben.

»Baron Bangler ist jetzt schon nahezu neun Monate tot, und da die ganze Gesellschaft doch ein ziemlich intimer Kreis ist, denke ich, wir können Stella ruhig einladen. Ich habe schon so oft überlegt, ob diese Heirat nicht ein Werk von Stellas Mutter war. Die Verlobung mit Arthur Darberg wurde so plötzlich aufgehoben, und unmittelbar darauf erfuhr man, daß Stella den Baron Bangler heiraten würde.«

»Mein liebes Frauchen,« meinte Cönnern, »wir beide bilden uns noch zu ganz gewaltigen Klatschbasen aus. Ich kann dir nur sagen, Stella war in Edgar Bangler so verliebt, wie es sich nur denken läßt. Ich hätte nie geglaubt, daß ihre Empfindungen so tief gingen. Es ist nur traurig, daß sie als Witwe so geringe Mittel besitzt. Das muß Frau Bendler in ihren Berechnungen ungeheuer enttäuscht haben, wenn sie Stella wirklich zu dieser Ehe gezwungen haben sollte. Aber bei allen guten Geistern, heutzutage, in dieser vorgeschrittenen Welt zwingen die Mütter nicht die Töchter zur Heirat, eher pflegt die Gewalt seitens der Töchter auf die Mütter zur Anwendung zu kommen.«

»Aber nicht, wenn es sich um Mutter und Tochter nach Art von Frau Bendler und Stella handelt,« warf Frau v. Cönnern trocken ein. »Jetzt, mein lieber Richard, wollen wir einmal das Räsonieren über unsere lieben Mitmenschen einstellen und meine Liste abschließen. Ich brauche noch ein paar Herren.«

»Dann fordere Max Anstrut und Fritz Distelmann auf,« lautete die schnelle Antwort. »Es sind beide zwei prächtige, junge Menschen, und es wäre sehr gut, wenn du sie der neuen Erbin vorstelltest. Anstruts Vater hat den Besitz bis zum Hausgiebel hypothekarisch belastet, und Max arbeitet wie ein Pferd, die Dinge wieder ins Gleichgewicht zu bringen; es ist keine leichte Sache. Distelmann kennst du ja noch besser als ich.«

Diese Unterhaltung fand im Bibliothekzimmer auf Schloß Mainard statt, einem Landsitz, der diesem Zweig des Hauses von Cönnern schon Jahrhunderte lang eigen war, und auf dem auch der jetzige Majoratsherr residierte. Richard v. Cönnern und seine Gattin Helene standen jetzt im Alter von 50 und 40 Jahren und erfreuten sich in der ganzen Provinz einer außerordentlichen Beliebtheit. Ihr einziger Kummer war ihre Kinderlosigkeit, weshalb Mainard später an einen entfernten Verwandten fallen würde. Sie gehörten aber nicht zu den Menschen, die ihren eigenen Sorgen auf ihr Verhalten zur übrigen Welt einen Einfluß einräumen, und deshalb war Schloß Mainard durch seine Gastfreundschaft weit und breit berühmt und wegen der reizenden Feste, zu denen der Baron und seine Gattin einen Schwarm von Gästen mehreremal jährlich auf einige Zeit um sich zu scharen pflegten.

Richard v. Cönnern schloß sich jeden Tag in der Bibliothek ein, nachdem er seinen gewohnten Rundgang gemacht, mit dem Obergärtner und Förster gesprochen und die Ställe besucht hatte. Was er in der Bibliothek tat, und ob er überhaupt etwas anderes tat, als einige unwichtige Briefe zu schreiben, stand dahin. Es blieb jedoch eine anerkannte Regel, daß der Baron allmorgendlich von 10 bis 12 Uhr in der Bibliothek schwer arbeitete, und niemand außer der Baronin hätte es je gewagt, ihn in dieser Zeit zu stören.

