August Silberstein
Herkules Schwach, Band 1
August Silberstein

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Zwölftes Capitel.

Poll-Hinze im Paradies und seine Philosophie – sehr traurige Leute und sehr traurige Geschichten – von den Kindern und den Engeln – eine rührende Nacht voll Wohl und Wehe für arme Menschenherzen.

An einem der nächsten Tage stand Kunibert Apollonius Hinze vor seinem Herrn in voller Parade. Schnepselmann hatte ihm aus demselben Laden, welcher Alexius so glorreich versorgte, ebenfalls Kleider verschafft, und die Gestalt Hinze's machte der Vorsorge alle Ehre. Ein Spinatfarbiger, also etwas mehr ins Dunkle spielender Frack als der Alexius', mit gelbgewirkten Borden, durch die sich Eichenlaub sehr schwärmerisch schlängelte, maikäferbraune Kniehosen und eine schwarz und roth gestreifte Weste, vollendeten die prachtvollste Gestaltung. Um Beibehaltung der gelben Stulpenstiefel hatte Hinze ausdrücklich gebeten, als Erinnerung an die schöne Kaninchenzeit. Ein Hut mit einer Kokarde ward ihm ex officio geliefert, so daß diese beiden Dinge, welche alle andern Garderobestücke erst zur vollen Höhe der Zweckmäßigkeit erhoben, eine Gestalt am Anfang und Ende umschlossen, welche jedem Bedientenzimmer einer hohen Herrschaft zur Zierde gereicht und jedenfalls so manche trübselige und langnäsige Herrschaftsfisiognomie, durch den bloßen Anblick sehr erheitert haben würde.

So wohlthuend lachten die beiden großen, schwarzen Augen aus dem runden Kopfe des kleinen Hinze, seinen Herrn, Herkules Schwach, an; so graziös standen die gelben Stulpstiefel den kurzen etwas gesäbelten, aber doch immer wohlbewadeten und zierlichen Beinen; so schön schmiegten sich die schwarz und rothen Streifen an die breite Brust, 183 und so rund und weich lagen die spinatgrünen Aermel um die nicht gerade langen aber sehr beweglichen Arme unseres ehemaligen Theater-Direktors – daß Schwach innig erheitert und befriedigt dachte, der Anblick allein sei schon den Lohn werth, und daß er lächelnd sich vorbeugte, um zu hören was sein Leibpage wünsche.

»Möchte sehr bitten,« sagte Poll, »möchte sehr bitten, heute Abend einen kleinen Seitensprung machen zu dürfen. Ich bin aus dem »Paradies« so schnell verschwunden – meine Kameraden und Bekannten werden nicht wissen wo ich hingerathen sein dürfte und werden vielleicht glauben ich habe mich übersoffen, oder umgebrungen, oder die Polizei habe mich gratis mit Kost und Wohnung unterstützt, daß ich gerne möchte hingehen und meine Parade zeigen, auch meinen Auszug zahlen und Alle lustig machen!« Das sagte er so gemüthlich, daß an der Wahrheit der Worte gar kein Zweifel übrig blieb. Und in seinem ganzen Benehmen lag eine solche leichtgeartete Entschlossenheit, wie sie nur Anhänger des höheren sorglosen Vagabundenlebens besitzen, die mit dem Schicksale nie hadern und mit dem eben Vorkommenden zufrieden sind.

»So?« sagte Schwach scheinbar ernst, »das kann ich im Grunde nicht verübeln. Wenn nur nichts Arges darunter gemeint ist.«

»Uf Ehre!« Hier legte Poll die fünf Finger der Rechten ausgespannt auf die Brust, dann zog er sie zurück, bog sie mit Ausnahme des Zeigefingers ein, mit dem er nach der Stirne zeigte, sagend: »Philosophie! meine Philosophie erlaubt nichts Arges!«

»Er sprach ja eben vom Paradies. Was ist denn das?« 184

»Halten zu Güte, das ist die allgemeine Herberge für wandernde Künstler, beschäftigungslose Drehorgeln, klappenbeschwerliche Flötisten, fliegende Harfenmänner, Hundekomödianten &c.; und weil sie gar so elend ist und manchmal das liebe künstliche Vieh auch darin mitwohnt, haben wir, das heißt das Handwerk, das heißt die Kunst, sie Paradies genannt.«

»Nun . . . es ist gut. Gehe er, Appollonius, und komme er zur rechten Zeit nach Hause. Aber . . . .!« und hier machte Schwach ein Zeichen nach der Stirne, als wollte er sagen »nüchtern!«

Poll machte mit noch ernsterer Miene das Zeichen an seiner eigenen Stirne und sagte: »Philosophie, nur Philosophie!« Dann verbeugte er sich graziös, sagte »Ehre gehorsamst zu m'fehlen« und ging.

»Poll!« rief ihm Schwach nach. Im Augenblicke stand derselbe wieder da. »Hier ist etwas für die Kameraden.« Dabei ließ Schwach ein Geldstück in seine Hand gleiten und eilte sofort, um keinen Dank zu hören, ins nächste Zimmer.

Hinze wollte natürlich dankende Worte sprechen; als er aber keinen Herrn vor sich sah, warf er endlich einen Blick auf's Geldstück und murmelte: »Philosophie, große Philosophie!« Er schien unter Philosophie alles Gute, Kluge, Edle und Praktische zu verstehen und so vielerlei angenehmen Sinn in das Wort hineinzulegen, als jemals nur irgend ein Professor der Philosophie dabei zu vermeiden sich bestrebt hat.

Von Madame Trullemaier nahm er sehr formellen Abschied; und so sehr sie auch gegen ihn brummte und grollte, so lachte sie endlich doch, als er ihre Hand graziös 185 nahm und sie der »hochgeöhrten Dame« wirklich und wahrhaftig küßte, während er ein Bein nach rückwärts in die Höhe streckte, was sie aber nicht bemerkte. – »Geh' er nur, er Tagedieb!« sagte sie ihm mit Protektormiene und entließ ihn mit einem schmeichelhaften Klaps auf seinen Rücken.

Es war Abends und die Gaslaternen brannten mit vollster Helle im Innern der Stadt. Die Menge wogte darin umher, die Equipagen rollten den Theatern zu, die Fußgänger schlenderten müssig, oder kehrten aus den Läden und Komptoirs nach Hause, eilten freudig oder betrübt ihren verschiedenen heimathlichen Herden zu.

Ein Weg des Abends aus der Stadt in die Vorstädte, entrollt ein außerordentliches Panorama vor den Blicken eines ernst Beschauenden. Auf den Hauptplätzen der Stadt: Lichterschmuck, Helle, Alles strahlend, die Masse dichter, geschäftiger, selbst der Müssiggang nimmt eine Miene an, als wäre er ein Beruf. – Alles strahlt und glänzt, das Laster glänzt, das Elend schmückt sich, die Noth geht geputzt, die ganze Masse trägt nur schöne Kleider, aber kein Gepräge. Niemand sieht es, ob dieser Mann im feinen Gewande eben mühsam ein ehrlich Geschäft vollbracht, oder morgen, nach lässigem Truge, bankerott wird. Ob jener Herr ein Graf, güterreich, oder ein Schreiber, der seinen Tagelohn kümmerlich auf einem Bureau verdient und zwei Drittel davon für seinen Schneider bedarf. Ob jene Dame zu Hofe gehört, oder mit verworfenen Blicken ein dunkles Leben fristet. – Alles lügt, sucht geizig seine Höhe, oder nobel seine Noth zu verbergen, um Bedürftige abzuhalten, oder in Ueberflussesnähe zu athmen. – Es ist ein echtes Theater, mit Lampen, mit falschen Kostümen und einstudirten 186 Charakteren; nur mit dem Unterschiede, daß der Zuschauer zugleich Schauspieler ist und das Stück nie zu Ende gespielt wird.

