Mendele Moicher Sfurim
Fischke der Krumme
Mendele Moicher Sfurim

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II

Wir machten keine langen Geschichten, sondern stiegen in unsere Wagen und fuhren weiter. Ich fahre voraus und Alter hinterher. Sein Wagen hat ein Verdeck aus alten zerfetzten Bastdecken, alle vier Räder sind von verschiedener Größe und die Speichen mit Stricken festgebunden. Die ausgeleierten Naben rutschen auf den Achsen hin und her, quietschen und knirschen und können keine Ruhe finden. Diesen Wagen schleppt mit vieler Mühe eine hochgebaute, sehr magere Mähre mit krätzigem, wundgebissenem Rücken, nacktem Bauch, langen Ohren und verfilzter Mähne, die sich mit dem Werg, das aus dem zerrissenen Kummet heraushängt, vermischt.

Vom Beten blieben mir nur noch die Kleinigkeiten am Schlusse übrig, aus denen man sich gewöhnlich nicht viel macht. Und wie ich mit dem Beten fertig bin, beginnt ein ganz neuer Kampf mit dem bösen Trieb: »Nimm«, redet er mir zu, »einen Schluck Branntwein! Erquicke dein Herz!« Ich wehre ihn mit einer Grimasse ab: »Es ist doch Schiweossor-be-Tammus, ein so wichtiger Fasttag!« – »Ach was!« antwortet er mir, »was haben die heutigen Juden mit dem alten Nebukadnezar zu schaffen?! Sie leiden heute viel größere Pein, und niemand macht daraus viel Wesens . . . Sei nicht so dumm: Du bist doch, nebbich, alt und schwach, der Schluck Branntwein wird dir wirklich nicht schaden!« Ich fahre mir mit der Hand über das Gesicht, um eine zudringliche Fliege zu vertreiben, und werfe dabei einen Blick auf das Ränzchen, das unten im Wagen liegt und in dem sich immer ein ordentlicher Vorrat von Schnaps, Buchweizenküchlein, Kornlebkuchen, Knoblauch, Zwiebeln und »allerlei Kräutern« befindet. Der Speichel läuft mir über die Lippen, das Herz vergeht vor Sehnsucht, der Magen knurrt: »Ach, einen Tropfen Branntwein, ach, etwas zum Beißen!« Ich wende schnell den Kopf weg und beginne alles, was mich umgibt, zu betrachten, um die bösen Gedanken zu verscheuchen.

Der Himmel ist blau, heiter, ohne den kleinsten Wolkenfetzen. Die Sonne brennt wie Feuer, kein Lüftchen regt sich, die Ähren auf den Feldern, die Bäume in den Wäldern stehen still, wie festgekettet, und rühren sich nicht. Die Kühe liegen müde mit ausgestreckten Hälsen auf der Weide, bewegen zuweilen die Ohren und kauen; andere wühlen mit den Hörnern die Erde, scharren mit den Hufen und brüllen vor großer Hitze. Der Bulle galoppiert mit wehendem Schweif, wendet den Kopf nach allen Seiten, bleibt plötzlich stehen, neigt den Kopf zur Erde, schnüffelt, schnaubt mit den Nüstern, brüllt, keucht und schlägt mit den Beinen aus. Neben einer alten, schiefen, zur Hälfte verdorrten Weide, die einmal ein Blitz entzweigespalten hat, stehen Pferde. Sie haben die Köpfe einander auf den Rücken gelegt, um wenigstens etwas Schatten zu haben, und wehren sich mit den Schweifen gegen die bösen Stechfliegen. Auf einem hohen Zweig schaukelt eine Elster; sie sieht aus der Ferne so aus, als ob sie einen gestreiften Tales anhätte und sich im Gebete wiegte; sie neigt den Kopf wie beim Tachnun auf die Seite, hüpft in die Höhe und gibt ab und zu leise Schreie von sich. Und dann steht sie wieder stumm da, reckt das Hälschen und blickt mit verschlafenen Äuglein in Gottes Welt hinaus. Auf der Straße ist es still, kein Geräusch, kein Pieps ist zu hören, kein Vogel zu sehen. Nur die Mücken jagen wie die bösen Geister durch die Luft, tanzen vor den Augen, summen, wie wenn sie mir irgend ein Geheimnis anvertrauen wollten, und sind auf einmal alle verschwunden. Und im Heu und im Getreide zirpen die Grillen: sie schwingen die Zimbeln und gehen dann mit den Tabletten einsammeln. Es ist heiß, es ist still, es ist schön . . . Pst! . . . Gottes Geschöpfe ruhen . . .