Sie saß jetzt an dem Tisch, an dem ihr Gemahl saß, und ihre Blicke hingen zärtlich an seinem derben, freundlichen Gesicht, das von lockigem grauen Haar gekrönt war, und den blauen Augen, die sich in jeder Verlegenheit oder Schwierigkeit an sie zu wenden pflegten. In ihren Mienen prägten sich Charakter und Willensstärke aus, die bei ihm völlig fehlten, und ihre klaren braunen Augen sahen viel mehr, als ihr Gatte glaubte. Sie wußte recht gut, daß es nur diesen klaren, hellschauenden Augen und ihrem ebenso klaren Verstand zu verdanken war, daß ihres Gatten Verwaltung des großen Güterkomplexes nicht in einem kläglichen Versagen geendet hatte. Sie war sich voll bewußt, daß die wirklichen Zügel der Herrschaft in ihren fähigen Händen ruhten, während sie den Schein aufrecht erhielt, daß der Baron der vollkommenste Herr und Gebieter sei.

In der langen Reihe der Jahre vervollkommnete sie sich in der Kunst, ebenso wie seine Angelegenheit auch ihren Gatten selbst vollständig zu leiten, ohne daß dabei mehr in die Erscheinung trat, als eine gelegentliche Aeußerung ihrer eigenen Meinung.

»Ich denke, es wird wieder eine fröhliche Zeit werden, weil wir nur sehr nette Leute geladen haben, lieber Richard,« sagte sie und erhob sich, um ans Fenster zu treten. »Auf die Erbin bin ich auch neugierig, ob es unserer lieben Frau Grau wohl gelungen ist, aus einem Dienstmädchen eine Dame zu machen?«

»Das halte ich für gänzlich ausgeschlossen,« meinte Herr v. Cönnern, streckte sich verstohlen gähnend und schlug die Hände unter dem Kopf zusammen. »Was einmal nicht von Geburt an drin liegt, du weißt, ja, und das Wort ist wahrer, als die Welt gewöhnlich meint.«

»Ja – ich kenne das. Indes meine ich doch, daß eine Umgebung und der Einfluß einer Frau, wie unsere Adele Grau, auf ein bildungsfähiges Mädchen die gewünschte Wirkung haben könnten.«

»Es ist nicht wahrscheinlich, meine liebe Helene, nein, nicht wahrscheinlich,« sagte er.

*

Diese Worte ihres Gatten fielen der Baronin einige Wochen später ein, als sie in dem großen Salon stand, um ihre Gäste zu erwarten. Durch Zugverspätung waren Frau Grau und Fräulein Mühe nicht zu derselben Zeit auf Schloß Mainard eingetroffen wie die übrigen Gäste, und die Toilette für die Abendtafel hatte die Baronin daran verhindert, die beiden Damen zu begrüßen, als sie kurz vor 8 Uhr im Schloß vorfuhren. Dadurch kam es, daß die vielbesprochene junge Dame ihr erst vorgestellt wurde, als sich die im Schloß wohnenden und die zum Abend geladenen Gäste in der neunten Stunde in dem Prunksaal versammelten. Ihre verspätete Ankunft ließ Frau Grau und Malchen nur knappe Zeit für ihr Umkleiden, und sie betraten den Gesellschaftsraum als die letzten.

Die Baronin lächelte ungemein freundlich, als sie die Hand der hohen Mädchengestalt reichte, die Frau Grau gefolgt war, und ihre eigenen herzlichen Begrüßungsworte mit einem Lächeln beantwortete, das in der Baronin neben der Ueberraschung über die Anmut das Gefühl erweckte, diese liebliche Erscheinung schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Sie kam ihr bekannt vor. Der Eindruck vertiefte sich, als Fräulein Mühe mit leiser, wohlklingender Stimme einige angemessene Worte der Entschuldigung wegen ihrer Verspätung äußerte.

Bei dem Eintritt der beiden letzten Damen war das Plaudern der Gäste plötzlich zum Flüstern herabgesunken. Jeder nahm an dieser Erbin, die vor zwei Jahren so plötzlich aus der Gesellschaft verschwunden war, das größte Interesse, und selbst die elegantesten und blasiertesten Gäste hielten es nicht unter ihrer Würde, sich auf die Fußspitzen zu stellen und die Hälse zu recken, um einen Blick auf die schlanke, jugendliche Gestalt zu werfen.

Frau Graus lächelnde Miene zeigte keinen geringeren Stolz und Triumph, als ihr der Eindruck klar wurde, den ihr Liebling auf die Zuschauer machte. Und obgleich ihr Gesicht so heiter wie sonst war, erfüllte sie doch ein ernstes Glücksgefühl bei der Wahrnehmung, wie der Atem angehalten wurde, das Zeichen froher, zustimmender Ueberraschung, und den Bemerkungen, die sie ringsherum austauschen hörte.