In den Vorstädten ist es vielfach anders. Die Lampen sind spärlicher, die Fußgänger übersehbarer. Hier begegnet man den wahreren Charakteren. Dort der Mann mit dem Hammer und der Säge unter dem Arme, der Bursche mit dem grünen oder ledernen Schurz um die Hüfte, mit dem Hut oder dem Käppchen vergnügt auf der Seite, oder auch melancholisch seinen Weg schlendernd: wir wissen wer sie sind, was sie vorzüglich gethan, daß sie erwartet sind und was sie bringen. – Dort hüllt sich ein niedliches, ärmlich gekleidetes Mädchen in ihr Tuch. eilt von dem großen Fabriksgebäude einer kleinen Nebenstraße zu, oder es harret ihrer ein junger Mann im Thorwege und begleitet sie. Da schleicht ein Mütterchen vorwärts und trägt eine Flasche in der Hand, einen Labetrunk für den ermüdeten Gemal, Sohn, oder das erarbeitete Nachtmal für sie selbst. Die leeren Lastwägen schleichen langsam den Ställen ihrer müden Pferde zu. Drehorgelmänner gehen mit zur Erde gerichteten Blicken, die Last auf dem Rücken, vorwärts. Krämer tragen ihre kleinen Buden. Lehrjungen eilen über den Fahrweg in allerlei Hausbedarfhandlungen. Es ist in einer Art ein erquicklicheres Leben, man sieht Menschen, nicht Kleiderstöcke, fühlende Wesen, nicht uniforme Masken. – Wer aber in die Herzen der Einzelnen sehen könnte? Ob da wie dort nicht Neid, Sünde, Tugend, Aufopferung, Hohn, Liebe, Fluch, Segen, Verläumdung, zarte Sorgfalt und alle die Laster und engelhaften Eigenschaften herrschen, da wie dort? Wer es von Jedem wissen könnte! – Aber unser Herz verführt uns eher für Den zu fühlen, der seinen Beruf, Vieles seines Innern offen zur Schau trägt, als für Den, 187 der sich in Allem verhüllt, der Alles verbirgt und verstellt, nur seine Verstellung und seine Maske nicht!

All diesem wirren Treiben schritt Poll Hinze diesmal sorglos vorbei. Er hatte heute einen solchen verwerthbaren Schatz in seinen Taschen und ebenfalls solch einen Schatz von guter Laune in seinem Herzen, daß ihn all das Andere nicht kümmerte und er nur dem »Paradies« zustrebte, dessen Einwohner er stets, den ganzen Weg über, lebhaft vor Augen hatte, deren Noth er noch vor wenigen Tagen getheilt, heute aber, großmüthig, auf Stunden beseitigen konnte.

Er schritt die lebhafteren Straßen der Vorstadt durch, gelangte in Kreuz- und Quergassen, die er, sehr erfahren, im Dunkeln traf, denn die Lampen wurden spärlicher, und blieb vor einem der kleinen, schmutzigen Häuser stehen. Drei Fenster in der Fronte, sämmtlich dunkel, ein elendes, halbfaules Schindeldach und ein breites Thor, mit Balken und Brettern geflickt, das an der Seite ein schiefes, ebenfalls geflicktes und besonders schmieriges Thürchen hatte, waren vor ihm. Er hob einen Stein von der Erde und klopfte damit an dem Thürchen.

»Holloh, auf, Erzengel! In's Paradies!«

»Wer ist's und was ist das für ein Lärm?«

»So, Adam, kennt Ihr mich nicht?«

»Ihr seid's?« brummte eine Stimme und öffnete. »Glaubte schon Ihr seid todt.«

»Ich glaubt's nicht. Da, ich lebe, überzeugt Euch!« und er hielt ihm eine große Flasche hin, die er in einem Wirthshause am Wege hatte füllen lassen. – »Da – sauft nicht zu sehr – hoho!« und er riß die Flasche dem Trinkenden vom Munde, der nimmer enden zu wollen schien. Sogleich lief Poll, ohne weiteres Fragen, über den 188 schmutzigen Hof, einer Art halbverfallenen Scheuer zu, und öffnete die kleine gebrechliche Thüre, die ebenfalls in ein großes Thor eingeschnitten war. Offenbar mußte das Haus früher zu ländlichen Wirthschaftszwecken gedient, aber bei Vergrößerung der Stadt, seinen Zweck längst nicht mehr erfüllt haben.

In der Mitte der Scheuer brannte, an einem Stricke von einem Querbalken herabhängend, eine schmutzige hölzerne Stalllaterne, mit zerschlagenen Gläsern. Das kleine Oellicht in ihrem Innern schielte bei dem Luftzuge jeden Augenblick nach einer andern Seite, der Boden der Scheuer war festgestampfter Lehm, und rings an den schmutzigen Kalkabgefallenen Wänden lag Stroh, hin und wieder von Lumpen bedeckt; – das war das »Paradies!«

»Hurrah, Kirmeß!« rief Hinze schon bei der Thüre, schwang die Flasche hoch in der Luft und sprang lustig ins »Paradies« hinein.

»Heda, Bruder Brunk, Eines auf die Lampe gegossen!« rief er einem alten Gesellen mit einem Stelzbeine zu, der ihm zuerst zu Gesichte kam, und schüttelte die Flasche daß der Inhalt plätscherte.

»Na, Ihr seid heute so dämlig wie Hühner bei Regenwetter! Keine Philosophie? Ich sehe schon, ich müßte vorerst Polka tanzen, um Euch in Laune zu bringen! Hurrah Philosophie!« Und er that als wäre es Ernst mit der Polka. »Liese, Capelli, Kratke, Riepel, Alle, hoch! Kommt 'ran, tanzt mit, seht mich an, bin ich Euch nicht merkwürdig? Haha! Philosophie! hurrah!« und er hopste, pfiff dazu und klatschte mit einer Hand auf seine Schenkel.

Da ergriff ihn der Alte mit eisernen Knochen bei 189 einem Arme. und mit einem grimmigen Blicke zog er ihn in einen der oberen Winkel.

»Was ist das, was soll's?«

Der Alte, auf einem Stelzbeine humpelnd, führte ihn so rasch, daß kaum das Stelzbeine merkbar ward, zeigte mit einem Finger auf den Boden und sah ihm fest ins Gesicht.

Auf einem Häufchen Stroh lag ein Kindlein, das Haupt auf die Seite geneigt, bleich – todt!

Hinze ließ die Arme sinken, und Schauer rieselte durch seine Glieder. Er wurde selbst bleich. »Edi?« fragte er mit bebender Stimme.

»Edi!« antwortete der Alte dumpf.

Und Poll nahm den Hut ab, ließ sich langsam auf die Knie nieder und küßte das bleiche Gesichtchen. – Er wischte sich eine Thräne mit dem Aermel seines neuen Frackes, faltete dann die Hände und betete still, mit gesenktem Haupte.

Der Alte stand stumm neben ihm.

»Gott lohn es Euch,« sagte eine bewegte Weiberstimme aus einer Ecke hervor. »Ihr wart immer ein guter Kam'rad, und habt das Kind geliebt, wo wir uns trafen.«

»Seit wann?« – fragte endlich Hinze bewegt, zu dem Alten gewendet.

»Seit gestern Mittag,« antwortete dieser in seiner tiefen Bruststimme.

»Und so rasch?«

»Gottlob rasch!«

»Nun Liese, weint nicht so sehr,« sagte Poll nach einer kleinen Pause; »das Kind ist gut aufgehoben, besser 190 dort als da. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen!« Und sein ganzes Wesen, seine ganze Sprache veredelten sich, wie er so den Trost zusprach, als wäre er gar nicht der drollige Kaninchendirektor von ehemals.

