Mendele Moicher Sfurim
Fischke der Krumme
Mendele Moicher Sfurim

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XXIV

»Mit Odessa war ich wirklich nicht zufrieden, mußte aber doch über den Winter dableiben. Wie kann man auch zur Winterszeit bloß und barfuß, und dazu noch in einer fremden Gegend, auf die Wanderschaft gehen? Als es aber wieder warm wurde und die Sonne zu leuchten begann, war es mir, als ob mich etwas stieße, und es litt mich nicht mehr an einem Ort. Früher habe ich mir aus dem Sommer nie etwas gemacht. Sommer ist eben Sommer. Es ist warm, hell und grün, und die Tage sind länger. Das ist ja gut. Es ist auch nicht mehr kalt. Die Kühe kommen auf die Weide, und es gibt Milch und auch etwas Sahne. Man hat zu seinem Brot auch noch eine Zwiebel, ein Stückchen Knoblauch oder Rettich; für den Armen ist das schon sehr viel. Diesmal aber hatte der Sommer für mich eine ganz andere Bedeutung. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll: er sprach zu mir mit Worten, gab mir irgendeine Lust ein . . . Er erinnerte mich immer an sie, meine Bucklige . . . Jedes Gräschen, jedes grüne Bäumchen, jedes Vogelgezwitscher erzählten mir von ihr und überbrachten mir ihre Grüße. Ich mußte mir immer denken: so saß sie neben mir, so blickte sie mich an, so lachte sie und so schüttete sie ihr bedrängtes Herz aus. Das Blut kam in mir zum Sieden, mich befiel eine süße Schwermut und es zog mich irgendwohin . . . Wie das alles mit dem Sommer zusammenhing, ob das sein Werk war oder ob mich eine Krankheit befallen hatte, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß mit mir etwas nicht in Ordnung war. Ich flackerte wie eine ausgehende Kerze, ich war ein ganz anderer Mensch geworden.

›Fischke, bist du krank?‹ fragt mich einmal Jontel: ›Du siehst so schlecht aus, was fehlt dir denn?‹

›Gar nichts!‹ antworte ich, mich mit beiden Händen ans Herz greifend.

›Du fühlst was am Herzen?‹ sagt Jontel: ›Dagegen weiß ich ein Mittel: ein Stückchen Brot mit viel Salz bestreut auf den nüchternen Magen.‹

›Ich habe auch so Salz genug auf dem Herzen‹, antworte ich ihm seufzend: ›Ich fühle, daß mich etwas zieht und nicht ruhig sitzen läßt.‹

›Ich verstehe schon‹, sagt Jontel mit einem Lächeln: ›Es zieht dich nach deinem Glupsk. Dorthin, wo der Fluß Gnilopjatowka blüht, wo die Armut pfeift und Zwiebel und Knoblauch duften. Schäm dich nicht, Fischke, und wandere hin.‹

Einige Tage später nahm ich von Jontel Abschied und machte mich zu Fuß auf den Weg . . .

Mein Kopf strebte ans Ende der Welt, mein Herz wollte nur zu ihr. Ich dachte immer: wo mag sie jetzt sein? Was treibt sie, wie lebt sie, nebbich, ohne mich? Und meine Füße gingen ganz von selbst in der Richtung nach Glupsk. Ich ging durch Dörfer und Städte und dachte unterwegs nur an sie und spähte mit den Augen, ob ich sie nicht finden würde. Ich bin durch eine Menge jüdische Städte gekommen. Je mehr ich mich Glupsk näherte, um so leichter wurde es mir zumute. Ich freute mich über jeden Juden aus unserer Gegend. Ihre Sprache, ihre Sitten, ihre Lebensart erquickten mein Herz. Ich fühlte mich unter den Leuten wie zu Hause, so wahr ich lebe! Die Juden von unserer Gegend sind mir eine wahre Herzensfreude: sie kennen keine Zeremonien, keine Kunststücke, wissen nichts von der Welt und den dummen Moden. Du kannst reden und schreien, kannst alles tun, so einfach und frei, wie Gott es geboten. Niemand kümmert sich darum, ob es schön oder häßlich, ob es passend oder unpassend ist. Gefällt es dem andern nicht? Soll er die Augen schließen und sich die Ohren zuhalten . . . Ich kam allmählich zu Kräften, wurde ruhiger, dachte an Glupsk und an das gemauerte Bad und hoffte auf Gott.

