August Silberstein
Herkules Schwach, Band 1
August Silberstein

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Achtzehntes Capitel.

Aster und Bolte ferner über Adam und dessen Geschichte – die Erzählung Aster's, welche er ohne Schluß gelassen, soll ihr Ende erhalten.

Im Spitalhofe hatten Bolte und Aster die blasse, kranke Frau sorgfältig nach dem Krankensale geleitet und herzlichen Abschied von der Armen genommen, der das Leben im Sterben noch einmal aufloderte, wie der erlöschenden Fackel die Flamme.

Wie ein Heiligenbild war sie anzuschauen, mit den schönen bleichen Zügen, wie ein Heiligenbild, über dessen irdischen Schmerz eine himmlische Verklärung ausgegossen liegt, daß das Auge gerührt fragen muß: ob diese Züge nicht mehr dem Himmel als der Erde angehören? Sie hatte den Beiden, innig Antheil Nehmenden, Vieles gesagt und erzählt, und die Risse ihres kranken, einbrechenden Herzens gezeigt. Aber wie in die Risse der stumm klagenden Ruine, brach auch in dieses Herz der Sonnenschein, erleuchtete und erwärmte es – vor dem Versinken und Zertrümmern für immer!

»Sie haben den Namen und die Adresse?« frug Aster.

»Alles genau notirt,« antwortete Bolte. »Helene Ludolf, Gattin des Wilhelm Ludolf, die Kostfrau Madame Lampe, Vorstadt Nro. 63. – Und so hoffe ich einmal mehr, wieder fröhlich aus diesem Hause zu gehen. Sie nicht auch?«

»Ich nehme Antheil, innigen Antheil an der Unglücklichen, und habe vielleicht mehr Verständniß ihres Jammers 262 als Sie glauben, mein Werther; aber fröhlich kann ich nicht gehen. Ist es doch mehr Ihr Beruf, der Ihnen auferlegt das stets sich herandrängende Trübe zu bekämpfen und in dem Uebel das Gute zu suchen. Aber ein Beschauer, wie ich, der blos die Leiden als düstere Uebel an und für sich, als ein innig betrübendes Geschick der Menschheit betrachtet, ein Beschauer, der seine Seele mit den wehmüthigsten Bildern beladen hat, die es gibt, und auf den sie neu einstürmen und eindrängen, wie auf mich heute – wie kann ich fröhlich gehen?«

»Sie haben Recht und legen auch ganz gerecht meine Anschauung meinem Berufe zu. Aber hatte ich nicht auch ein Recht zu sagen, Sie werden Neues, für den Schriftsteller vielleicht Interessantes sehen?«

»Das habe ich gefunden, ganz wie Sie versprochen. Der sogenannte Meister Urian ist mir eine Erscheinung, an die ich bebend denke und die mir noch nicht klar ist.«

»Das ist sehr einfach. Urian ist Diener im Anatomie-Sale, das ist sein erster Beruf. Sie wissen ferner, wir benöthigen zum Lernen Theile des menschlichen Körpers, manchmal den ganzen Leib. Die Universität sorgt wol durch das Spital für die Kadaver; aber auf die Personen, welche ihre Grablegung bezahlen, oder deren Beerdigung bezahlt wird, haben wir kein Recht. Nun bedürfen wir ganzer Skelette, wohlerhaltener, präparirter Theile; und bei dem Andrange der Wißbegierigen, ist man hierin oft der Laune, der Bevorzugung des Professors, oder dem Zufalle ausgesetzt. Der Wissenschaftsmann ist aber gerne ganz Herr des Gegenstandes, den er durchforscht, und will sich seine Zeit nicht gerne von Andern bemessen, seine Forschungen nicht beschränken lassen. Der Lernbegierige sucht also eine Leiche 263 als Eigenthum, als sein ausschließlich Gut; und wenn die Person, bei Lebenszeit einen bezüglichen Kontrakt eingegangen, so tritt dieser bei derem Tode in Geltung, und der Besitz der Leblosen wird rechtmäßig beansprucht. Nun trifft es sich aber, daß Kranke hier an Uebeln, Auswüchsen und derlei Abnormitäten leiden, die wir vom Fache als »interessant« bezeichnen, und die selten sind, ja so selten, daß sich Viele bestreben, in den ausschließlichen Besitz der Abnormität zu gelangen und dadurch ihre Kenntnisse, oder ihren Ruhm zu vermehren. – Da tritt nun eine Art von Handel . . .«