»Und nun kommt 'ran«, sagte er abermals nach einer Pause; »erzählt mir's doch – seid doch nicht gar so kopfhängerisch, es wird ja doch nicht anders. Kommt, kommt,« fuhr er fort, als noch Niemand nahte; »laßt Euch sehen gute Frau Liese. Kratke, Riepel, Capelli, Vater Brunk kommt, nehmt ein bischen Philosophie an, man muß auch im Unglück seine Philosophie nicht verlieren, kommt, setzt Euch!« Und er brachte in einem Augenblicke eine morsche Bank, eine kleine Tonne, mehrere aufeinander gelegte Ziegel, einen Holzblock herbei, stellte Alles in Runde und lud fortwährend ein, bis sich die Gerufenen alle zeigten und nach und nach, ängstlich an sich haltend, Platz nahmen.

Der Invalide mit dem Stelzbein war ein Mann in den Fünfzigen. Der große, markige Kopf mit den scharfen Stirn- und Backenknochen, die lebendigen Augen, die Schramme, die sich wie eine röthliche Furche, fast einen halben Zoll breit, in einem Bogen von der Stirne über das Stirnbein nach dem Backenknochen herüberzog, die grauen Hare, reich an den Schläfen und spärlich ober der Stirne, der eisgraue kräftige Schnurbart, gaben dem gebrechlichen Manne ein martialisches Ansehen. Das todte Kind war sein, die Mutter desselben sein Weib, und Letztere war eine große, magere, etwas jüngere, aber abgezehrte und krankhafte Gestalt. Beider Beruf war, mit einer Drehorgel herum zu ziehen.

Capelli war ein erwachsener Savoyardenbursche, der ein erbärmliches Drehgeklimper besaß, Vögelchen aus Wachs 191 selbst verfertigte und verkaufte, doch kein Wort deutsch verstand. Kratke, eine erschrecklich elende Gestalt; seine Kunst war Steine essen, Feuer speien und derlei. Riepel war ein ältlicher Jongleur, der bereits an Auszehrung litt und etwas Geige spielte. Sie Alle, bloß von den Streiflichtern der elenden Lampe beschienen, halb aus dem feuchtnebligen Dunkel der Scheuer hervortretend, bildeten eine sonderbare Gruppe. Nur auf dem Stroh im obersten Winkel blieb eine lumpige Gestalt ausgestreckt liegen, und Niemand kümmerte sich um sie. Der Liegende war ein Vagabund im ernstesten Sinne des Wortes.

»Erzählt mir doch Vater Brunk. Nehmt mir die Neugierde nicht übel; aber ich möcht's gerne wissen über das Kind,« sagte Poll. »Oder sagt Ihr's, gute Frau Brunk.«

»Ich will's Euch sagen, sie heult mir sonst gleich wieder. – Das feuchte Wetter der letzten Woche, das viele Herumziehen, hat dem Kinde nicht gut gethan, und nun noch dieser Ort – da ward's vollends unwohl!«

»Nun Brunk, warum habt Ihr's nicht ins Spital gegeben?«

»Ins Spital, ins Spital!« rief Liese aus, die sich auf das Stroh zu Füßen des todten Kindes gesetzt hatte und, dort hockend, das Haupt bald zwischen die Knie barg, bald auf den todten Liebling sah. »Ins Spital!« Sie hob ihre beiden Hände in die Höhe.

»Ist gut sagen ins Spital!« sprach der Alte mit rauher Stimme. »Gebt; aber seht zu ob sie nehmen! Da heißt's erst: »wer seid Ihr? woher? geht wo ihr hergekommen, wir haben in der Stadt genug und nicht einmal Platz für diese! – So werdet ihr fortgejagt. Wenn Ihr 192 aber flehend sagt, es ist nun nicht einmal zu ändern, das Unglück hat's gewollt, Ihr selbst seid, oder Eins von Euch ist krank und es geht nicht weiter! Nun, wenn Ihr Glück habt, so schickt man Euch zum Armenvater, oder zu einem Hof-, oder zu einem Medizinrathe. Und der braucht wieder hundert Zeugnisse und muß wieder mit einem Andern reden. Er schickt Euch auch zu einem Andern, und der Andere zu einem ganz Andern, und der ganz Andere zu einem noch Andern; und bis Ihr wirklich d'ran kommt, dann . . . .« er zeigte auf den kleinen Eduard und schwieg.

»O, und wenn sie's genommen hätten, das Kind!« nahm Liese das Wort. »Seht, es ist mein einziges und ich bin seine Mutter, und die Prinzessin ist nicht mehr Mutter zu ihrem Prinzen, als ich zu meinem armen Wurm, und er ist nirgends mehr sicher, nirgends lieber und weicher gebettet als an meiner Brust. Und wenn ich ihn hingebe, ins Spital, und das Kind weint und härmt sich den ganzen Tag, kann's mit ihm besser werden? Das fragt sich ein Mutterherz und denkt nach und sagt nein, es kann nicht besser werden! – Aber man gäb's doch hin, denn man hofft und glaubt . . .«

»Nun ja, die ärztliche Behandlung . . .« sagte Poll.

»Und glaubt,« fuhr Lise fort, »die ärztliche Behandlung könne was nützen. Und da möchtet Ihr als Mutter das Kind öfters sehen. Aber sehen? Fragt zu, ob Ihr mehr als einmal täglich kommen dürft? Und wenn das Kind stirbt, o Gott! wenn mein Kind drinnen liegt, und jetzt lebt es noch und morgen nicht mehr, und ich komme und sage laßt mich ein, mein Kind stirbt drin, noch einmal will ich's sehen – einen einzigen Kuß nur – vielleicht wird's besser wenn's mich sieht, hört . . . . da zeigt man 193 Euch auf die Uhr: »geht, macht keinen Lärm hier, es sind noch Andere da!« – Und man schließt Euch das Gitter. Ihr sehet zum Fenster hinauf – und hinter diesen Scheiben liegt – stirbt Euer Kind! Ihr dürft's im Leben nimmer sehen, weil, weil Ihr arm seid! – Das ist hart!« – Sie hob die Schürze und weinte darein. Dann sagte sie: »Ja doch, des Morgens läßt man Euch vielleicht ein; aber man gibt Euch eine Nummer und schickt Euch über den Hof. Ihr geht in eine dunkle Kammer, es ist eine Todtenkammer, und drin liegt Euer Kind!«

»Das ist wol traurig!« sagte Poll.

»Nun ja, seht, sie machen so viel Zeugs in der Stadt, könnten sie nicht auch ein Kinderspital machen . . .«

»Das ist wol da,« sagte Riepel.