So ging ich an einem schönen Morgen zwischen Weizen und Korn und kam in einen dichten Wald. Ich ging recht tief hinein, warf meinen Sack ab, zog den Rock aus und legte mich ins hohe Gras. Was gibt's da viel zu denken? Wald ist Wald, Gras ist Gras, die Vögel sind Vögel, und ich bin ich und darf wohl ein Schläfchen machen, um mich nach der langen Wanderung auszuruhen. Ich strecke mich aus, gähne, schließe die Augen und – hört einmal meinen Traum:

Ich glaube Schritte und ein Rascheln im trockenen Reisig zu hören. Das Rascheln wird immer stärker, die Schritte kommen immer näher. Die Sache fängt mich zu interessieren an, ich will die Augen öffnen, es fällt mir aber zu schwer; ich liege wie ein Klotz und kann mich vor großer Müdigkeit nicht rühren. Die Schritte entfernen sich, ich beruhige mich, gebe mich dem Schlummer hin, meine Gedanken geraten durcheinander, und es ist mir seltsam wohl zumute . . . Dann höre ich wieder eine leise, süße Weise . . . Ich glaube das Lied zu kennen, die Weise dringt mir in alle Glieder, packt mich am Herzen, ich möchte weinen und fühle zugleich, wie meine Kraft wächst. Es ist wie das Lied vor der Trauung: es weint und lacht zugleich, es ist wie Regen und Sonnenschein. Plötzlich fühle ich, wie mir jemand das Haar berührt, und höre einen Schrei. Ich erwache, hebe den Kopf aus dem Gras und sehe einen Topf mit großen roten Erdbeeren nicht weit von mir auf der Erde stehen. Etwas weiter sitzt im Grase ein weibliches Wesen, das sich ängstlich nach allen Seiten umsieht. Ich begriff sofort, was es war: das Frauenzimmer hat Erdbeeren gesucht, dabei ein Lied gesungen, ist plötzlich auf meinen Kopf gestoßen und hat sich furchtbar erschrocken. Ich stehe schnell auf, nehme den Topf, trage ihn ihr hin und winke ihr schon aus der Ferne: ›Hab keine Angst!‹ Wie ich aber näher komme, fällt mir der Topf aus den Händen. Ich schreie auf, bin wie vom Blitz getroffen, und bald stehen wir uns gegenüber und drücken einander die Hände: ich und meine Bucklige . . .

Das war alles im Wachen und nicht im Traume. Ich sehe alles ganz klar: um mich herum stehen kräftige Bäume, Vögel singen und pfeifen in den Zweigen und freuen sich mit uns. Wir beide sind überglücklich, wir lachen und weinen vor Freude. Wir sind erstaunt, und jeder fragt den andern, wie er hergekommen sei.

Sie erzählt mir von all der Pein, die sie ausstehen mußte, seit die Bande mich in jenem Städtchen zurückgelassen hatte. Das war ein Streich des Rothaarigen. Er wollte nicht, daß meine Frau die Scheidung annehme, denn er fürchtete, sie würde von ihm verlangen, daß er sie heirate. Er konnte schon eine Blinde brauchen, aber nicht als Frau. Er wollte durch sie nur Geld verdienen, gehören soll sie aber einem andern. Zugleich wollte er aber auch mich unglücklich machen. Meine Freundschaft mit der Buckligen gefiel ihm gar nicht, und er suchte nach einem Mittel, uns voneinander zu trennen . . . Als er mich los war, nahm er meine Frau fest in die Hand und zeigte ihr auch bald, wer die Gewalt hatte; denn er wußte sehr gut, daß sie aus seinen Klauen nicht mehr entrinnen konnte. Was kann eine Blinde gegen ihn machen? Mit der Zeit bekam er sie ordentlich satt und übergab sie dem Alten, damit er mit ihr auf den Bettel gehe und die gleiche Komödie aufführe, wie im vorigen Jahre mit mir. Der Rothaarige zapfte ihr förmlich das Blut ab: er schlug sie fürchterlich, und auch der Alte schlug sie seinerseits. Sie ist in kurzer Zeit ganz alt geworden, und ihr Gesicht ist schwarz wie Erde. Die Bande ist das ganze Jahr herumgezogen und hat eine Menge Städte besucht. Heute früh sind sie in diesen Wald gekommen und haben haltgemacht, um auszuruhen. Sie ist auf die Beerensuche gegangen und hat, wie sie sagt, plötzlich eine schöne Erdbeere gefunden: mich . . .