»Bei Gott, das Haar wäre wert, eine Königskrone zu tragen,« meinte ein Herr.

»Ich möchte wohl wissen, ob sie das Lächeln gelernt hat oder ob es ihr angeboren ist?« flüsterte eine kleine Dame ihrer Freundin zu. »Hast du schon etwas Anziehenderes gesehen?«

»Was hat sie für einen großartigen Teint,« sagte eine andere Dame neidisch.

»Malchen hat Erfolg,« dachte froh die gute Seele. »Die Arbeit, die wir uns gemacht haben, war nicht vergeblich.«

Baron v. Cönnern blickte mit offenen Augen und offenem Mund auf das Mädchen, über das er noch vor kurzer Zeit so abfällig gesprochen hatte, und es erging ihm wie seiner Frau, auch er glaubte bestimmt, dieser Schönheit schon früher einmal begegnet zu sein.

Seine Augen ruhten beständig auf ihrem Gesicht, und es war ihm ganz eigentümlich zumute, als ob er dieses reizende, strahlende Lächeln, diese goldenen braunen Augen, diesen Haarschmuck schon einmal vor sich gesehen hätte. Aber wann und wo, das konnte er nicht bestimmen.

Frau v. Cönnerns beständige Gedanken setzten sich aus Ueberraschung und Interesse zusammen, daß ein Mädchen mit solcher Vergangenheit, ein Mädchen aus dem Volke lernen konnte, sich in so vornehmer Weise zu benehmen und zu sprechen. Sobald es ihre Pflicht als Wirtin gestattete, zog sie Frau Grau zur Seite:

»Meine liebste Adele, wie haben Sie nur dieses Wunder fertig bekommen?«

Die kleine Witwe lächelte, und voller Zärtlichkeit blickte sie auf Malchen, die schon von einem großen Kreis umlagert wurde.

»Malchen ist die empfänglichste Persönlichkeit, die mir je begegnet ist, und sie besitzt ein geradezu zwingendes Verlangen, alles zu lernen, was sie lernen mußte,« lautete ihre leise Antwort. »Auch hat sie einen vorzüglichen Charakter, davon können Sie sich bald selbst überzeugen.«

»Selbst überzeugen,« wiederholte die Baronin mechanisch und wandte ihre Blicke auf die hohe, weiße Gestalt, deren schöner Kopf nun anmutig leicht geneigt war, um auf das zu hören, was ihr der Herr des Hauses sagte. »Der Mund und das Kinn sind allerdings bezeichnend. Ja, liebe Adele, Ihr Schützling besitzt Charakter, und sie wird Erfolg in der Welt haben.«

»Wo wir auch gewesen sind, hat sie den schon gehabt. Zuerst, nachdem wir Deutschland verlassen hatten, hielten wir uns an kleinen Orten auf, wo wir niemand begegneten und die Zeit dazu ausnützten, die Aeußerlichkeiten einer Dame zu meistern. Mein Malchen hatte stets eine vornehme Natur, sie ist ihr angeboren.«

Die Zärtlichkeit, mit der Frau Grau »mein Malchen« sagte, führte auf die Lippen der Baronin ein Lächeln, dem allerdings mit ein schwerer Seufzer folgte, da der alte Schmerz um ihre Kinderlosigkeit ihr ans Herz griff. Dann schüttelte sie mit einem Ruck diese augenblickliche Niedergeschlagenheit ab und schritt auf andere Gäste zu, mit denen sie sich unterhielt, obgleich sich ihre Gedanken selten nur von dem schlanken, jungen Mädchen ablenken ließen, das mit seinem Prachthaar, den lebhaften schönen Augen eine so anmutige Würde verband, das sich niemand dem unbeschreiblichen Reiz entziehen konnte.

Zwei andere Augenpaare beobachteten Miranda Mühe ebenfalls unaufhörlich; in ihren Blicken spiegelten sich aber weder Freundlichkeit noch aufrichtiges Interesse wider, eher etwas Feindseliges und ausgesprochener Neid und Bosheit. Frau Bendler und ihre verwitwete Tochter, die Baronin Bangler, standen in einer Fensternische, umgeben von einigen Bekannten, die bei dem Eintritt der Erbin ein großes Interesse an den Tag gelegt hatten.