»Jawol,« fuhr Liese fort; »aber ich meine eines, wie's armen Müttern und armen Kindern wohl thäte. So ein Kind ist ein Wurm und kann sich nicht helfen, ist unvernünftig und schreit und weint wenn es Fremde sieht, kränkt sich ab und ruinirt sein bischen übriges Fleisch und Bein durch kindischen Unverstand. Warum gibt man dem Kinde die Mutter nicht? Ich will nicht, sie sollen mich füttern. Gebt mir ein bischen Suppe und ein Stückchen Schwarzbrod, so lange mein Kind in Gefahr oder drein gewöhnt ist, daß ich nur selbst einige Tage da, vielleicht nur bei seinem Sterben bin. Gebt mir gar nichts, wenn ich nur so viel habe, um nicht vor Hunger zu sterben; aber laßt mich zu meinem Kinde! – Zweien Seelen, einem Kinde und der Mutter, und all den Armen, die ihr bischen Herz dabei haben, ist geholfen!«

»Ihr sprecht wahr Liese, und ich möchte, andere Leute hätten Eure Gedanken,« sagte Poll. 194

»Wahr, sehr wahr,« sagten die Andern. Der Savoyarde saß aufmerksam, obwol er kein Wort verstand, sah mitleidig in alle Gesichter und rief nur zuweilen aus, mit rührender Stimme: »poveri! o cari poveri!«

»Es ist traurig, es ist wirklich traurig. Ich weiß was das Vagabundenleben heißen will,« sagte Poll Hinze; »hab's lange genug mitgemacht. – Es hat sein Lustiges, aber . . . nun, ich bin froh d'raus zu sein! Hab' einen Anfang für ein anderes Leben gemacht. Ihr seht meinen Rock, meine Kleider; ich bin Bedienter und gottlob versorgt wie Einer – daß Ihr's nur wißt und Fragen erspart! – Aber Brunk, nehmt mir's nicht übel – an Eurem Rock hängt ja da so was, ein Ehrenzeichen, Ihr seid ja Invalide – was braucht Ihr dies Leben und . . .?«

»Hahaha!« lachte der Alte mit grimmigem Hohn, schlug sich auf den Kniestumpf, die Augen flackerten unheimlich auf, und die ganze Narbe ward blutroth überzuckt vom Anfang bis zu Ende. Es war, als ob ein Blitz aus seiner Stirne gesprungen und von da über die Wangen gefahren wäre. – »Ihr seid ein Invalide, habt ein Ehrenzeichen! – Das hab ich. – Aber fragt, was ich Invalidengeld habe? – Einen Hund füttere ich nicht satt damit!«

»Es ist wirklich sonderbar, daß Leute die fürs Vaterland verkrüppelt sind, betteln müssen. Hab noch keinen gesunden Schreiber oder Beamten in Pension gesehen, der's thäte. Risse man den hohen Pensionen was ab, die kleinen würden besser,« sagte der Jongleur. »Aber sagt mir,« fuhr er fort, »wie leben nur die Invaliden in den Häusern damit?«

»Das ist's! das ist's!« sagte Brunk. »Gut, man gibt Euch in ein Invalidenhaus, wenn Ihr nicht weg wollt. Aber geht nur in ein Invalidenhaus! – Jung, mit Euern besten 195 Kräften seid Ihr zum Militär gekommen, Ihr habt von Familie, Heim und Dörflein Abschied genommen, und habt in Kasernen gelebt mit Eurem Korporal und Hauptmann und Lieutenant und Allem was daran hängt. Aber mit sonstigen Menschen habt Ihr gar nicht gelebt. Ihr kommt Euch wie eine Maschine vor, die statt mit Dampf, Jahr aus Jahr ein, mit denselben wöchentlich wiederkehrenden Bissen gefüttert wird; ohne daß Ihr einmal einen Groschen für Uebriges habt. – Gut, das muß sein. Das Vaterland hat ein Recht auf mich; und bei Gott! ich war ein braver Kerl fürs Vaterland! Es war's noch Mancher auch! Aber jetzt seid Ihr alt, abgetragen, abgenützt, oder gar ein elender Krüppel. Ihr legt die Hand an den Hut, sagt Euren Invalidenwunsch und man gibt Euch in ein Invalidenhaus. Wieder der Strohsack und wieder der Korporal und wieder der Hauptmann und wieder das alte Elend. Wenn's unter den alten jammernden Krüppeln, statt unter den lustigen Burschen in der Kaserne, nicht noch ein größerer Jammer ist! – Aber Ihr wolltet noch nichts sagen. Ihr wartet auf die Invaliden-Eintheilung. Gut; man gibt Euch Euren Zettel, Ihr seid geboren dort und dort, und das Invalidenhaus liegt weiß Gott in welcher fremden Einsamkeit! Das ist hart! – Ihr möchtet den Hans und den Jürgen und den Konrad und die Margreth, oder die Barbara sehen, die Ihr in der Jugend recht gut gekannt, und Euer altes Dörflein haben, den Weg und das Kirchlein, wohin Ihr so oft gegangen, vielleicht auch das Grab von Vater und Mutter, da ihr doch vom Leben sonst nichts haben könnt. Doch da ist's nichts damit! Freilich, geht auf Urlaub und bettelt Euch ein, auf einige Wochen, bei den Leuten. Aber das mag man nicht. Und so bleibt man 196 auf dem Strohsack und stirbt auf dem Strohsack, den man seit seiner ersten Jugend nicht verlassen! – Aber das thut's nicht immer. Da geht Einem im Innern das Herz auf, und man denkt, wenn alle Dienstzeit um ist, oder man Krüppel geworden: bin ich doch auch ein Mensch, leb' ich doch nur einmal und will ich doch auch etwas vom Leben! Man denkt, wie der Hans und die Margreth arm aber frei leben und doch kochen und eine Wirthschaft führen und – Menschen in der Welt sind, die mit andern fühlen und nicht Maschinen bleiben! – Es drängt Euch hinaus, Ihr könnt nicht an Euch halten, es geht Euch, wie gesagt, das Herz auf, und Ihr müßt fort nach dem Dörflein und Kirchlein der Heimath und den schönen grünen Plätzen, die Euch so anlachen aus der Jugenderinnerung! – Ihr legt nun deshalb die Hand an den Hut und bittet blos um's Patent. Ja, aber von ein oder zwei Groschen könnt Ihr nicht leben! Krüppel seid Ihr auch! Man gibt Euch die Erlaubniß, wenn's noth ist, zu betteln, oder die Konzession zu einem Kasten. – Leiert in Eurem Dorfe! – Die Bauern sind im Felde. – Oder leiert ewig für die zwei-, dreihundert Leute, und seht zu, was Ihr zu essen bekommet! – Ihr nehmt ein Weib – mein Gott! vielleicht ist eine alte Liebschaft oder Verwandtschaft auch im Elend, und der Krüppel braucht doch Jemanden, nur nicht wie ein Stein auf der Heide da zu stehen. – Und nun geht Ihr in der Welt herum, nur zeitweise die liebe Heimath besuchend.«

»Meint Ihr, wäre da zu helfen? Und wie?«

»Wie? haha! Das ist ja so leicht! Wer braucht die großen prachtvollen Stein- und Häusermassen in den Städten. Damit die müssigen Gaffer in Stein gehauene 197 Waffen, Helme und Ritter sehen? Ein Komißbrod ist mir lieber! Oder braucht man sie, daß hochnäsige Majore, Generale, Oberste und weis ich wer noch – Revisionen, Inspektionen halten, säbelklirrend hin- und herflunkern können im Hause, ohne etwas besser zu machen? Sagt jedem Dorfe: da hast Du Deine zwei, drei, fünf, sechs Invaliden – wie viele es gerade gibt – Ihr Leute bauet ihnen ein Häuschen mit Stroh gedeckt, am Ende des Dorfes, und haltet das Häuschen stets gut, laßt die alten Kerle, die für Euch dem Vaterlande gedient, auch leben! – Der Steffen, oder Kunz, oder Peter, hat einen Vetter, Gevatter oder eine Muhme; und da raucht der alte Knasterbart manchmal im trauten Familienkreise sein Pfeifchen, er ist gerne gesehen wenn er hereinhumpelt mit dem Stelzbein und von Krieg und Frieden, von der Schlacht und fernen Ländern erzählt, oder die Kleinen mit dem Papierhute und Holzsäbel exerziren lehrt. – Und da ist er nun ein Mensch mit andern Menschen! – In seinem Dorfe kriegt er Alles billiger, er lebt daher wie ein Mensch und muß nicht bis zum Sterben rechtsum, linksum sich sagen lassen, und vielleicht auch noch die Hostie auf Tempo erhalten!«

»Hm, das ist wahr – ist richtig. – Seht doch, alter Brunk, habt Recht!« sagten mehrere Stimmen.