Auch ich erzähle ihr alles, was ich inzwischen erlebt habe und wie ich an diesem selben Morgen auf dem Wege nach Glupsk hergekommen bin. Und wir beschließen, uns nicht mehr zu trennen und alle Mittel anzuwenden, um meine Frau zur Scheidung zu bewegen. Und wird sie darauf nicht eingehen, so werden wir beide von der Bande fliehen und warten, was Gott geben wird. Und wie wir so sitzen und uns übereinander freuen, klingt es plötzlich durch den Wald: ›Hallo!‹

›Das ist einer von der Bande‹, sagt die Bucklige: ›Man sucht mich.‹ Und bald darauf zeigt sich ein Kerl, den ich gleich erkenne. Der Kerl sieht mich recht unzufrieden an und lächelt spöttisch. Wir machen keine langen Geschichten und gehen. Der Kerl läuft voraus; er hat offenbar Eile, die gute Nachricht seinen Leuten zu bringen. Wir eilen aber nicht und gehen recht langsam. Hinter einer verfallenen Schenke im Walde sehe ich die bekannten Wagen stehen, und etwas weiter auf einem freien Platz zwischen Bäumen brennt ein Feuer, um das die ganze Bande versammelt ist. Den ersten Willkommengruß bekomme ich vom Rothaarigen: ›Ein lieber Gast, so wahr ich lebe! Wie geht's? So sehr hab ich mich nach Euch gesehnt, Reb Fischel!‹ Und die andern schreien: ›Laßt uns doch den vornehmen Mann begrüßen!‹ Die Leute fallen mit Geschrei und Püffen über mich her, so daß mir die Mütze vom Kopfe fliegt. Ich bedecke mir den Kopf mit dem Rockschoß und will die Mütze suchen, während Püffe und Schläge auf mich niederprasseln, als plötzlich mein Weib gelaufen kommt und voller Freude schreit: ›Wo ist er, mein Fischke? Wo, wo?‹ Ihre Freude tat mir mehr weh als alle die Püffe von den Leuten. ›Diese Freude paßt mir gar nicht für die Scheidung!‹ denke ich mir, ›es wäre mir viel lieber, wenn du mich ebenso haßtest wie die ganze Bande!‹ – Sie aber hängt sich an mich und schreit immer: ›Fischke, mein Fischke!‹ Als ich die blinde, dürre, kranke, alte Frau sah, wurde mir ganz schlecht. Wo ist ihr kräftiger, gesunder Körper, wo ihre vollen Wangen und das rundliche Gesicht? Ich tat mir förmlich Gewalt an, als ich sie, des Anstandes wegen, fragte: ›Wie geht es dir, Basche?‹

›Du hast wirklich recht gehabt, Fischke, als du einmal sagtest, daß wir in Glupsk einen guten Namen gehabt haben, daß mich da jedermann kannte und mit Respekt behandelte‹, sagt mein Weib so laut, daß alle es hören; sie blickt dabei so stolz wie ein heruntergekommener Reicher, der von seinem einstigen Reichtum erzählt, und seufzt aus tiefstem Herzen. ›Es ist genug, unstet und flüchtig zu sein. Führe mich, Fischke, heim in unsere Stadt, in unsere Straßen, zu unsern Leuten!‹

Es wurde mir finster vor den Augen. Ich hatte gar nicht erwartet, solches von ihr zu hören, und verzog das Gesicht; auch der Rothaarige verzog das Gesicht, denn er glaubte wohl, daß ich sie ihm nehme und er seine Einnahmequelle verliert. Ich dachte mir aber: ›Behalte sie nur, ich lasse sie dir sehr gern!‹ Er brannte vor Wut und sah mich böse mit blutunterlaufenen Augen an. Dann erhob er sich brummend von seinem Platz und ging weg.

