August Silberstein
Herkules Schwach, Band 1
August Silberstein

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Fünfzehntes Capitel.

Welches abermals nach einem düstern Orte, dem Spitale, führt – zwei uns bekannte Gestalten verhandeln sehr Ernstes über Leib und Seele. –

Von all den Plätzen an denen der Mensch sinnend verweilt, mögen die Wenigsten jenen Platz beachtet haben, der ein Gebäude trägt, dessen Name so häufig an unser Ohr gelangt, daß der Eindruck den derselbe macht, abgeschwächt und durch Gewohnheit gemindert ward. Sein Name ist – »Spital!«

Und doch ist kein Schlachtfeld, keine Regentenburg so ereignißreich, so seltsam und tiefbewegend an Erlebnissen, als ein Spital, das täglich deren neue birgt und erzeugt!

Ein Spital! Da stehen die ernsten Mauern, still und stumm, die Glasscheiben glotzen so nichtssagend in die Luft hinaus. So nichtssagend; doch durch diese Scheiben haben hunderte, tausende Augen das letzte Bischen Licht der Welt für sie eindringen gesehen, das letzte Stückchen Himmel gemessen, das ihnen so unendlich reichen Trost, oder so furchtbaren Schauer der Gerechtigkeit eingeflößt. 233 Hier haben tausende Augen in schlaflosen Nächten zu den wenigen sichtbaren Sternen gelugt, das erlösende oder todesbringende Morgengrauen suchend erharrt. – In diesen Wänden, welche Welt von Jammer und Trost! – Der Jüngling, der auf dem Lager sich wälzend ruft: ich will nicht sterben, will nicht! und den der Tod unnachläßlich erfaßt; – der herabgekommene Reiche, der einst vom Prunk umgeben, jetzt einsam hier verendet; – der Elende, der die Menschheit ein Lebenlang verachtet und dem sie doch noch in seinem letzten Augenblicke mildversöhnend die Hand reicht; – der Arme, der losgerissen von den Seinen, sie draußen weinend stehen weiß, und doch, in ihrer Nähe, ohne sie verscheiden muß; – die tausend und tausend Abwechslungen in denen das Geschick hier Elend bietet, Herzen bricht, Augen verlöscht, Menschen trennt und Bündnisse scheidet auf ewig, wer zählt sie, wer wagt die Stimme zu erheben oder die Feder anzufassen, um die Geschichte nur eines einzigen Tages eines solchen Hauses zu erzählen oder zu schreiben?

Wir befinden uns in dem Innern eines solchen Spitalgebäudes. Die hohen Mauern mit den Reihen reinlicher Fenster sehen so geheimnißstumm darein.

Der Hof ist mit Bäumen bepflanzt, lieblich duftende kleine Blumenbeete sind hie und da ausgestreut, und die grünen Matten der kleinen Wiesenplätze sehen so einladend, so wohlthuend jedes menschliche Auge an! – Jedes? Und wie erst das Auge der Kranken, die nach wochen-, monatelangen Leiden zum ersten Male wieder, auf einem Stabe gestützt, aus den Siechenmauern zu ihnen herauswanken und den lichten Sonnenstreif, der hie und da über ihnen dahinliegt, begrüßen, als den ersten ihnen wiedergegebenen Lichtstrahl Gottes? – Die menschliche Sprache ist schwach, 234 das erkennt Jeder, der sich bestrebt, für das Gefühl solchen Augenblickes Worte zu finden, die der Empfindung nur halbwegs gleich kämen!

Die Allee, welche von dem einen Eingange gerade zu einem andern führt, welcher einen zweiten Hof öffnet, ist rechts und links, in Zwischenräumen, mit Bänkchen besetzt, die der Schatten der leise rauschenden Bäume bedeckt, und auf denen Halbgenesene den erfrischenden Athem der Natur einsaugen. Den Weg gehen Kranke, Gesunde, von denen sie besucht werden, Aerzte, Krankenwärter, Leichenträger, allerlei Leute, die in irgend einer Beziehung zum Hause stehen, und mitten unter ihnen finden wir zwei bekannte Gestalten.

Die eine ist schlank, kräftig; der schwarze Sammtrock umschließt einen markigen Wuchs, der freie Hals ist von einem weißen Hemdkragen umsäumt, unter dem ein schwarzes Seidentuch seine wallenden Schleifen vorstreckt, und der Kinnbart des lebhaften Sprechers bewegt sich bei jedem Worte thätig auf und nieder. Wo haben wir diese Gestalt schon gesehen? –

War's nicht in der »Akademie«?

Dort war's. Und die andere Gestalt, welcher der Erstere eben, die Hand reichend, gegenüber tritt, dies blasse Gesicht, diese feinen, für die unverkennbare Jugend aber erschrecklich alten Züge mit dem schwarzen Feuerauge und den weichgelockten braunen Haren, diese zierlich gebaute Gestalt, sorgfältig rein aber ärmlich gekleidet – sollten wir sie nicht ebenfalls schon gesehen haben?

Ja wol, nicht minder in der »Akademie«. Gedenken wir doch noch des sonderbaren Vorlesers der Erzählung, der, rasch abbrechend, das Ende schuldig blieb, und erinnern 235 wir uns ja an den Herrn Abendpräsidenten, der so glanzvoll die werthe Versammlung leitete!