»Das ist gut,« meinte der Feueresser. »Aber verstehe ich Euch recht, so müßten die Leute, die in der Stadt geboren, doch auch in der Stadt ihr Invalidenhaus haben?«

»Das ist ja ganz recht,« antwortete Brunk; »aber fordere man nicht von Einem, der da droben geboren, daß er dort drunten sein Leben auskrüpple, oder schicket ihn nicht noch hin und her nach Belieben, heuer dahin, übers Jahr dorthin, wo gerade ein Strohsack leer ist!« 198

»Hm, hm,« schüttelte Poll Hinze den Kopf, »das seh' ich gut ein und ist ganz recht; aber . . . .«

»Ja aber, ich weiß, was Ihr sagen wollt; daran ist Euer Kind nicht gestorben.«

»Das ist's.«

Liese schluchzte erschütternd und barg den Kopf zwischen den Knien.

»Das Kind ist an einem andern Uebel gestorben. Meine Alte hat Euch schon ein Kapitel davon gesagt. Aber ich meine es noch anders.«

»Wie denn?« fragte der Jongleur.

»Daß Ihr selbst noch fragen könnt, Gottfried Riepel, und seid so ein alter Junge, so ein alter Herumstreicher! – Wie lange ist's, daß Ihr in einem Bette gelegen, wie oft ist's Euch geschehen?«

»Es ist lange,« antwortete Riepel, den Kopf hängend, und der Savoyarde rief wieder: »O poveri! cari poveri!«

»Trinkt, trinkt! laßt meine Flasche nicht stehen. Und wenn sie leer ist, es gibt noch eine andere! Trinkt zu, das verscheucht ein Bischen das Wehe!« rief Hinze, sich der Flasche entsinnend, die bisher am Boden vergessen gestanden hatte, jetzt aber sofort Jedem der Reihe nach aufgedrängt wurde. Nur die Mutter verweigerte selbst einen Tropfen.

»Ja, wovon die Rede war,« sagte Brunk wieder; »wie lange wir Alle in keinem Bette geschlafen. – Zuletzt ist der Strohsack doch besser, als das miserable Stroh auf dem feuchten kalten Boden. – Hotels gibt's in der Stadt!« rief er aus, und wieder zuckte der blutrothe Blitz über die, einen Augenblick früher wachsfarben gewordene Schramme, »Hotels mit Gärten, Glashäusern, Dampfmaschinen, Sprachröhren und Marmorbädern. Aber hat Einer an die armen Kerle 199 gedacht, die keinen Sprachrohrkellner brauchen und keinen Wintergarten nothwendig haben? Hat Einer an das arme Gesindel gedacht, an die armen lumpigen Menschen, die Tags mit einem ärmlichen Gewerbe herumziehen und Nachts ein Obdach bedürfen? Hotels genug! Aber wo findet Ihr Armenherbergen? Jedem Schurken und Diebshehler ist es gestattet, in elenden Spelunken, Pestlöchern, Euch ein Stroh zu bereiten und sein Geld zu verlangen; aber an arme wandernde Leute hat man nicht gedacht! – Der Handwerksbursche hat seine Herberge; wo der Dienstjunge, der Knecht der zur Stadt geht, die arme Bauerndirne die auf Tagewerk kommt, der Kesselflicker, der Orgelmann, der ziehende Invalide, all das arme Volk, das die Stadt durchstreift und Nachtherberge braucht? – Geht zum Teufel! sagt man ihnen, wenn sie in ein ordentliches Haus kommen, in eine halbwegs menschliche Herberge, wo Jemand mit Geld einkehren soll. Kein Wirth hält uns und bergt uns. Lumpe, Spieler, Gesindel sind oft und meist unsere Herbergsväter, und Jeder muß sich gefallen lassen, noch Grobheiten für seinen sauer verdienten Groschen zu bekommen, statt des Nothwendigen.«

»Da, da habt Ihr's – davon ist das Kind gestorben!« sagte der Invalide und die Narbe verfärbte sich wieder. »Warum baut man keine Armenherbergen, unter städtischer Aufsicht? Einen hölzernen Verschlag und einen Strohsack, es ist genug und braucht nicht mehr. Aber die Bauerndirne, die hereinkommt, wird dann nicht verführt und lagert nicht unter trunkenen, zottigen Gesellen auf dem Stroh. Der arme Mann achtet sich besser und säuft den verdammten Schnaps nicht, um schwindlig zu werden und weiß Gott was im Dusel zu sehen, statt die Scheuer, 200 das feuchte Stroh und die Löcher im Dache! – Gewerbe theilt man aufs Herumziehen aus, Leute bedarf man, die wandern und von der Ferne ihren kleinen Kram, oder ihre Arme, oder ihren Zeitvertreib bringen. – Nun, warum diese Leute der Verworfenheit, dem Laster, dem Trunke, dem Elend, der Seuche hingeben? Da begegnet Ihr dann den ekelhaften, lumpigen Gestalten, versoffen aus Gewohnheit und Selbstverachtung; – dort liegt gleich Einer, der Doppeltieger genannt, der Gott-sei-bei-uns weiß, wie er heißt und wo er her ist.« –

Er zeigte nach dem Stroh im Hintergrunde. »Dann habt Ihr davon die Krankheiten, die das Spital füllen und Unheil genug anrichten. Dann habt Ihr die Entehrung der armen, aber redlichen Dirne, die in die Heimat aus Schande nicht mehr zurückkann, da bleibt und noch elender wird. Dann kommen die Kindermorde, die verheimlichten Geburten, die auf die Straße gesetzten Kinder. Dann folgen die Pläne zum Diebstahle, zum gemeinsamen Unsichermachen der Häuser und Leute, weil alles Gesindel zusammentrifft, sich anwirbt und Bruder im Spiele wird. Es füllen sich die Gerichtshäuser, die Straf- und Zuchthausorte, und das kostet Geld und Geld und Geld, die schwere hohe Menge! Das hochnasige wohlgenährte Volk spricht dann freilich von Verworfenheit des Pöbels, von Ausgelassenheit des Volkes und von nothwendiger Strenge des Polizeigesetzes. Hierauf kommt noch mehr Elend und noch mehr Jammer und wird nie besser – wo aber steckt's?«

Der hektische Jongleur stützte den Kopf in eine Hand, und die Augen wurden ihm sehr feucht. Er mochte an seine Jugend denken, an seine Eltern, an das Bett in dem er einst geruht, dann an das Stroh, wo er jetzt lag, und 201 an die Scenen, die er selbst gesehen, die ihm noch bevorstanden, und daran, wo er vielleicht sterben werde. –

»Poveri! - o cari, cari poveri!« rief der Savoyarde, horchte und sah Allen mit seinen großen schwarzen Augen ins Gesicht.

»Seht Ihr,« fuhr Brunk fort, »ich hab's bezahlt, theuer bezahlt dieses Quartier; da liegt meine Münze!« Und sein ausgestreckter Stelzfuß zeigte nach dem todten Kinde. Liese schluchzte laut auf. »Und da, die Alte, ist mir auch nicht recht sicher. Seht sie nur an. – – Und dieses Quartier, dieses Quartier!« Er schlug die Hände zusammen, die Narbe war in Bewegung.

»Wann wollt Ihr den Engel begraben?« fragte Hinze.

»Wann? Morgen muß es sein.«

»Nein, nein, nehmt ihn nicht! – Laßt mir ihn, laßt mir ihn!« rief die Mutter und warf sich über den kleinen Leichnam.