Ihre Augenlider flatterten, als Frau Bendler mit einem schwachen, traurigen Lächeln erklärte: »Ja, man sollte es kaum glauben, aber als ich Miranda Mühe zum erstenmal sah, trug sie einen schmutzigen, roten baumwollenen Rock, der ganz verwaschen war.«

Jetzt lachte sie auf, es klang silbern und vergnügt, und niemand bemerkte den harten Ausdruck, der in ihre Augen trat, auch nicht, daß es wie Haß in ihnen aufflammte, wie sie die Blicke senkte. Dann hob sie den Kopf und sagte leiser: »Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich nie eine derartige Umwandlung zu sehen erwartete, wie sie bei diesem Mädchen stattgefunden hat.«

»Sie wohnte bei Ihnen einige Zeit, verehrte Frau Bendler?« lispelte eine kleine, alte, unverheiratete Dame, ein Fräulein Knopf, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, gegen Frau Bendler stets eine sehr unterwürfige Haltung in der Hoffnung einzunehmen, eines Tages in das elegante Haus eingeladen zu werden. »Sie waren die allererste, die freundlich gegen sie war und ihr half, die Schwierigkeiten ihrer neuen Stellung zu überwinden?«

Frau Bendler lächelte. Das Lächeln sprach Bände, und der darauf folgende Seufzer hatte noch eine inhaltsreichere Bedeutung.

»Ich habe nichts getan, ich konnte nichts tun,« sagte sie bescheiden. »Miranda Mühe war eine Zeitlang bei mir; ich hatte sie zu mir genommen, weil ich glaubte, ihr ein Heim geben und sie glücklich machen zu können. Aber ach –!« – hier seufzte sie wieder – »man kann heutzutage von der Jugend nicht auf Dankbarkeit rechnen.«

Sie erhob die Stimme zum Schluß, um die Wirkung zu erzielen, als gehöre sie zu den tapferen Menschen, die gegen widrige Umstände ankämpfen und der Welt Dornen und Kreuze in Rosenpfade verwandeln. Fräulein Knopf war ganz Bewunderung. »Ich finde es geradezu abscheulich von ihr, von Ihnen fortgegangen zu sein. Sie hat dazu doch gar keinen Grund gehabt?«

»Absolut keinen Grund,« entgegnete Frau Bendler und blickte der Fragerin fest in die blaßgrauen Augen. »Sie ist ohne die geringste vorherige Mitteilung davongegangen. Ich glaube, es gefiel ihr auf dem Lande und bei Frau Grau besser, und deshalb ging sie dorthin. Das ist die ganze Geschichte.«

Frau Bendler zuckte graziös die Achseln, als ob das Thema einer weiteren Besprechung nicht wert sei.

»Ganz gemeine Undankbarkeit,« lispelte Fräulein Knopf. »Ich wundere mich nur, daß die Baronin von Cönnern sie eingeladen hat, wo sie mit Ihnen zusammentreffen muß.«

Frau Bendler zog noch einmal die Schultern hoch und sagte mit ihrem süßesten Lächeln:

»Ich trage dem Mädchen nichts nach und bin ihr nicht böse. Die Sache ist jetzt zwei Jahre her, und ohne Zweifel hat die Baronin das längst vergessen, wenn sie es überhaupt gewußt hat. Nein, ich bin Miranda durchaus nicht böse. Ich habe mein Bestes für sie getan, aber sie war unzufrieden. Was kann man aber am Ende von einer Person ihres Standes mehr erwarten?«

Die Verachtung, die sie in diese letzten Worte legte, hätte doch wohl Malchens Geduld auf eine harte Probe gestellt, indes ahnte sie ja nichts davon. Sie wußte bis zu dieser Minute noch nicht einmal, daß sich Frau Bendler in demselben Raum mit ihr befand, sondern widmete ihre ganze Aufmerksamkeit und alles Interesse denen, mit denen sie sich unterhielt. Eine plötzliche Bewegung in dem Gedränge bildete einen freien Durchblick zwischen Malchens und derjenigen Gruppe, deren Mittelpunkt Frau Bendler war. Frau Grau, die ihren Liebling beständig im Auge behielt, gewahrte sofort den Moment, in dem Malchen von der Nähe der Frau Kenntnis erhielt, vor der sie vor zwei Jahren aus Angst um ihr Leben geflohen war.