Sie heißen – Ernst Aster und Hans Bolte.

»Ei, guten Tag!« grüßt Letzterer lebhaft, mit kräftiger Stimme. »Sieht man Sie wirklich einmal leibhaftig auch am Tage, Herr Aster? Es freut mich, Sie zu sehen; werde ich doch den Leuten sagen können, daß Sie wirklich existiren und nicht blos räthselhaft kommen und verschwinden, wie ein Saint Germain, ein Cagliostro . . .«

»Räthselhaft? – Ich danke für Ihre freundliche Erinnerung. – Aber, Werthester, habe ich nicht ein Recht, Sie und die ganze Akademie für ein eben solches Räthsel anzusehen, als Sie mich?« antwortete Aster, wol freundlich, aber doch nicht ohne etwas sehr Rückhaltendes in seinem Tone.

»Gewiß.«

»Es kommt nur auf den individuellen Standpunkt an; nicht wahr?«

»Allerdings Herr Aster; und Sie nehmen den Scherz doch nur wohlgemeint an?«

»O wenn es weiter nichts ist, dann grüße ich Sie doppelt!« Aster schüttelte jetzt erst die dargebotene Hand. »Hätte ich doch am Wenigsten geglaubt, ein Mitglied jener Versammlung hier zu finden.« –

»Das Verwundern wäre hier eher auf meiner Seite. Dies Haus ist meine Werkstätte, meine Schule, die Heimat meiner Zukunft. Die »Akademie« ist der Tummelplatz meiner Laune, die Turnanstalt, in der sich mein Bischen Witz ausstreckt, der den ganzen Tag in Hörsälen sich schief und lahm gesessen. – O Herr Aster, ich fühle recht wohl, was Sie mit Ihrer Befremdung sagen wollen, ein Mitglied und noch dazu vielleicht den Abendpräsidenten jener Akademie, 236 hier zu finden!« sagte Bolte ernst, wechselte aber gleich wieder den Ton und lachte auf. »Haha, die Akademie! – Waren Sie nicht auch Student, Herr Aster? Wissen Sie nicht, daß man sich als solcher oft toll geberdet und, mit der ernstesten Miene, der Welt dabei glauben machen möchte, man halte die Verkehrtheit für das einzig Richtigste, während man doch selbst vom Gegentheile fest überzeugt ist? – Je toller ich es treibe in der Akademie, desto mehr joviale Genialität sehen manche Mitglieder darin! Und ich mache den Spuk mit, indem ich mich köstlich über die ernsten Gesichter und die geistige Höhe der genialen Akademiker amusire. Sie wissen nun, werther Herr Aster, warum ich in die Akademie komme und warum ich mich hier im Krankenhause befinde. Aber darf ich fragen, was den Poeten, den Schriftsteller – ich unterscheide Sie wohl von der Akademie – hierherführt?«

»Sie sind mithin Arzt, Doktor?« antwortete Aster ausweichend.

»Angehender, im Begriffe es bald zu werden.«

»Und ich, ich bin Einer der Vielen hier, die müßig vorübergehend, einkehren, aus einem unbestimmten Drange. – Neugier? Nennen Sie es nicht Neugier. Ich würde eher sagen, es ist die Lockung des Unglückes, es von Angesicht zu Angesicht zu sehen und seine Schreckgestalt zu gewöhnen; es ist vielleicht eine Verwandtschaft des Begriffes Leiden, die mich hier hereinzog und mich, in einer Art, schauerlichwohl empfinden läßt.«

»So denken nicht Viele. Mich lehrt Erfahrung, daß die Leute den Ort meiden, mit Schauer den Boden betreten und die Passage umgehen, wo sie können. Wird man doch nicht selten als eine Art Ungeheuer betrachtet, wenn man 237 hier fröhlich, oder nur ruhig seinen Zweck erfüllend herumgeht.« –

»O beachten Sie Jene – die alberne Masse? – Legen Sie ihr nicht Ihr Herz klar wie ein Warenmagazin vor Augen, behalten Sie in Ihrem Innern einen kleinen Raum, den Sie nicht von Jedem betreten, durchsuchen, beschmutzen lassen wollen – dann sind Sie ein Ungeheuer, ein Sonderling, ein fremdartiger Auswuchs! – Die alberne Masse!« rief er und schüttelte mit einem finstern Blicke sein braunes gelocktes Har. Dann fuhr er ruhiger fort, gleichsam um den Eindruck zu verwischen, den er mit seinen Worten gemacht zu haben besorgte: »Sie sind also ein Arzt . . . .«

»Ein Arzt des Körpers, leider nicht – der Seele!« warf Bolte ein, der den Zustand seines gegenwärtigen Gesellschafters erkannt haben mochte.