»Sei klug, Alte!« sagte ihr Mann, »das muß sein; wir müssen ja doch Alle in die Erde. Geh', sei ruhig;« und er strich ihr wirres Har. »Nicht wahr Ihr guten Leute – es muß der kleine liebe Junge in etwas eingewickelt werden, und . . . .«

»Ihr müßt ihn, da Ihr kein Leichenbegängniß besorgen könnt, zum Spital tragen, von dort fährt täglich der Wagen in die großen Gruben.«

»O! O! Mein Gott!« schluchzte die Mutter, rang die Hände, hob sich und ließ sich wieder zum Kinde nieder, begoß es mit ihren Thränen und küßte es. »Nicht in die Gruben, nicht ins Spital – sie nehmen es, zerschneiden es, zerstückeln es und zerbrechen seine Beine – nicht ins Spital, nicht in die Gruben!« 202

»Was ist das?« fragte Hinze erstaunt.

»Der alte verdammte Adam, Ihr wißt es ja, hat mit dem Seccirsale, mit Anatomen und Teufelszeug zu thun. Ihr wißt ja, er hat manchen Kerl, der hier verendete, lachend geliefert und erzählt, derselbe stehe als Skelett sehr gut da und grinse prächtig aus dem Glaskasten; auch der Kopf der buckligen Marte gäbe ein sehr schönes Werk in Spiritus; und noch Anderes. – Der Schuft, der Seelenhändler, kam, und ich glaube er hatte im Sinne, mir für meinen Edi . . . für meinen Edi!«

»Gott im Himmel!« rief Hinze.

»Hättet Ihr ihm das Hirn zerschmettert!« sagte der Steinfresser wild.

»Wozu unnöthige Händel?« sagte Brunk. »Und der versoffene Lump auf dem Stroh dort – er schnarcht – sagte ja, er habe sich selbst schon verkauft, die Thaler mit Adam getheilt und seine Gebühr vertrunken; – es sei ja alles eins, ob . . . .«

»Nun,« sagte der Jongleur, »Leute muß es doch geben, an denen die jungen Doktoren was lernen.«

»Das ist richtig,« sagte Hinze. »Aber ein Kind, sein eigen Kind verkaufen . . .«

»Nicht um die Welt!« rief Liese und blickte mit schmerzlichem Lächeln auf die bleichen Züge.

»Leute muß es geben, an denen man lernt, das ist richtig,« nahm der Invalide wieder das Wort. »Aber warum soll man an Reichen nichts lernen? Ich gebe gleich gerne meine sämmtlichen übrigen alten Knochen hin, wenn ich den andern Leuten noch damit nützen kann. Aber ich gäbe sie hin, weil ich ein vernünftiger Mensch bin, nicht weil ich ein armer Mensch bin! Warum soll der reiche 203 Kaufmann. oder Beamte, oder was er sonst ist, nicht berührt, untersucht werden, wodurch er gestorben, und so seiner lebenden Familie im Tode nützen? Warum soll ich, wenn ich ins Spital gehe, weil ich ein armer Teufel bin, wissen, wenn ich hier sterbe, schleppen sie meine Arme dorthin, den Kopf dahin . . . .«

»Ja, das thun sie!« sagte plötzlich Adam, der das Gesicht grinsend zur Thüre hereinschob, da er gehorcht hatte und zur Scheuer gekommen war, die ihm trotz Hinze's Ankunft so räthselhaft still schien. »Das thun sie . . . aber Thaler! . . .«

»Fort mit Euch, oder . . .!« brüllte der Invalide und hob sich drohend. Adam verschwand eben so rasch wie der Blitz in Brunk's Narbe gekommen war.

»Laßt den Schurken; hätte immer gerne einen andern Wirth gehabt als diesen,« sagte Hinze beschwichtigend. »Laßt ihn und sagt: wann ist das Begräbniß?«

»Begräbniß?« sagte Brunk wehmüthig-ironisch; »morgen früh wird meine alte Liese . . . nicht wahr, gute Liese, Du wirst von einem alten Rock was nehmen und ihn einwickeln?«

»Edi! Edi!« rief diese im Schmerze außer sich.

Arme lieben stärker Diejenigen, welche die Einzigen sind, von denen sie wieder geliebt werden, die Einzigen, die sie anlächeln, während sie von der ganzen Welt gescheut, gefürchtet, verachtet und zurückgestoßen sind.

»Poveri! cari, cari poveri!«

»Und Ihr wollt ins Spital damit?« fragte Hinze.

»Natürlich; was soll ich machen?«

»Habt Ihr keinen Sarg?«

»Fragt, ob wir ein Groschenbrod die Tage her gegessen 204 hätten, wenn nicht Diese da, die guten Kameraden, geholfen! Ich konnte nicht leiern gehen. Anfangs lief ich in die Spitäler, dann fürchtete ich, das Weib werde mir wahnsinnig, oder ich treffe den Kleinen nicht mehr lebend und sehe sein Auge nimmer. So blieb ich auch hier . . . geregnet hat es die Zeit viel . . . keinen Verdienst . . . woher nehmen?« –

»Ho!« sprang jetzt belebt Hinze auf, und er war der Alte wieder. »Nicht gesorgt . . . Kunibert Apollonius Hinze ist noch da! – Kein Sarg? wo ist mein Kaninchenkasten, ich ließ ihn ja da?«

»Dort steht er im Winkel.«

»Es ist aus mit Dir, alte Bude, halloh!« rief er, indem er sie herbeischleppte, und er faßte sie, daß sie in allen Fugen krachte. »Ihr Leute müßt doch etwas Werkzeug haben, bei Euren Geschäften. Ich habe noch die kleine Handsäge; hab' manchmal in den Wirthshäusern geflickt und gesägt und genagelt, damit die hohen Herrschaften gute Plätze bekommen und mein Theater proper wird.«

»Und ich habe einen Hobel, um die Balancirstäbe glatt zu machen,« sagte der Jongleur.

»Hammer und Nägel finden sich,« sagte Hinze, zerbrach bereits den Kasten und holte aus einem Lumpenbündel eine kleine Handsäge.

»Hammer und Nägel habe ich auch,« sagte der Invalide. –

»Gut, gut,« erwiderte Hinze. Im Nu warf er seinen Frack ab, schürzte die Hemdärmel auf und kniete schon nieder, maß, sägte und schnitt.

»Hätte nicht geglaubt,« sagte Brunk, als er die 205 Instrumente brachte, »daß dieser Hammer und diese Nägel meines Kindes Sarg nageln werden!«

»Getrunken, getrunken!« rief Poll. »Und jetzt ist kein anderer Trost, als das Beste vom Spiele zu machen!« –

Und Alles griff zu, Alles maß, richtete und schleppte Werkzeug herbei. Der Savoyarde sah gleich, instinktmäßig was es gäbe, half, hielt da und dort und bohrte die Löcher. Und der kleine Theaterdirektor war merkwürdig zu sehen, wie er am Boden kniete, trotz seiner neuen Beinkleider, und hobelte und maß und nagelte!

Die Mutter ging ab und zu, betastete zuweilen die glatten Brettflächen mit einer Art Freude; dann ging sie wieder zum Kinde und lächelte es an, als wollte sie ihm von dem neuen, schönen Kleide sagen, das es bekomme. Es war eine Freude, als ob in einer Familie die Todesbotschaft durch die Nachricht des großen Erbes gemildert würde.

In einer halben Stunde war der Sarg fix und fertig, zur vollkommenen Zufriedenheit und durch die Anstrengungen Aller, besonders unseres unermüdlichen Hinze.

Sie hoben den Kleinen hinein, und da lag er – still lächelnd!

Die Mutter schien eine Art Trost zu erhalten.