Die kleine Witwe verlor den Faden ihrer Rede, so intensiv beobachtete sie das ausdrucksvolle Gesicht des Mädchens, auf dem sich sofort eine Veränderung vollzog. Das Lächeln verschwand allmählich, die schön geschweiftem Lippen schlossen sich zu einer fast harten Linie, und der Ausdruck der braunen Augen, die noch vor einer Sekunde vor Vergnügen leuchteten, wurde so hart wie der des Mundes. Dann richtete sie sich etwas auf, und so gering diese Bewegung auch war, so bewirkte sie doch, daß sich ihre hohe und stattliche Gestalt noch höher reckte. Ohne nach rechts oder links zu sehen, durchschritt sie dann den von der Menge freigegebenen Gang.

»Wie geht es Ihnen, Frau Bendler?« sagte sie und reichte ihre Hand der Dame, die wohl zum erstenmal in ihrem Leben überrascht und verblüfft war. »Ich habe erst in diesem Augenblick bemerkt, daß Sie auch hier sind.«

Fräulein Knopf, deren blasse Augen jede Einzelheit an der prächtigen Toilette der Erbin umfaßten, während ihre geistigen Kräfte sich zwischen dem Erstaunen über die Unverfrorenheit von »Personen solchen Standes« und dem heftigen Verlangen teilten, der »neuesten Sensation« vorgestellt zu werden, rückte an die beiden Sprecherinnen dicht heran, damit ihr kein Wort entginge. Wenn sie jedoch in der kurzen Unterhaltung auf etwas Melodramatisches gehofft hatte, so wurde sie sehr enttäuscht. Frau Bendlers anfängliche Ueberraschung, die Fräulein Knopf irrtümlicherweise ihrem Widerwillen zuschrieb, sich von Fräulein Mühe angeredet zu sehen, legte sich rasch und das stets bereite Lächeln strahlte von ihr aus, als sie Malchens Hand ergriff.

»Mein liebes Kind,« rief sie im zärtlichsten Tone, »wie freue ich mich. Sie wieder zu sehen. Ich hatte keine Ahnung, Sie hier zu treffen. Das soll Ihr zweites Erscheinen in der Gesellschaft sein?«

Das Spitze dieser Frage entging Malchen nicht; sie übersah das aber klugerweise.

»Wir sind erst jetzt aus dem Ausland zurückgekehrt, nachdem wir fast zwei Jahre unterwegs waren. Es ist köstlich, wieder zu Hause zu sein. Ach – da ist ja Stella!« rief sie, als ihr Blick auf die etwas im Hintergrund Stehende fiel, die sich mit einem stattlichen, militärisch aussehenden Herrn unterhielt. »Ich habe sie zuerst gar nicht gesehen. Ach, arme kleine Stella,« murmelte sie, das Trauerkleid, betrachtend.

»Ja, arme kleine Stella,« wiederholte Frau Bendler mit einem Seufzer, der diesmal echt war. »So kurze Zeit nur verheiratet und mit 21 Jahren Witwe.«

Malchen beachtete die letzten Worte kaum. Der Anblick des hübschen Gesichtes ihrer ehemaligen Freundin erfüllte sie mit dem Verlangen, dem Kummer dieser Freundin rasch ihr Mitgefühl zu bekunden, und impulsiv trat sie auf die Baronin Bangler zu. Den hübschen Farben Stellas stand nichts besser als das tiefe Schwarz ihres Kleides; der glänzende Jett-Schmuck stach von dem weißen Halse ab und nistete in dem goldenen weichen Haar. Die Augen, die sie jetzt auf Malchen richtete, erschienen noch blauer als sonst und glichen noch mehr als früher den Augen eines Kindes mit dem Ausdruck rührender Sehnsucht. Einen Augenblick starrte sie das große, weiße Mädchen, die sie so herzlich begrüßte, ausdruckslos an, dann erleuchteten sich ihre Mienen.

»Ei, Malchen, liebes Malchen, du bist das? Ich habe dich gar nicht erkannt. Du hast dich ungemein verändert.«

Malchens Lachen zählte immer zu ihren reizvollsten Momenten, und sie lächelte jetzt mild und angenehm.