»Der Seele?« erwiederte überrascht Aster, indem er ihm forschend ins Auge blickte. »Wie das? Sie sprechen von Seele und hier am Orte der Leiber? Ein Arzt und ein wahrhafter Glaube an Etwas, was nicht sichtbar, fühlbar in unserem Körper liegt?«

»Das überrascht Sie? Ich wollte eher überrascht vom Gegentheile sein.«

»Wollten Sie also übersehen, daß Ihr Stand der Zweifler, der vollständigsten Materialisten mehr zählt, als jeder andere; wenn selbe sich auch meist hüten, es zu bekennen, weil es mit ihrem täglichen Vortheile im Widerspruche steht?« –

»Das kann ich leider nicht in Abrede stellen. Aber zählt nicht der Stand, je höher, je würdiger und unerschöpflicher er ist, desto mehr Stümper, Gewissenlose, 238 Oberflächliche – auch Irregeleitete? Und soll ich es vermeiden, vor Ihnen zu sagen, daß gerade der ärztliche Beruf von diesen Uebeln meist heimgesucht ist?«

»Wir werden uns verstehen!« sagte Aster eifriger und hing sich in Bolte's Arm, um mit ihm in der Allee auf und abzuwandeln. »Es liegt ein eigenthümlicher Reiz vielleicht darin, gerade an diesem Orte« – »und jetzt,« sagte er leiser sich – »über diesen Gegenstand zu sprechen, der mich oft nachdenkend gemacht. Ich muß es sagen, ich hatte einst selbst Lust, den ärztlichen Beruf zu ergreifen; aber ich dachte mich ans Krankenbette, stets die eingefallenen, hagern Gesichter, die matten Augen mich anstierend, ich dachte die tausend und tausend Auswüchse, Verrenkungen, Abnormitäten jedes einzelnen Gliedes des Körpers, in tausend Veränderungen und zurückschreitenden Abwechselungen wiederkehrend – und mir schauderte vor diesem Leben! Ja mein eigenes Ich kam mir erschreckend, nichtig, verächtlich vor, in seinem Fleisch und Bein und Häuten, Muskeln, Nerven und Höhlen, eine wandelnde Maschine, die gespeist, gepflegt sein will, um zu gehen, eine Maschine, sonst nichts! – Und wenn ich mir erst mich selbst dachte, stehend an dem Kadaver eines Andern, in seinem Blute, in seiner Brust, in seinem Herzen wühlend – in dem Herzen das gefühlt, geliebt, gehaßt, und das nun vor mir läge, ein Gewebe von Fäden und Zellen, blutig, sonst nichts – ich schauderte und trat zurück, und rettete mich selbst vor mir, ja alle Andern, die ganze Menschheit in meiner Anschauung . . . . so lange ich konnte!«

»Jetzt aber ist die geistige Anschauung vorüber und Sie kehrten wieder zur ›Maschine‹ zurück? – Sonderbarer Gedanke!« entgegnete Bolte angeregt. »Und ich, der ich in 239 den Studienjahren der Philosophie einer der ärgsten, ja gleichgültigsten Zweifler war, rettete mein inneres Leben gerade durch meinen Beruf als Arzt.«

»Wie das? Erklären Sie mir,« sagte neugierig Aster.

»Denken Sie sich nun gleich das Abschreckendste, denken Sie nun eben mich, an dem blutigen todten Körper stehend und mit kühnem Griffe in den hohlen Busen greifend, ein Herz herausheben, an dem oben und unten die dicken Adern voll des geronnenen Blutes starren. Denken Sie sich eben mich. Und ich setze mein Messer an und schneide das Herz mitten aus einander. – Vor mir liegen die Kammern, abermals mit braunrothen Blutklumpen voll, und ich sehe das ganze Gewebe des Herzens gerade nicht viel anders als einen wirren Zwirnknäuel . . . was denke ich da?«

»Nun, Sie denken an die Maschinerie des Ganzen, suchen die Fehler.« –

»Ich gehe auf diese Ihre Annahme ein; ich denke also an die Maschinerie, an die Stärke derselben, an die Fehler und denke weiter, wie Sie selbst sagen: das hat gefühlt, geliebt, gehaßt, gesorgt, zärtlich Andere in sich geschlossen – wo liegt das Alles nun? – Wo ist es? – Ja im Lebenden ist es anders, werden Sie einwerfen! Wir haben aber lebenden Thieren das Herz aus dem Leibe genommen für die Wissenschaft, wir haben dem eben getödteten Menschen Gleiches gethan; und was haben wir gefunden? Bis auf die geringen nothwendigen Abwechslungen, dasselbe. – Wo ist das Fühlen, Lieben, Hassen, Sorgen also? – Es liegt nicht im Herzen? Gut, es liegt im Gehirne. – Rasch den Schädel jenem langgestreckten todten Körper auseinandergesägt, aufgebrochen, daß sich der Kopf öffne wie eine 240 Schale mit hohlrundem Deckel. – Da liegt abermals ein Gewebe von Millionen und Millionen Fäden; das hat Sterne in Millionen-Meilen-weiter Ferne entdeckt, ihre Umlaufszeiten, ihre Tage und Nächte, ihre Jahreswechsel, ihre Dichte und Schwere genau berechnet; das hat Maschinen erfunden, oder Staten klug geleitet; das hat, nehmen wir nur, ein Handwerk besorgt, die alltägliche Küche geliefert; das hat gedacht, erinnert, gelernt, errathen; – wo steckt das Alles? – Und wir suchen den Körper auf und ab, kein Knochen bleibt ganz, das Mark wird erforscht, jede Muskel zerschnitten, zerkocht, das Fett gewogen; – wir bekommen Säure, Erden, dies und jenes chemische Produkt; – wo aber bleibt die Seele? – Setzen Sie all dies zusammen, verwickeln und verarbeiten Sie es durcheinander wie Sie wollen, Sie bringen nichts Organisches zuwege, vielweniger Etwas das denkt, fühlt, erfindet, liebt, haßt, sorgt – und . . .«