Die Weiber und Mädchen von der Bande machten sich am Feuer zu schaffen: sie setzten Kochtöpfe auf und buken Kartoffeln. Die Burschen standen um sie herum, stießen und kniffen sie und machten derbe Scherze. Die Weiber taten so, als ob sie sehr böse wären und sich wehren und schimpfen wollten; sie platzten aber schier vor Lachen und nahmen alles in Liebe hin, wie die Hühner, wenn der Hahn ihnen mit gesträubtem Gefieder seine Gnade erweist und sie in den Kopf pickt. Ein Teil der Gesellschaft hat sich über den Wald verstreut. Einer liegt auf dem Rücken und schnarcht, ein anderer flickt seinen Rock, der dritte kratzt sich und macht mit ernstem Gesicht Jagd auf Ungeziefer. Andere messen ihre Kräfte im Ringkampfe. Es kocht, es schallt, die Leute leben! . . . Mein Weib hält mich mit beiden Händen fest: man könnte meinen, daß wir ein Leib und eine Seele seien; sie redet und redet, beklagt sich über ihr finsteres Los, schüttet vor mir ihr Herz aus, erzählt, was sie alles hat ausstehen müssen, und will nichts anderes, als daß ich sie mitnehme und mit ihr, wie Gott geboten, bis wir hundertundzwanzig Jahre alt werden, lebe. Ich antworte ihr nur ein Wort auf zehn Worte und bemühe mich, von ihr loszukommen. Wie sie mir nichts mehr zu sagen hat und wir lange genug auf einem Fleck gesessen sind, gelingt es mir schließlich, mich aus ihren Händen zu befreien und freier aufzuatmen.

Ich suche gleich meine Bucklige auf und gehe mit ihr etwas auf die Seite. Unser Gespräch fängt damit an, daß wir beide feststellen, daß die Lage recht schwierig ist. An eine Scheidung ist nicht mehr zu denken: meine Frau wird davon nichts hören wollen. Und bei dieser Bande zu bleiben, ist auch nicht gut. Das hieße sich wieder dem Teufel verschreiben und aufs neue einen Tanzbären machen. Was sollen wir nun tun? Wir saßen eine lange Weile da und sagten uns zuletzt: wir haben keine andere Wahl und müssen fliehen. Da die Bande die Absicht hat, hier über Nacht zu bleiben, so ist jetzt der günstigste Augenblick: wir wollen noch diese Nacht durchbrennen. Wie wir so sitzen und über diesen Plan sprechen, zeigt sich in der Ferne der rothaarige Halunke mit zwei Pferden. ›Wir wollen nicht warten‹, sagt die Bucklige, ›daß er noch näher kommt; er darf uns nicht beisammen sehen. Es ist besser, wenn wir uns jetzt trennen.‹

Und sie geht nach der einen Seite, und ich nach der anderen.

Der Rothaarige schien sehr beschäftigt und tuschelte immer mit dem Alten, der bei ihm eine Art Flügeladjutant war. Ich ging dem Halunken aus dem Wege und hielt mich abseits. Als die ganze Gesellschaft mit Scherz und Arbeit beschäftigt war, ging die Bucklige auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr, daß der Rothaarige und die ganze Bande sich schon bei Sonnenaufgang auf den Weg machen wollten. Die Pferde, die wir früher gesehen, hat er gestohlen, und nun will er sich mit ihnen so schnell wie möglich aus dem Staube machen. Unser Plan fiel also ins Wasser. Ich stand ganz ratlos da und wußte nicht, was anzufangen. Mein Herz krampfte sich zusammen, der Kopf schwindelte mir, und ich hielt mich kaum auf den Beinen. Meine Bucklige sah mich mit tiefem Mitleid an, ihre Augen leuchteten wie Feuer, und ihr Gesicht glühte. Sie dachte eine Weile nach und sagte mit zitternder Stimme:

›Fischke, komm später in die eingefallene Schenke und warte dort auf dem Dachboden. Du verstehst?‹

›Ich verstehe, ich verstehe!‹ rufe ich erfreut aus: ›Und du wirst später auch hinkommen?‹

›Ja, aber sei still!‹ Sie nickt und sagt noch einmal: ›Aber um Gotteswillen still!‹

Ich hielt es nicht für nötig, mich von meinem Weibe zu verabschieden. Sie tut mir zwar leid, aber was kann ich dafür? Sie hat ja den ersten Riß zwischen uns verschuldet, und dieser Riß war immer größer und größer geworden. Ich konnte ihr nicht helfen. Es war mir auch sonst ganz unmöglich, mich mit ihr wieder zu verbinden: wir konnten einander ebensowenig nahe kommen wie Himmel und Erde. Ich sagte ihr natürlich kein Lebwohl und begab mich zu der Schenke.