»Wir haben uns zuletzt vor zwei Jahren gesehen – seitdem habe ich manches gelernt.«

»Das hast du sicherlich,« sagte Stella träumerisch, während ihre Blicke über Malchen schweiften.

»Ich hätte nie gedacht –« fuhr sie fort, um dann mit verlegenem Lächeln und Erröten zu stocken.

»Du hättest nie gedacht, daß ich es lernen würde, mich geziemend zu benehmen?« meinte Malchen mutwillig. »Es hat auch lange genug gedauert, und ich habe Frau Grau gräßlich viel Mühe gemacht – aber ich wollte es lernen und habe es nun auch gelernt.«

Ihre Lippen schlossen sich wieder zu der festen Linie, die ihrem Gesichtchen den kraftvollen Ausdruck verlieh, und Herr v. Cönnern, dessen Augen immer wieder zu dem jungen Mädchen zurückkehrten, das sein Interesse in so hohem Maße erregte, äußerte zu seiner Nachbarin, einer Frau von Grund:

»Das Mädchen verblüfft mich förmlich. Je länger ich sie anblicke, desto sicherer bin ich, sie schon einmal gesehen zu haben. Ich kenne genau die Art und Weise, wie sie den Mund so herrisch schließt, auch die Wendung ihres Kopfes kommt mir ganz bekannt vor, und doch kann ich mich nicht erinnern, ihr früher schon einmal begegnet zu sein.«

»Sie ist eine ausgeprägte Persönlichkeit,« entgegnete Frau v. Grund und betrachtete Malchen mit ernsten Blicken durch ihr Pincenez. »Woher sie auch stammen mag, mit dem Kinn und dem Mund kann man ihr leicht prophezeien, daß sie ihren Weg in der Welt aufwärts macht. Die Erbschaft ist nur ein Zwischenfall in ihrer Laufbahn. Das Mädchen mußte nach oben kommen, ob mit oder ohne Vermögen.«

Frau v. Grund, die Gemahlin eines benachbarten Rittergutsbesitzers, war eine sehr kluge Dame mit einer erstaunlich scharfen Beobachtungsgabe, und während des Soupers und der übrigen Zeit dieses Abends beschäftigte sie sich mit Malchen so viel, daß sie sich in ihrer guten Meinung über die Erbin vollständig bestärkt fühlte. Der Zufall wollte, daß sie in vorgeschrittener Stunde in die Nähe von Frau Bendler kam, mit der sie flüchtig bekannt war, und sie in vager Weise mit dem jungen Mädchen in Verbindung bringend, an das sie die ganze Zeit dachte, sagte sie lächelnd:

»Fräulein Mühe bildet heute abend den Mittelpunkt der Gesellschaft. Ich glaube bestimmt, sie wird in der Hauptstadt großes Aufsehen machen.«

Kaum hatte sie die Worte fallen lassen, als sie das auch schon bereute, denn ihr schneller Blick hatte etwas Unfreundliches in Frau Bendlers Augen aufblitzen sehen, auch bemerkte sie das Herbe in dem Lächeln, das von Süßigkeit überlief.

»Vielleicht gelingt ihr das diesmal, der erste Versuch mißglückte ihr, aber vor zwei Jahren war sie natürlich auch noch ein recht rohes Material. Mit ihrem Geld wird sie indes schon vorwärts kommen.«

»Es ist weniger ihr Geld als sie selbst,« entgegnete Frau v. Grund fast schroff. »Wie ich schon bei Tisch zu Herrn von Cönnern sagte, ist meiner Ansicht nach ein Mädchen mit solchem Gesicht und solchem Charakter imstande, alles zu tun und alles zu werden, was ihr beliebt.«

»Ich wundere mich, daß sie noch keinen Heiratsantrag hatte,« sagte Frau Bendler. Der sauere Beigeschmack ihrer Worte wurde immer deutlicher. Die allgemeine für Malchen ausgesprochene Bewunderung und die Aufmerksamkeit, die man ihr den ganzen Abend schenkte, hatte es schließlich bewirkt, daß der dürre Firnis von Liebenswürdigkeit abbröckelte, der Frau Bendlers gehässige, beschränkte Seele bedeckte. »Ich hatte sicher gedacht, sie würde von der langen Reise als Verlobte zurückkehren, wenn sie sich auch natürlich vor dem nächsten Jahr nicht verheiratet.«

»Warum sollte sie denn bis zum nächsten Jahre warten wollen?« fragte Frau v. Grund interessiert.