»Sie folgern daraus . . .?«

»Und ich folgere daraus – das große Unbekannte – ich ahne es, ich nehme es als gewiß an – ich kurire meine eigene Zweifel – ich bin der Arzt meiner Seele und rette meine Seele mir selbst!«

Aster stand düster mit zu Boden gesenktem Blicke, als dächte er nach. Dann brach er rasch das Stillschweigen. »Und Sie glauben dann noch an Etwas nach dem Tode? Hoffen, daß es hier nicht ganz zu Ende sei? Daß man nicht täglich seine Frist setzen kann, ohne anderswo das Warum verantworten zu müssen?« fragte er hastig, indem ihn bald Röthe, bald Blässe fast fieberisch überflog.

»So oft ich neuerdings und wenn auch stets weniger 241 daran gezweifelt, ging ich ins Spital, in die Leichenkammer, und ich kam gestärkt heraus.«

»Gestärkt aus der Leichenkammer!?«

»Allerdings. Doch nehmen wir vorerst den Ausdruck ›Spital‹, den ich gebraucht, er ist der geringere. Sehen Sie diese Mauern um sich, sehen Sie diese Leute an . . . welche Gebrechen sind hier! – Tasten Sie auf die Glieder Ihres Körpers – denken Sie an jeden Theil Ihres Innern, den kleinsten wie den größten; – kommen Sie mit mir in die Zimmer: in den Betten herum liegen all die Leute, denen es an jenen äußern und innern Theilen krankt, die in dem bedauernswerthesten, oft ungeahntest seltsamen Zustande sie besitzen. – Und ich denke nun an mich . . . ich bin heil an allen Theilen, ich sehe, ich gehe, ich gebrauche meine Hände, jeder Finger, jedes Glied, Alles ist in Ordnung; und ich soll alle Andern, die in Leiden hier sind, die fühlen, denken, lieben und hassen, als verworfen auf immer, als ein zufällig so aussehend Stück, ein Nichts betrachten, das nur noch nicht in Verwesung übergegangen? – – Ich gehe in die Leichenkammer: da liegen die Hüllen nebeneinander, wie Stücke Holz. – Zu Ende für immer? – Fleisch und Knochen sind da; aber alles Andere? Ich schaue umher – nirgends ist es auf Erden. – Auf Erden! – aber . . . das Universum ist so groß!«

»Sie gehen durch Schauer zur – Freude?« fragte Aster, besonderen Ton in jedes Wort legend.

»Durch Nacht zum Licht,« entgegnete Bolte; »ganz gewiß! Wollen Sie Zweifel über jenes Licht hegen? Wolan denn; können Sie mir gütigst sagen, was Schall ist? wie er sich tausend Schritte fort bewegt und, von hundert Instrumenten ausgestoßen in den unendlichen Luftraum, 242 doch zusammen in unsere kleine Gehöröffnung sich findet? Noch besser: wollen Sie mir gütigst sagen, wo der elektrische Funke steckt, wenn Sie den Draht betrachten, den er durcheilt; und wollen Sie mir erklären, wie er hunderte von Meilen durcheilt, während Sie blos das Auge zucken, Sie, der Sie selbst zu nur Einer Meile mehrere Stunden bedürfen? Sie sehen ihn nicht – er langt an! Sie wissen nicht, was er ist – er ist aber dennoch! Sie fanden ihn früher nirgends; die Gegenstände, aus denen er kam, bleiben wie sie waren; aber er ist aus ihnen gekommen! – Sehen, hören, riechen, fühlen – was will das Alles sagen?! Sie besitzen die Eigenschaften. Wollen Sie mir aber erklären, wie der gegen den Menschen elende, niedrige Hund, an der Wollfaser, die an einem Strauche hängen geblieben, seinen Herrn riecht, ihm meilenweit richtig nacheilt? Wie sieht das Infusionsthierchen, das Ihr Auge gar nicht sieht, in dem Tropfen, das sein Meer ist, jenes noch unendlich kleinere Ding, das seine Nahrung ausmacht? Diese genannten Geschöpfe besitzen Werkzeuge der Sinne; wir aber auch – und wie verschieden sind alle von einander! Was will also unser Hören, Denken, Sehen und unser daraus folgendes Wissen sagen? Nichts! – Wenn wir nicht den Schluß daraus ziehen, daß ohne unsere Maschinerie noch ein höheres Etwas da ist, das befreit von seinem schlechten Werkzeuge, klarer, besser sich entfaltet, dann ist alles Wissen Stückwerk, falsch!« –

». . . . Und so haben Sie zu zweifeln aufgehört?«

»So habe ich zu zweifeln aufgehört!«

Einen Augenblick stand Aster stille und sah düster zu Boden, dann hob er den Blick, streckte beide Hände nach seinem Gegenüber und faßte Bolte innig bei den seinigen. 243

»Ich danke Ihnen,« sagte er, indem er seine Brust durch einen Seufzer erleichterte; »Sie haben mir in einem Augenblicke Trost gegeben, wo es arg in meinem Innern stand, arg, wild, fremd, wo es fluchend gegen Andere, sich und . . . .«

»Und das ganze Weltall war,« sagte Bolte mit einem erkennenden Blicke.