»Und richtig,« sagte Hinze, »da muß ich ja einige dünne Wachskerzen haben, die mein Kaninchen Rosine anzünden und auslöschen konnte. Hier, hier . . . eine Beleuchtung soll sein, daß sie kein Prinz schöner hat!« Und er nahm die dünnen, buntfarbigen Wachskerzchen, zündete sie an und steckte sie um den Sarg, daß es eine stille feierliche Freude war, das Ganze zu sehen. Edi lag da und lächelte wie das Christkindlein, welches in den katholischen Kirchen während der Weihnachtswoche zu sehen ist. 206

Die Mutter stand und schlug die Hände zusammen, lächelte und weinte, richtete die Kerzchen und hätte nichts gewünscht, als sich zum kleinen Edi in den Sarg legen zu können und mit ihm begraben zu werden. –

Poll ruhte eine kleine Weile aus, indem er auf dem Holzblock saß und stützte den Kopf auf die beiden Hände, während er nach dem beleuchteten Sarge sah.

Draußen stand Adam und sah durch eine Thürspalte herein, forschend was geschehe. Dann schlich er ärgerlich wieder in sein elendes Haus zurück.

»Müßt Ihr ins Spital mit dem Engel?« fragte endlich Poll, als ob er einen Einfall hätte.

»Kann's Kind, selbst, auch auf den Gottesacker tragen; ist ja nur ein Kind und braucht keine Träger.«

»Habt Ihr denn 'nen Todtenschein?«

»Hab ich freilich; sonst dürft ich ja nicht einmal in's Spital, wenn's nicht untersucht wäre.«

»Wißt Ihr was, Liese, Brunk? Halten wir eine ordentliche Leichenfeier, einen rechten Leichenzug!« rief Poll mit frischem Unternehmungsgeiste aus.

»Wie wollt Ihr das?« fragte der Jongleur.

»Wie? Das ist ganz einfach. Der Todtenschein ist da. Ihr wißt also den Kirchhof, wo's hingehört. Wir gehen, wie wir da sind, hin. Und gerade noch bei Nacht, damit wir Alle beisammen seien; bei Tage heißt es ja Brod suchen! Auf ein Trinkgeld für den Todtengräber soll's Hinze nicht ankommen! Und eine rechte Leichenfeier soll's sein! – Wir gehen still durch die Vorstadt, bis wir ganz aus der Stadt draußen sind, dann, einmal im Freien, stimmen wir Eins an. Vater Brunk, Euer Kasten spielt doch das Lied: Eine Handvoll Erde?« 207

»Ja,« erwiderte Brunk melancholisch; »hab's doch gar oft selbst den Leuten vorgesungen:

Eine Handvoll Erde
Und ein wenig Mos,
Sind auf dieser Erde
Einst mein letztes Los!«

»Nun, mein kleines Waldhorn ist auch noch in jenem Sacke, und ich kann noch ein Bischen drauf stümpern wie früher, als ich selbst meine Musikbande war. Ich werde das Lied, das ich tausendmal gehört, wol auch noch zuwege bringen, und ich stimme mit Euch ein. Edi soll begraben werden wie ein Prinz!« sagte Poll Hinze.

»Gott lohn's Euch, Gott lohn's Euch!« rief Liese und stürzte an Poll's Hals.

»Die Alte will's, ich seh's schon,« sagte der Invalide. »In Gottes Namen, ich bin's zufrieden!«

Und Liese eilte wieder ans Särglein, das auf der Erde stand, putzte und richtete an dem erbärmlichen Schmucke.

»Und an einer prächtigen Sargdecke soll's nicht fehlen!« fuhr Poll fort. »Habe ich nicht meinen Theatervorhang, worauf ein grüner Kranz und eine strahlende Harfe gemalt sind? diesen breiten wir über den Sarg, und kein Prinz braucht's schöner zu haben!«

»Poveri, o cari poveri!« rief der Savoyarde, der bei der Mutter stand.

»Das halte ich für abgethan, Brunk; und Ihr seid's zufrieden. – Draußen ist's noch zu lebhaft, wartet, bis die Leute bei den Thoren mehr verschwunden sind und der Mond etwas mehr heraus ist. Macht Euch nicht zu traurig indeß – kommt Liese, ich erzähl Euch was von den Kindern und den Engeln!« 208

Und Alle setzten sich um den Sarg, und starrten in die Lichtlein und in Edi's bleiches Gesichtchen.

»Seht Ihr, Liese, Ihr glaubt Euren Edi da noch zu haben und zu sehen . . . das glaubt Ihr gewiß. Nicht? – Ihr glaubt's; doch es ist nicht so. – Nun . . .«

Von den Kindern und den Engeln!

»Ihr wißt, jedes Kind, wenn es auf Erden gelangt, kommt vom Himmel und war dort ein Engel. Und wie die Menschen hier leben, darauf kommt es an, ob sie droben wieder Engel werden. – So ein Kindlein kann nicht viel Böses thun auf Erden; aber es kann gut und auch nicht gut sein, selbst als Kind. Und da ein Kind noch nicht lange fort ist von den Engeln, so kennen es die Engel noch immer und kümmern sich darum, besonders, wenn es stirbt. Wenn es einmal gestorben ist,« sagte er in einem recht traulich leisen Tone, »so kommen die Engelein vom Himmel und setzen sich um den todten Kleinen und halten Rath. Und ein Engel, der Engel der Liebe, fragt: hat er seine Mutter recht geliebt? Und andere Engelein antworten die Wahrheit. Und dann sagt der Engel des Gehorsams: war er seinen Eltern recht gehorsam? Und wieder haben andere Engelein, die darüber gewacht, auszusagen, was geschehen ist. Und dann kommt der Engel der Leiden und fragt: hat er recht auf Erden gelitten? Und die Engelein, welche auf Erden nachschauen, sagen es ihm, was sie gesehen. Darauf tritt der Engel der Geduld vor und fragt: hat er es sanft ertragen? Und der Engel der Thränen fragt: hat er seinen Eltern viel böse Thränen gekostet? Und Alle antworten, wie es die Wahrheit ist und wie sich's gebührt, Ja auf Ja, oder Nein auf Nein. Und wenn das Gute 209 bejaht und das Böse verneint ist, so scharen sich die Engelein noch enger um ihn und das schönste gibt ihm einen Kuß – es erwacht und schlägt die Augen auf und erkennt seine Brüderchen vom Himmel. Und der lieblichste mit dem strahlenden Gesichte sagte ihm: Du bist noch nicht verdorben von der Welt, Du bist noch immer der Engel vorn Himmel, komm mit uns, wir Englein nehmen Dich mit, und sei wieder ein Engel! Und sie stimmen einen Gesang an, den wir gar nicht hören, der aber die Luft erfüllt wie ein lieblich Licht, und ein Strahl geht auch von den Engelein aus, und der neue ist im Mittelpunkte dieser Strahlen, sie heben ihn in diesem Glanze hoch, hoch über die Dächer, über die Thürme, über die Berge, über die Wolken, in den lichten blauen Himmel hinein, wo ihnen Gott der Vater aufthut und das rückgekehrte Engelein wieder anlächelt, segnet und für immer bei sich behält!« –

* * *

»O, er ist ein Engel, er ist ein Engel!« rief Liese. »Er war so gut, so geduldig, so sanft und trug alle Noth, alle Leiden; o, sicher, er ist ein Engel!«

»Das ist er!« murmelte der Alte und eine Thräne rann auf seinen weißen Schnurbart.