»Ach, ich glaubte, Sie kennen ihre ganze Geschichte,« lautete die etwas kurze Antwort. Frau Bendlers Geduld schwand immer mehr, als ihre scharfen Augen das zunehmende Gedränge gewahrten, das sich sowohl seitens der Herren- als der Damenwelt um Malchen scharte. »Sie büßt ihr ganzes Geld ein, wenn sie vor dem nächsten Jahre heiratet. Das Testament setzte sie zur Erbin unter der Bedingung ein, sich entweder innerhalb dreier Jahre mit Herrn Darberg zu vermählen oder so lange unverheiratet zu bleiben. Tut sie das nicht, so fällt das Geld an Herrn Darberg, das ihm von Rechts wegen auch gehören sollte.«

»Ich erinnere mich dieser Einzelheiten wieder, nachdem Sie sie mir erzählen,« sagte Frau v. Grund nachdenklich. »Indem er sein Testament in dieser Weise abfaßte, hat Herr Haller offenbar den Wunsch gehegt, daß Herr Darberg Fräulein Mühe heiraten sollte.«

»Offenbar! Es war auch sehr wahrscheinlich, daß ein so stolzer Mensch, wie Herr Darberg, sich nicht dazu hergeben würde, ein Dienstmädchen zu heiraten, was, wie Sie wissen, Miranda Mühe war, als ihr die Erbschaft zufiel.«

»Es läßt sich wohl begreifen,« meinte Frau v. Grund, »daß es Herrn Darberg schwer, wenn nicht unmöglich schien, sich vor zwei Jahren zur Erfüllung der Testamentsbedingungen zu entschließen. Gerade so schwer fast, sich heute vorzustellen, daß Fräulein Mühe ein Dienstmädchen gewesen ist.«

Frau Bendler lachte unangenehm auf.

Frau v. Grund beachtete das nicht und fuhr fort:

»Was Herr Darberg aber auch bei der Testamentseröffnung gedacht haben mag – heute liegen die Dinge doch ganz anders. Vielleicht – macht Fräulein Mühe jetzt einen wesentlich anderen Eindruck auf ihn, wenn er sie wiedersieht.«

»Es ist sehr unwahrscheinlich, daß er ihr noch einmal wieder begegnet,« unterbrach Frau Bendler. »Er ist nach den Antipoden oder sonst weit weggegangen, um Geld zu machen; Ich glaube nicht, daß er je wieder nach Deutschland zurückkehrt.«

»Ich hörte erst vor einigen Tagen, daß er sehr bald wiederkommt,« lautete die überraschende Antwort, die Frau Bendler zusammenfahren ließ. Sie setzte sich plötzlich kerzengerade hin. »Merkwürdigerweise traf ich einen Herrn seiner Bekanntschaft, der mir erzählte, Herr Darberg beabsichtige in Geschäftsangelegenheiten demnächst auf kurze Zeit nach Deutschland zu kommen, und ich habe eine Ahnung –«. Frau von Grund achtete jetzt nicht auf die gespannte Haltung ihrer Zuhörerin – »daß Fräulein Mühe nicht allein ihm weit anziehender erscheinen wird, sondern daß sie auch tatsächlich den Wunsch besitzt, ihn anzuziehen, um ihn für alles zu entschädigen, was er durch sie verloren hat. Wirklich, es würde mich nicht überraschen, wenn ich recht behielte,« wiederholte sie, »und was das Mädchen sich einmal vornimmt, das setzt sie auch bestimmt durch. Sie wird sich nicht so leicht unterkriegen lassen.«

Die Unterredung fand ein Ende, und die beiden Damen trennten sich.

Als sich Frau Bendler später in ihrem Zimmer allein befand, ging sie dort stundenlang ruhelos auf und ab, bis die Morgendämmerung einbrach. Ihre Blicke kündeten jedem, der ihren Weg kreuzte, Unheil, und sie ballte die Hände vor Wut zusammen.

»Sie soll mir nicht zum zweitenmal entgehen!« murmelte sie vor sich hin. »Mich bekommt niemand unter. Das soll sie erfahren.«


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