»Und wo Gedanken an Zerstörung . . . Zerstörung selbst . . .«

»Ihnen kein Uebel schien?«

»Vielleicht noch mehr als das!«

»Noch mehr!?« – Und der junge Arzt trat einen Schritt zurück.

Beide schwiegen. Ueber Aster's Gesicht flog die Röthe, verschwand und kam wieder, und sein Auge leuchtete in unheimlichem Glühen.

»Ei, mein Werther!« brach Bolte das Stillschweigen, neu belebt und mit kräftiger fröhlicher Stimme; »wollen Sie eine Kur?«

»Die wäre!«

»Kommen Sie in die Leichenkammer!«

»Nein nein, dies nicht; ich bitte Sie, jetzt nicht! Wer weis, ob Ihre Lehre nicht gerade zum Unheil ausschlagen würde!«

»Ich fürchte nicht! – Doch, Ihre Stimmung sagt jetzt der Gelegenheit nicht zu. Wandeln wir noch ein Wenig auf und ab; vielleicht finden sich noch Anknüpfungspunkte hier, die praktisch meine Meinung verstärken und ihr eine Illustration geben. – Kommen Sie, Freund, beachten Sie hier, ein stiller Zeuge. Sie sind ja Schriftsteller; vielleicht 244 gibt Ihnen Manches Anregung, Stoff. Ich will Ihr Cicerone sein; und wenn Sie sonst keinen Vortheil ziehen, so zerstreuen wir uns Beide.«


Sechzehntes Capitel.

Fortsetzung – Meister Urian und sein Geschäft – seine grauenhafte Praxis – die kranke blasse Frau.

Aster und Bolte gingen eine Weile, stille die lange Mittelallee entlang.

Ein Mann kam ihnen nach kurzer Zeit entgegen, in schwarzen abgeschabten Kleidern, aber etwas Ehrbares affektirend und mit dem gemeinen rothgedunsenen Gesichte nach allen Seiten lugend, als suche er Etwas und wolle es nicht merken lassen. An seiner Seite, ein Wenig zurück von ihm, schritt eine untersetzte, gedrungene Figur der niedersten Sorte in Kleidung und Ansehen, wild, aufgedunsen und versoffen, vom Scheitel bis zur Sohle ein abschreckendes Bild.

»Ah Meister Urian!« sagte Bolte, den Ersteren erkennend. »Gut daß ich Euch treffe. Was ist's mit der alten Frau?«

»Gott zum Gruße!« erwiderte der Angeredete frömmelnd, indem er den Hut vom Kopfe nahm, auf dem noch ein kleines schwarzes Sammtkäppchen sitzen blieb. »Mit der Marthe, die den werthvollen Auswuchs am Schädel besitzt?«

»Mit derselben.«

»Hm, Sie will nicht d'ran, will nicht, bester Herr.« 245

»Ei, warum?«

»Kaprizirt sich die alte Seele ihr Grab zu haben und, wie sie sagt, in Ruhe zu liegen.«

»Ich bedauere die Laune; sie bringt die Wissenschaft um einen Gewinn und mich selbst um die Hoffnung, mich durch eine Untersuchung auszuzeichnen; es thut mir doppelt leid.« –

»Und Sie wollen sie also in Ruhe lassen?« fragte der mit »Meister Urian« Angeredete demüthig, aber heimlich grinsend.

»Muß ich nicht? Hat Marthe nicht das Recht wie jede andere Person, die Millionen besitzt? Sie hat vielleicht Jahrelang gespart, um sich ein Stückchen Erde zu kaufen, ein kleines Haus von sechs Schuh Länge und zwei in der Breite, da sie fürs Leben keines erringen gekonnt. Wenn sie am Leben bleibt, woran ich zweifle, möge sie glücklich sein, und wenn sie stirbt, so ruhe ihre Asche in Frieden.«

»Und der Schädel, der Schädel, Herr Doktor Bolte?«

»Natürlich der dazu.«

»Aber der kostbare Verlust, der kostbare Verlust!« rief bedauernd Meister Urian aus, dem es vielleicht mehr um einen andern Verlust zu thun war.

»Ich bedaure ihn, mein bester Leichenlieferant; aber ich werde ihn zu verschmerzen suchen.«

»Glauben Sie nicht«, sagte der Lieferant mit leisem, schleichendem Tone, und indem seine Hand sonderbar am Stockknopfe zuckte; »glauben Sie nicht, mehr Geld, mehr, würde sie anders stimmen?

»Dreißig Thaler ihr, ohne Euch zu rechnen; haltet Ihr es nicht für genug?«

»Genug, genug, für ein so ärmlich Stück Knochen. 246 Bekommen wir doch für drei, fünf, zehn Thaler andere; aber der Schädel, der Schädel!« Und wieder zuckte es in den Fingern am Stocke.

»Ei, Meister Urian, ist es Euch wirklich so um mich und meine Forschungen, oder,« sagte mit kaltem Blicke höhnend Bolte, »um . . . .«

Urian, welche Bezeichnung gewiß nur ein Spitzname war, mochte als Kenner der Leiber zugleich Seelenkenner, besonders jener Klasse sein, mit der er es zu thun hatte.