»Seht Ihr, Frau Liese,« nahm Poll wieder das Wort; »und Ihr glaubtet, er sei noch da. Was Ihr da sehet, das ist nur Schein und kommt Euch nur so vor, als ob er's wäre; aber sie waren herin, die Engelein, sie sind durchs Scheuerthor gekommen und haben sich um ihn auf diese Erde gesetzt, haben berathschlagen, haben ihn da als Engelein erkannt und haben ihn hinausgetragen von diesen dunklen, 210 feuchten Wänden, ins Freie, ins Lichte, in den Himmel, und er ist ein Engel . . . aber da ist er nicht mehr!«

Und Liese lächelte unter Thränen, tief im Herzen erleichtert, das Kind an.

»Und jetzt,« lispelte Poll zu Vater Brunk, während Liese im Anschauen des Kindes versunken war, »seht, daß Ihr den Sarg zu bekommet.«

Die Lichtlein begannen auszulöschen. Brunk erhob sich und winkte den Andern. »Küsse es, Liese,« sagte er, »es muß Alles zu Ende gehen!« Und sie stürzte hin, küßte es und wollte sich nicht trennen. »Er ist ja bei den Engeln, gute Frau!« sagte Poll, und Mehrere riefen beistimmend: »Er ist ja bei den Engeln!« – Der Invalide ließ sich nun auf ein Knie nieder, schob sanft seine Frau bei Seite, küßte den Engel und biß sich in die Lippen, um nicht zu jammern und seine Frau noch betrübter zu machen. Nur über seinen Schnurbart rollten zwei schwere große Thränen.

Poll hatte indessen mit den Andern heimlich geflüstert. Während Brunk zu Häupten seines Kindes kniete, die Hände faltete und Liese kniend das Gleiche that, drehte der Savoyarde des Alten Orgel, Poll blies in das Trompetenhorn, Riepel stimmte den Text des Liedes an, und der Savoyardenknabe sang auch die ihm bekannte Melodie, so daß es einen rührenden Chor gab, während Kratke, rasch bei der Hand, den Deckel über den Sarg schob und festnagelte. – Liese wollte ihn abhalten – es war geschehen, und die langsamen düstern Trauertöne überhallten ihr Schluchzen.

Der »Tiger« auf dem Stroh erwachte und brummte, daß noch immer keine Ruhe sei! Keiner achtete auf ihn.

Jetzt erhob sich Alles. Poll warf den Vorhang mit dem grünen Kranze über den Sarg, Brunk nahm Hut und 211 Stock, dann Liese in den einen Arm, Poll führte sie am andern. Der Savoyardenbursche hob, auf des Letztern Wink, das Särglein auf die Schulter, und sie schritten vorwärts, nachdem Adam, der stets im Hofe herumgelungert war und den Trauerchor gehört hatte, aufschließen gemußt, durch die Straßen und endlich ins Freie hinaus.

Im Freien draußen ließ Poll den Arm Liesen's los, die nun still weinend an ihrem Alten hing. Dieser humpelte mit seinem Stelzfuße, zudem auf seinen Stock gestützt, langsam und gefaßt dem Särglein nach. Einer hatte den Leierkasten mitgetragen und spielte nun das Lied, Poll nahm sein Waldhorn hervor, und der Chorus begann von Neuem. Rührend klangen die schmucklosen, aber innigen Töne durch die Stille der Nacht, über die mondbeschienenen Felder und den einsamen Hütten zu, worin mancher Schläfer einen süßen Traum davon gehabt haben mochte..

Liese jammerte nur über die große Grube, worein sie das Särglein werfen müßten, und daß das Kind kein Kreuzlein bekäme, auch daß die Grube bald wieder geleert würde und sie dann den Ort nicht mehr wissen werde, um an den kleinen Gebeinen zu knien und zu beten!

Und als sie so im Mondscheine, als Leichenzug gingen, kam ein Mann daher, dem die Töne aufgefallen waren. Sicher war er in der schönen Sternennacht spazieren gegangen und hatte in der großen heiligen Schrift der Natur gelesen. –

»Woher seid Ihr guten Leute?« fragte er. Und als sie geantwortet, frug er sie weiter, »wen sie zu Grabe trügen und wer sie wären.« Sie sagten ihm Alles. Liese weinte noch stets über die große Grube. Er sprach ihr Trost zu, sagte, sie solle sich beruhigen, Geld habe er keines, 212 sonst hätte er gleich einen eigenen Platz für das Kind auf dem Kirchhofe gekauft; aber wenn ihnen der Weg nicht zu weit wäre, könne er helfen. Er sei Pfarr-Adjunkt auf dem nächsten Dorfe (es glänzte im Mondscheine herüber), und wenn sie mit ihm kommen wollten, nach dem Dorfkirchhofe, da möchte er schon fürs Kind guter aber armer Leute ein Plätzchen aussuchen, und es solle gleich begraben werden; er wolle das schon des andern Morgens vor der Gemeine verantworten.

Liese bedeckte seine Hände mit Thränen und Küssen.

Er wehrte es und sprach ihr stets Trost zu. So kamen sie durchs Dorf, in den Kirchhof. Und dort war rasch ein kleines Grab gegraben, gerade so groß, als es für den kleinen Sarg nothwendig war. Da stimmten sie Alle nun zusammen das bekannte Kirchenlied an:

»Auferstehn, ja auferstehn wirst Du
    Mein Staub, nach kurzer Ruh;
Unsterbliches Leben wird, der Dich schuf
    Dir geben. Gelobt sei Er!«

Und Poll's Horn klang so voll und wohltönend, wie von einem besonders elegischen Geiste beseelt, über die Gräber und Steine und durch das Laub dahin. Der Pfarr-Adjunkt sprach noch eine recht erbauliche und trostreiche Grabrede. – Sie ließen den Sarg hinab und schaufelten zu. Und der Mond, der schon früher klar und lieblich herabgesehen auf das Ganze, deckte jetzt den frischen Hügel mit einer silbernen Decke.

Der Invalide brach selbst einen Zweig vom nächsten Baume, band ein Kreuzlein und steckte es auf den Hügel. Der Pfarradjunkt aber fragte um Name und Jahreszahl des Kindes und sagte: was das Kreuzlein betreffe, das sei 213 seine Sorge. – Und als ihm Alle gerührt danken und die Hände küssen wollten, wehrte er es ab, meinte, sie sollen ihn einmal dafür ins Gebet einschließen, dann sei er belohnt – rasch darauf sagte er ihnen »Behüt Gott!« und ging.

Die Menschen standen einen Augenblick sprachlos und wischten sich eine Thräne. Der Savoyarde, der nur gesehen aber kein Wort verstanden und die einmal gehörten Melodien sofort innig mitgesungen hatte, weinte wie ein kleines Kind. Dann gingen sie Alle.

Poll brach endlich das Schweigen und sagte: »Das war eine Leichenfeier, wie bei einem Prinzen!«

»Wie bei einem Prinzen!« wiederholte der alte Brunk.

Hierauf setzte Poll sofort das Horn wieder an den Mund und blies eine wohlbekannte Melodie.

Bei der betreffenden Stelle der Strofe brach er plötzlich ab und rezitirte aus dem Texte:

»Wir machen unser Kreuz und Leid
Nur größer durch die Traurigkeit!«

»Recht gesprochen!« rief der Invalide und sah seine Alte an, sagend: »Nicht wahr Liese?« – Und Liese lächelte unter Thränen.

Dann ging Poll mit ihnen noch eine Strecke in der Stadt; hier drückte er Brunk das Silberstück in die Hand und sagte: »Das ist der lustige Auszug, den ich zahlen wollte; – er ist nicht eigentlich von mir, sondern von meinem Herrn – laßt Euch gut geschehen, nur Philosophie, gute Nacht!«

»Hinze, Hinze!« rief der humpelnde Invalide ihm nach; aber Poll war schon weit vorausgeeilt, und der Rest des Zuges ging wieder ins »Paradies«. – 214



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