»Mit Menschenfleisch . . .«

»Mit Menschenfleisch, zum Vortheile der Wissenschaft ein.«

»Das erregt Schauer.«

»Vom Standpunkte des Laien nicht mit Unrecht; aber vom Standpunkte der Wissenschaft?«

»Könnte ich es nicht nur billigen, sondern billige es; aber mich dauert der Arme, der auch nach dem Tode nicht den andern Menschen gleich ist.«

»Das kann ich nicht ändern, so sehr ich es wünsche. Und ich sehe sogar ein, daß das Sistem zu noch ärgeren Uebeln führt.«

»Zu ärgeren?«

»Allerdings. Welcher Schauer würde Sie ergreifen, wenn ich Ihnen sagte, daß hier in diesem Hause schon Komplotte gegen die Särge und selbst Gräber geschmiedet wurden?«

»Gegen Särge, Gräber? – Heiliger Gott!«

»Und doch ist es so. Das heißt . . . blos meiner Ansicht nach . . .« sagte Bolte, aus Gründen einlenkend. »Meister Urian wird mit seinem Gehülfen, der Tiger 264 genannt, vielleicht nicht blos einmal den Leichnam im Sarge vertauscht haben. Ob er nicht Steine statt dessen hineingelegt, oder den Kirchhof um Mitternacht beschlichen, ein Grab aufgewühlt und den Körper herausgestohlen habe, um ihn einem Anatomen zu liefern, der diesen, gerade diesen Todten mit seiner abnormen Struktur bedurfte, möchte ich nicht beschwören!«

»Das ereignet sich wirklich?«

»Kann wirklich vorgekommen sein . . . es gehört zu den Möglichkeiten . . . was weiß ich?« sagte Bolte ausweichend. »Und mancher Ruhm mag manchen Sarg als Piedestal haben . . . sagt man. – Doch das ist nicht unsere Sache.«

»Aber wie kann ein Mensch nur solchen Beruf ergreifen, wie gelangt er dazu?« rief Aster befremdet.

»Das ist das einzige Räthselhafte. Denken Sie aber an keinen Sprung aus dem Wege des Gewöhnlichen in das Außerordentliche. Solche Leute gewöhnen sich nach und nach daran, sie sind meist aus den bürgerlich gewohnten Bahnen herausgetretene Leute, oder sie fangen erst beim Kranken, bei Allerlei an! Wer wird sich immer um sie kümmern! Sie sind da, und man hat ohnehin nicht gerne mit ihnen viel zu thun.«

»Also jener Urian ist eine angestellte Person?«

»Angestellt und nicht angestellt, wie Sie eben wollen. Da kann ich Ihnen gleich eine Sonderbarkeit erzählen. Der eigentliche, von dem Institute besoldete Diener des anatomischen Sales, war einer der stumpfesten, gefühllosesten Menschen. Man soll nie gesehen haben mit solcher Kaltblütigkeit und solchem rohen Spaße ein Messer oder ein Beil an eine Leiche setzen. Da starb dem Sal-Diener ein Kind; und 265 er, der tausend Leichen stumpf oder lachend unter seinen Händen gehabt, weinte, ja zerfloß in Thränen ohne Ende, ja blieb untröstlich über die eine