Ihr könnt Euch vorstellen, mit welchen Gefühlen ich in den halbeingefallenen Bau trat. Nach soviel Pein und Schmerzen wollte mich Gott mit der Buckligen zusammenbringen. In der Schenke sollte unser Los entschieden werden: wir waren ja im Begriff, ein neues Leben zu beginnen. Es war mir nicht schwer, auf den Boden zu klettern, denn das Häuschen war sehr niedrig und berührte hinten mit dem Dach beinahe die Erde. In der Decke gab es große Löcher, so daß ich vom Dachboden alles sehen konnte, was unten geschah. Ich sitze oben in einem Winkel und warte. Mein Herz klopft fürchterlich. Jede Minute kommt mir wie ein Jahr vor. Ich lausche mit gespitzten Ohren und glaube bei jedem leisesten Geräusch ihre Schritte zu hören . . . Bei jedem Windhauch kommt mir vor, daß sie mich beim Namen ruft . . . Plötzlich höre ich in der Scheune unter mir Stimmen . . . Beim Gedanken, daß sie es ist, daß wir bald frei sein werden, überlief es mich heiß und kalt. Ich will mich melden, aber mir stockt der Atem, und meine Stimme versagt. Nun höre ich ganz deutlich jemand meinen Namen nennen und sehe unten . . . Wen glaubt ihr? Den Rothaarigen und den Alten! . . . Sie reden miteinander:

›Du übernimmst also die Ware, aber paß auf, daß die blinde Hexe dir nicht entwischt‹, sagt der Rothaarige: ›Verstehst du?‹

›Sei unbesorgt!‹ antwortet der Alte. ›Ich hab schon das meinige getan und fürchte nur, daß sie mir verreckt: die alte Hexe liegt jetzt wie tot und kann sich nicht rühren: so hab ich sie zugerichtet.‹

›Und den krummen Hund nehme ich auf mich‹, sagt der Rothaarige: ›Ich kann seine Fratze gar nicht mehr sehen, so zuwider ist er mir! Ich werde mit ihm schon abrechnen: ich habe mit ihm auch noch eine alte Rechnung zu begleichen.‹

Das Blut erstarrte mir in den Adern, als ich solches hörte.

›Die Pferde, die du gestohlen hast‹, sagt der Alte, ›scheinen jüdische Pferde zu sein. Sie sind so mager und schwach, haben krumme Rücken, dünne Hälse und Hämorrhoiden wie die vornehmen jüdischen Bürger.‹

›Die Zunge möchte dir herausfallen, alter Narr!‹ schimpft der Rothaarige: ›Geh lieber auf den Dachboden hinauf und such nach, ob du nicht irgendwelche alten Fuhrmannssachen findest, die wir brauchen können. Es war ja hier doch einmal eine Herberge gewesen!‹

Mich befällt unheimliche Angst, und es wird mir ganz schlecht. Die Füße zittern mir und klopfen gegen meinen Willen an die Decke. Die beiden starren eine Weile hinauf und sagen dann wie aus einem Munde:

›Von der Decke fällt der Mörtel herab: man muß nachschauen, was dort los ist.‹

Mir schwindelt der Kopf, es saust mir in den Ohren, es flimmert mir vor den Augen, und es ist mir, wie wenn ich in der Luft schwebe. Ein Paar eiserne Hände packen mich und schleudern mich vom Boden hinunter. Dann höre ich den Gruß: ›Willkommen, Reb Fischel!‹ Und ich sehe vor mir den Rothaarigen. Sein Gesicht ist schrecklich anzusehen: es ist wie das Gesicht einer Katze, die eben eine Maus erwürgen will. Der Alte ist nicht mehr zu sehen. Er ist offenbar fortgegangen und hat mich mit dem Rothaarigen allein gelassen.

›Nun, liebster Freund‹, sagt der Halunke, ›sprich den Widuj! . . . Was ich mit dir damals im Keller hätte tun sollen, das will ich jetzt nachholen. Faibuschke vergißt nichts!‹

Ich falle ihm zu Füßen, weine und flehe ihn um mein Leben. Es hilft nichts. Er holt ein Messer hervor, hält es mir vor die Augen und weidet sich an meiner Todesangst. Ich verspreche ihm alle Wonnen des Paradieses, schenke ihm meinen Anteil an der ewigen Seligkeit und alles, was ich nur kann. Er blinzelt mit den Augen und schweigt. Nun versuche ich ihm mit der Hölle Angst zu machen, mit dem Gericht Gottes und sage, daß Gott ihn strafen und von ihm das unschuldige Blut fordern wird. Er beißt die Zähne zusammen und zückt das Messer. Aber in diesem selben Augenblick, wo er mir schon beinahe den Hals durchschnitten hat, packt ihn jemand von rückwärts, und ich höre ein unmenschliches Geschrei: ›Nein, nein, das wirst du nicht tun!‹ Er ist ganz starr und sieht sich um.