»Entschuldigen Sie,« sagte er rasch, »ich sehe dort eine Partie, mit der ich sprechen muß . . . . Gott erhalte Sie!« setzte er, demüthigst sich verbeugend, mit einem frömmelnden Tone hinzu und eilte fort. Sein erschreckender Adjutant, der Tabak kauend hinter ihm gestanden war, folgte ihm getreu, wie ein Hund.

»Kommen Sie ihm nach, kommen Sie . . . das ist mir neu und interessirt mich!« rief Aster und zog schon seinen Freund am Arme mit sich fort, denselben Weg, den der seltsame Mann gegangen war.

»Ach, ein Leichenhändler ist Ihnen neu; Sie wissen vielleicht noch gar nicht recht, was er bedeuten will und wer der Mann eigentlich ist? – Ich will Ihnen das auseinander setzen.«

»Ich denke wol, er heißt nicht Urian.« –

»Ich müßte wirklich lügen, sagte ich, die Kliniker kenneten ihn hier unter einem andern Namen, als diesen.«

»Kommen Sie nur jetzt, Freund . . . wir sind in seiner Nähe . . . sie sprechen, lassen Sie uns horchen . . . ich bitte, sprechen Sie nicht . . . ich will horchen . . .« Und mit fieberhafter Aufregung ging er in die Nähe der 247 Gruppe, die Urian mit einem Manne bildete. Ein leises Zittern in Aster's Armen ward von Bolte gefühlt.

»Nun, Franz Gruber,« sagte Meister Urian zu einem Manne, der im grobleinenen Schlafkittel des Spitales und mit der dazu gehörenden Mütze auf dem Haupte, eine wahre hektische dünne Gestalt zeigend, gebeugt dahin sah. Offenbar war er ein Rekonvaleszent des Hauses. »Was ists mit Euch; Ihr solltet Eurem Weib und Kinde doch nicht gar jeden Groschen entziehen; es ist ein Unrecht von Euch, eine – Sünde, wahrhaftig!« setzte Urian demüthig hinzu.

»Geht, geht!« rief im hohlen, hüstelnden Tone der Angeredete. »Geht mir vom Leibe, Ihr Todtenvogel, Ihr Rabe und krächzender Geier! – Ihr wollt alle Leute umbringen. – Ich lebe und will leben und werde leben!« rief er mit möglichster Anstrengung der Stimme. »Euch zum Trotze und Euren verfluchten Thalern, die Ihr mir für meinen Leib anbietet!« Ein starker Husten folgte auf diese gewaltsam aus der schwachen Brust gestoßenen Worte.

»Gott segne Euch, Franz Gruber,« sagte Urian fromm, und hob bei dem Worte Gott ehrerbietigst seinen Hut in die Höhe. »Ich wünsche jedem Nebenmenschen das Beste, und bitte Gott darum, ja für Euch besonders, Gruber, da ich Euch oft schon hier gesehen« – (ein stechender Seitenblick) – »aber eben weil ich Euch kenne und weiß, daß die Euren in Noth sind, dächte ich . . . wenn Ihr stürbet . . . .«

»Und ein Arzt wühlte in meinem Leibe, für einige Thaler, und stopfte mich aus, und stellte mich in einen Kasten!« ächzte mit hohler Grabesstimme der Patient. »Gehet! – sie werden ohnehin mich nicht ganz in Ruhe lassen, von Spitalswegen; – aber begraben werden sie mich – und 248 das erst in zwanzig, dreißig Jahren, vielleicht leb' ich noch länger!« Darauf folgte abermals das starke Husten.

»Wünsche es vom Herzen,« sagte der Meister und faltete die Hände. »Und seht, es ginge ja Niemandem besser dann, als Euch, und Keinem schlechter als mir; – ich würde ja im Voraus Thälerchen . . . .«

»Geht, geht – ein Pfennig von Euch und ich muß sterben! Fort, fort, Ihr Rabenvogel! Und wenn die Meinigen verhungern, ja eher sollen sie verhungern, als für meinen Leib von Euch . . . Nichts, nichts! Fort mit Euch! oder ich zeige Euch der Hausdirektion an, daß Ihr die Leute ärgert, krank macht!«

»Gott hüte Euch, Gruber! Gott befohlen!« sagte Meister Urian und ging rasch, kaum er die letzten Worte gehört, davon, während der Andere hüstelte und ärgerlich hinter ihm drein murmelte.

»Sonderbarer Mann, sonderbares Geschäft!« rief Aster aus. –

»Das haben Sie nicht gewußt, nicht geahnt?«

»Wie sollte ich! – Dort bleibt er wieder stehen!« flüsterte Aster zu Bolte, und Beide, immer anscheinend sorglos wandelnd, folgten hinter dem Meister Urian und dessen Gehilfen. – Unter den Patienten, die im Hofe sich des Bischen Natur erfreuten, war eine geisterhaft bleiche, junge Frau, mit feinen, schönen sanften Zügen. – In ihrem Gesichte lag ein Adel, eine rührende Zartheit des Ausdruckes, daß man kaum ohne Herzensbewegung an ihr vorübergehen konnte. Die schwarzen großen Augen leuchteten unter den schönen Bogen und sahen so feucht, wie die Augen des weinenden Rehs. Ihre weichen schwarzen Hare waren mit Mühe unter der ärmlichen Spitalhaube zusammengehalten, 249 und die langen seidenen Flechten und Strähne drängten hie und da aus der Haube hervor. So jung die Frau aussah, hatte sie doch einen Stock in ihrem Schoße gelehnt und stützte die feinen, bleichen Hände darauf, während ihr ganzer Körper die Sonnenstrahlen, wie ein Fröstelnder, begierig in sich aufzufangen schien.