»Sonderbar!«

»Was mag der Grund sein? – Die Gewohnheit und das Außergewöhnliche! Daß ihm sein eigen Fleisch und Blut den Weg des andern ging – das war ihm neu! – Seit jener Zeit hat der Mann seinen Dienst nicht mehr versehen. Er hat ihn nicht gekündigt; aber er hat sich Stellvertreter ausersehen; und Meister Urian war der Mann, der eines Tages erschien, mit seinem Gehilfen, um den Dienst zu versehen.«

»Freiwillig?«

»Natürlich, wer hätte ihn zwingen gekonnt? Es ist schon lange her; unsere ganze jetzige hier praktizirende Generation weiß von dem Antritte nichts mehr; nur als eine Sonderbarkeit, als ein Stückchen Biographie, pflanzt sich dieser Zug von einer Institutsgeneration zur andern fort, da der Mann, im Uebrigen, Allen dunkel und unbekannt ist.«

»Und er versieht den Dienst?«

»Dies und noch mehr. Sie haben ein Pröbchen. Er und der Tiger handtiren so geschickt und gefühllos, als es Menschen nur möglich sein kann! – Hier haben Sie sicherlich ein kleines Nachtstück aus der menschlichen Gesellschaft. Wir sind hier eben nicht arm an solchen Bildern.«

Aster sah eine Weile still auf den Boden, als dächte er nach, dann hob er den Kopf und sagte: »Was mich besonders bewegt und mir nicht aus dem Sinne weicht, ist . . . die arme Frau . . .«

»Die arme Frau!«

»Ich habe eine wahre, tiefe Liebe kennen gelernt.« 266

»Mutterliebe, es gibt keine höhere!«

»Keine höhere wol; aber auch keine, die ihr gleich käme?«

»Keine.«

Sie glauben? – Und zweifeln Sie daran, daß Liebe, zwischen dem Manne und der Geliebten, nicht das Gleiche opfern könnte; nicht nur den todten Leib um Brod für den überlebenden Theil, wie die Mutter für ihre Kinder – vielleicht noch mehr – den lebenden Leib selbst?«

»Im Allgemeinen würde ich meine Zweifel nicht aufgeben; die Ausnahmen begründen keine Regel.«

»Sehr wohl. – Doch glauben Sie nicht mit mir: was im Allgemeinen unter Liebe verstanden wird, ist es nicht, und wahre Liebe ist selten?«

»Es wundert mich, dies von Ihnen zu hören, der Sie, als Schriftsteller, der Liebe als täglichen Stoff am meisten bedürfen. Apropos, Ihre Erzählung; hieß sie nicht . . . wenn ich mich recht entsinne . . . Ernst und Adele . . .«

»Ernst und Adele,« stimmte Aster mit bewegtem Tone und düsterem Blicke ein.

»Handelte sie nicht auch von Liebe? Also Sie meinten sicher darunter eine solche seltene.«

»Sie ist selten, sie ist es!« rief Aster mit Heftigkeit und überfliegender Röthe in den Wangen aus.

»Sie sind uns den Schluß schuldig geblieben, Sie brachen so unerwartet ab. – Wie führen Sie die Sache zu Ende?«

Aster warf stumm einen bangen forschenden Blick auf den Sprecher, dann öffnete er die bebenden Lippen und sprach mit einem Tone, der lebhaft an seine Vorlesung erinnerte: 267

»Damals wußte ich den Schluß selbst noch nicht – aber jetzt – ich habe ihn mittlerweile gesucht – denken Sie, wie wäre es – Ernst lernt kennen, daß Leichen noch einen Werth haben und um Geld gekauft werden – er lernt kennen, daß man den Leib hingeben kann, um theuere vielgeliebte Personen zu retten – Ernst . . . der Schluß findet sich! – Leben Sie wohl, ich muß eilen!«

Und ohne weiter ein Abschiedswort zu hören, eilte er rasch hinweg. Ehe Bolte, von der plötzlichen Veränderung in Ton und Benehmen, sowie von dem raschen Abschied erstaunt, sich fassen konnte und ihm nachrufen wollte, war der Seltsame schon verschwunden, unsichtbar geworden.



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