Es war die Bucklige, die ihn gepackt hatte.

›Du freches Geschöpf, fort von hier!‹ schreit der Rothaarige, wie er wieder zur Besinnung gekommen ist: ›Fort von hier!‹

›Nein, nein, ich geh von hier nicht fort! Und wenn ich auch mit ihm zusammen umgebracht werde!‹ schreit die Bucklige und fällt dem Halunken um den Hals. Sie weint bittere Tränen, streichelt ihn und fleht ihn an, mich loszulassen. Sie verspricht ihm das ewige Leben und einen Stuhl im Paradiese. Der Halunke stößt sie wie einen Ball zurück, flucht und schimpft, was er kann. Die Mordlust hat sich aber in ihm schon ein wenig gelegt, und er wendet sich an mich mit diesen Worten:

›Es tut mir sehr leid, daß ich dich nicht gleich umgebracht habe. Du kannst zwar von Glück sprechen, daß ich dich nicht wie einen Floh zerdrückt habe, du stinkende Seele, aber ganz heil wirst du aus meinen Händen doch nicht entrinnen.‹

Er nimmt sich den Strick, mit dem er umgürtet ist, vom Leibe, bindet mich an Händen und Füßen und sagt:

›Lieg still, du Hund, keinen Ton soll man von dir hören! Lieg, bis du krepierst. Und wenn dir ein Wunder geschieht, wenn deine Großmutter im Grabe sich für dich verwendet und du von hier herauskommst, so nimm dich in acht, daß du mir nie wieder vor die Augen trittst: wenn ich dich je wieder sehe, so mache ich dir gleich den Garaus!‹

Und wie er mit mir fertig ist, nimmt er die Bucklige vor, die jammernd, flehend und sich die Haare raufend zu seinen Füßen liegt.

›Du freches Geschöpf‹, schreit der Halunke, sie mit dem Fuße stoßend: ›Ich weiß und verstehe alles. Das war eine Verabredung zwischen euch: eine Hochzeit ohne Spielleute hier auf dem Dachboden . . . Ein nettes Mädel! Und vor mir spielst du eine Rebbezin! Nun werde ich es dir zeigen!‹

Er packt sie bei den Händen, wendet sich noch einmal nach mir um, sagt: ›Merk dir, was ich gesagt habe, du Hund!‹ und verschwindet mit ihr.

In der Hölle leidet man wohl nicht so furchtbar, wie ich nun litt. Ich war nicht in der Hölle, aber die Hölle war in mir. Ein höllisches Feuer brannte in mir. Die Haare standen mir zu Berge. Ich fühlte, wie sie mich wie Nadeln stachen, und ich durfte nicht schreien, durfte keinen Ton von mir geben.

Etwas später hörte ich das Knarren von Rädern und einen Lärm von vielen Menschen: die Bande war offenbar aufgebrochen und hatte meine einzige, gute, liebe Bucklige mitgenommen . . .

Lange lag ich wie ein stummes Schaf, an allen Gliedern gebunden, die Augen voll heißer Tränen. Die Stricke schnitten sich bei der leisesten Bewegung wie Messer in meinen Leib. Ich hatte auch furchtbaren Durst und glaubte, daß ich nun sterben müsse. Vor großem Schmerz fing ich zu schreien an: vielleicht wird mich jemand hören. Nach meiner Berechnung mußte die Bande schon recht weit sein. Ich schreie, aber niemand hört mich. Die Kehle ist mir trocken, Angstschweiß tritt mir in die Stirne. Ich kann nicht mehr schreien, ich muß eine Pause machen und ausruhen. Meine Lage wird immer schlimmer. Die Seele hängt mir nur noch an der Nasenspitze, und ich fühle, daß der Todesengel gekommen ist, um sie zu holen. Ich muß sterben, muß jung aus dieser Welt scheiden. Und ich nehme meine ganze Kraft zusammen und gebe einen fürchterlichen Schrei von mir – den letzten Aufschrei meiner Seele . . .

In diesem Augenblick schickte mir Gott Euch, Reb Alter! Ihr habt mir das Leben gerettet.«


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