»Gott segne Euch, gute Frau!« sagte Urian, zu ihr schleichend, nachdem sein Kennerblick gerade sie unter Allen ausgesucht zu haben schien. »Gott segne Euch! Schon lange da? – Sie sind mir neu, ganz neu . . . . Kann ich dienen?« Und er nahm, indes er sich neben sie setzte, eine schwarze große Dose hervor, freundlich grinsend eine Prise bietend. Der Tiger war in der Nähe geblieben, und Aster mit Bolte suchten im Rücken der Sitzenden stets ihnen nahe zu sein.

»Danke, danke,« sagte freundlich abwehrend die Kranke. »Sechs Wochen sind's, bester Herr,« sprach sie weiter, in reiner edler Sprache, doch mit einer Stimme, die alles Klanges ledig und sehr schwach war. »So lange Zeit denke ich nicht mehr hier zu bleiben!« Und düster den Kopf bewegend, seufzte sie nach diesen Worten.

»O gewiß nicht, Sie werden bald nach Hause gehen, frisch und gesund.«

»Nach Hause? Sicherlich; aber dorthin . . . wo wir Alle zu Hause sind!« Und sie zeigte mit der bleichen schönen Hand und dem feuchten Blicke nach Oben.

»Ei, was Ihnen einfällt! So jung und Sie denken daran?«

»So jung, so jung! Ja wohl!« und sie bedeckte mit beiden Händen das rührend schöne, erbarmenswürdige Gesicht. Der Doppeltiger benützte die Gelegenheit, seinem 250 Herrn einen einverstandenen höhnischen Blick zuzuwerfen, der viel über die junge Frau sagen wollte.

»Wissen Sie,« fuhr sie fort, »zu welchem Trakte ich gehöre? – Dort!« Sie zeigte mit dem Stocke nach einer Fensterreihe. »Innerliche Kranke – steht ober der Thüre, und auf der Tafel ober meinem Bette ›Phthysis‹, Sie wissen was das heißt? . . . . Mit uns Auszehrenden geht's so, heute noch Athem und etwas Leben, und morgen, in einigen Tagen . . . .«

»O morgen, einige Tage . . . wo denken Sie hin! Sprechen Sie von Jahren, Jahren!« sagte Meister Urian, während er seitwärts Blicke nach der bleichen Gestalt warf, die das Gegentheil nur zu eifrig ausdrückten. Der Tiger drückte ein Auge zu, telegrafisch für seinen Meister; und dieser antwortete ihm gelassen, durch zustimmendes Kopfschütteln, das die arme verhöhnte Kranke für ein Bedauern halten konnte.

»Sie gehören zum Hause? Nicht wahr?« fragte sie.

»Apotheke, bei der Apotheke,« sagte Urian; und der Doppeltiger nahm eine Schnapsflasche hervor und machte einen Schluck daraus, nicht ohne bedeutungsvoll lächelnd nach dem »Apotheker« zu blinzen.

»Nun, dann kennen Sie das! O suchen Sie nicht mich zu täuschen – ich bin gefaßt! – Gefaßt . . . o Gott, wenn ich nur allein wäre!«

»Denken Sie nicht so arg, meine Liebe,« sagte Urian mitleidig grinsend, dann setzte er rasch, als wäre er auf das Rechte gekommen, hinzu: »Sie sind nicht allein? Einen Mann vermuthlich . . .«

»Einen Mann, einen Mann!« rief sie schmerzlich aus und faltete die Hände. Doch plötzlich fühlte sie in der 251 Brust einen heftigen Stich, und sie legte die Rechte flach auf den eingesunkenen Busen. – »Ach, sehen Sie die Mahnungen? Dort oben werde ich gesund!« Und sie hob die Augen wieder zum blauen, heitern Himmel.

»Und der Mann . . . .«

»Ich habe keinen. – – Keinen? Ich hatte einen. – Er lebt. – Doch meine Kinder!«

»Sie haben Kinder?«

»Zwei Engelchen, zwei Engelchen!« Und schwere Thränen rieselten über die bleichen Wangen.

»Nun, der Vater wird sie nicht verlassen,« sagte Urian schlau, wie ein Arzt, der die wunde Stelle berührt, um zu wissen, ob sie schmerze.

»Er nicht verlassen? – Hat er nicht mich, sie Beide verlassen?

»Hat er das? O wie konnte er nur eine so liebe Frau . . . .«

»Ach, sprechen Sie jetzt nicht von lieb! Vor fünf Jahren war ich schön; jetzt gehe ich auszehrend zu Grabe. Aber meine Kinder, meine Kinder!« rief sie und deckte wieder mit den Händen das Gesicht.

»Die Kinder sind unversorgt?« sagte Meister Urian zudringlicher.

»Sind bei einer Kostfrau, der ich zwei Monate schuldig bin, und die mich täglich im Spitale plagt, um die Zahlung, und mir droht die Kinder auszusetzen!«

»Die Gottlose!« sagte Urian und stellte sich entrüstet, während er innerlich zu hoffen begann, das Wort »Geschäftchen«, »Geschäftchen!« unterdrückend.

»So lange ich noch aufrecht sitzen konnte, nähte ich und stickte und arbeitete die Nächte hindurch, für meine 252 beiden Engelchen. Doch, mein Gott! jetzt bin ich krank, bin krank geworden durch das Sitzen und Darben und Nachtwachen . . .«

»Arme Frau; hat Sie der Mann verlassen?«

»Das hat er.«

»Der Elende!«

»O, Sie kennen ihn nicht; er ist kein Elender, nennen Sie ihn nicht so; er ist nur verführt, verblendet durch schlechte Gesellschaft, die ihn im Spiele ruinirt hat. Er begann darauf aus Verzweiflung zu trinken, forderte in Verblendung mein letztes Bischen, um im Spiel zurückzugewinnen; ich gab es widerstrebend hin; er verspielte wieder; er forderte das Letzte; er schlug nach mir, um zu nehmen was ich nicht geben gewollt, um mich so zu meinem Glücke zu zwingen, das er im Spiele finden wollte. Es mißglückte wieder, er floh, und ich sah ihn nicht mehr, nicht mehr. – O Gott! wo mag er sein? Lebt er, ist er todt? Ich werde ihn nie, nie wieder sehen!« Und ein heftiges Schluchzen folgte ihren mühsam gesprochenen Worten.

»Er peinigt die Arme!« flüsterte Aster wild Bolte zu.

»Nur noch Einiges bedarf ich,« entgegnete Bolte leise.

»Haben nichts an ihm verloren,« fuhr Urian fort; »wer einmal lasterhaft ist, bleibt es. Aber die armen Kinder.«

»Die armen Kinder!«

»Und Sie haben gar nichts?«

»Nichts, nichts! – Ich habe noch die Spitalsemmeln gespart und ihnen geschickt, damit sie ja nicht ganz Hunger leiden.«

»Und die Kostfrau fordert Geld?« 253

»Unaufhörlich.«

»Und Sie wissen sich gar nicht zu helfen?«

»Gar nicht, gar nicht; Gott erbarme sich über die Kleinen; ich brauche bald gar nichts mehr! Und wenn ich nicht bin, Wer, Wer wird sich ihrer annehmen? – Gott helfe, Gott helfe!« und sie faltete thränend die Hände.

»Hm,« sagte Urian, »ich wüßte eine kleine, sehr kleine Hülfe.«

»Ah, Sie wissen!?« und sie faßte ihn rasch bei der Hand. »Sie kommen als Engel, und ist Ihre Hilfe noch so klein!«

»Klein, wirklich klein! Und es ist eine Bedingung dabei.«

»Welche?«

»Ein Freund von mir . . . ein Bekannter . . . ein Arzt . . . sucht . . . sucht . . .« Urian hustete.

»Der Schurke!« flüsterte Aster.

»Sucht Menschen . . . die . . . . Leichname . . . . Menschen, die . . . wenn sie todt sind . . . erlauben, daß er an ihnen lerne und sie behalte.«

»Für sein Messer, nicht wahr? Für anatomische Präparate, fürs Seccirmesser!«

»Ja, das ist es!«

»Und ich . . . soll . . .« Ein Schauer durchrieselte sie vom Kopfe bis zu den Füßen, und der Stock an ihrem bebenden Schoße fiel um.

Urian bückte sich nach ihm und der Tiger blinzelte beifällig, als wollte er sagen: gut gemacht!

Einen Augenblick schwieg sie, der eingefallene Busen wogte auf und nieder im Sturme. – »Wie viel geben Sie!« stieß sie endlich heftig hervor. 254

»Mein Freund, der Arzt, ist selbst arm . . . . er gibt . . . .«

»Es ist genug Meister Urian!« sagte plötzlich Bolte, ihm die Hand kräftig auf die Schulter legend. »Und sprecht Ihr die gute Frau nocheinmal an, so sollt Ihr wahrhaft dieses Haus zum letzten Male betreten haben; das schwöre ich Euch!«

»Sie haben zu befehlen, bitte . . . ich meinte es gut für einen Ihrer Herren Kollegen.«

»Geht nur rasch Eurer Wege!«

»Gott segne Sie!« – Urian zog demüthig heuchelnd den Hut und schlich ingrimmig davon, indem er ein Schimpfwort zwischen den Zähnen zerpreßte. Sein Tiger ging brummend hinter ihm drein.

Aster und Bolte setzten sich nun zu beiden Seiten der armen Mutter, trösteten sie und thaten ihr Bestes.

Ersterer erhob ihr Gemüth mit herrlichen, in die Seele dringenden Worten, und Letzterer belebte ihre völlig versunkene Hoffnung durch ehrlich versprochene, aber ebenso auszuführende Thaten, die wol nur klein sein, aber doch sein konnten!

So saßen Sie eine Weile im Sonnenscheine.

Und die arme, blasse Frau, die verlassene Mutter schluchzte bald und lächelte bald vor Freuden, und dankte dem Geschicke und den guten Menschen ein über das anderemal. 255



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