Ich liege vor großer Hitze im Wagen ausgestreckt, mit Verlaub zu sagen, im bloßen Hemd und Tales-Kotten, den gesteppten Hut auf die Nasenspitze geschoben und die Breslauer wollenen Socken, die ich, unserer großen Sünden wegen, auch im Sommer trage, bis zu den Fersen heruntergezogen, und schwitze. Das würde mir dieselbe große Freude machen, auch wenn die Sonne mir nicht so gerade ins Gesicht schiene. Denn ich liebe das Schwitzen und kann stundenlang bei der größten Hitze im Dampfbade auf der obersten Bank liegen. Mein Vater – er möge sich dort oben für mich bemühen! – hat mich von Kind auf daran gewöhnt. Er war ein heißer, feuriger, glühender Jude und liebte das Dampfbad über alles. Dafür war er bei allen Juden sehr beliebt. In seiner Vorliebe für das Schwitzen im Dampfbade steckte viel Jüdischkeit, und die Leute sahen ihn mit Respekt, wie einen gottbegnadeten Menschen an: »Ja, im Schwitzen ist er ein großer Gelehrter, er kennt die Lehre vom Dampfbad vom Grund aus, in diesen Dingen ist er ein wunderbar scharfer Kopf!«

Schwitzen ist eine jüdische Sache. Es vergeht kein Sabbat, kein Feiertag, ohne daß der Jude vorher im Dampfbade schwitzt. Welches von allen Völkern, von den siebzig Stämmen der Erde, schwitzt mehr als das jüdische? Aber nicht davon will ich sprechen.

Und wenn man schwitzt, so will man sich auch gerne stärken! Die Kehle ist mir ausgetrocknet, ich verschmachte nach einem Schluck, ich sterbe vor Hunger. Der böse Trieb packt mich wieder an, noch viel stärker als früher, und rechnet mir die ganze Liste der jüdischen Speisen vor: gebratene Lende mit Grütze; saures Suppenfleisch; Lokschen-Kugel mit einem gefüllten Hühnerhälschen; gebackene Teigfleckchen mit Grieben. Ich bin wie gelähmt an allen Gliedern, der Appetit ist groß, und der böse Trieb fährt noch immer fort: Chremslach, Frackes, Sulze von Kalbsfüßen mit Hühnerleber, Rettich mit Zwiebeln, ein Truthahnkropf mit Zimes von Pastinaken. Und plötzlich, ich weiß selbst nicht mehr wie das kam, liegt vor mir wieder das Ränzchen . . . »Zum Wohl!« spricht aus mir der böse Geist: »Genug, sich so dumm zu stellen, du Närrchen!« Meine Hand streckt sich ganz von selbst aus, macht das Ränzchen auf und greift schnell nach der Flasche. Ich sehe mich wie ein Dieb nach allen Seiten um, und mein Blick begegnet dem Blicke meines Pferdes, das sich gerade an der Deichselstange den Hals juckt und den Kopf nach mir umgewendet hat. Es blickt mich höchst unzufrieden an, als wollte es sagen: »Da schau! Ein Hinterbein ist mir stark geschwollen und mit einem Lumpen verbunden; meine Augen tränen, und mein Hals eitert. Das Maul soll mir zerspringen, wenn ich weiß, wie Hafer schmeckt. Was kann ich aber machen? – Ich schleppe mich hungrig, krank, zerschlagen weiter, um die Arbeit ja nicht zu unterbrechen . . .« Die Flasche gleitet mir aus der Hand und fällt wieder an ihren Platz zurück. Ich schiebe das Ränzchen verschämt weit von mir weg und sage mir dabei mit einem tiefen Seufzer: »Von einem solchen Geschöpf soll der Jude Vernunft lernen, an ihm soll er sich ein Beispiel nehmen! ›Malfejnu mebahamejs orez‹ – der uns vom Vieh der Erde lernen läßt . . . Nein, Pferdchen! Auch ich trage mein Joch und spanne nicht aus . . . Macht nichts, Reb Pferdchen, der Teufel wird uns beide nicht holen! Odom ubhejmo – dem Menschen, der ein Vieh ist – tejschia Adejnoj – hilft Gott! . . .« Aber nicht davon will ich sprechen.

Wenn ein Jude die böse Leidenschaft der Völlerei einmal überwunden hat, so macht er sich überhaupt nichts mehr aus dem Essen und kann sein ganzes Leben fast ohne Nahrung auskommen. Heutzutage gibt es schon viele Juden, die nur noch eine Andeutung von einem Magen haben, kaum so groß wie eine Olive. Und es ist zu hoffen, daß sie mit der Zeit – wenn die Fleischsteuerpächter und sonstige Wohltäter nur nicht auslassen – sich das Essen so gründlich abgewöhnen, daß die Juden der kommenden Zeiten außer den Hämorrhoiden überhaupt keine Spur von Magen haben werden. Dann werden die Juden in der ganzen Welt das größte Ansehen genießen . . .

Damit will ich sagen, daß ich, nachdem ich das Ränzchen von mir gestoßen hatte, mich wieder stärker und rüstiger fühlte. Ich dachte ans Geschäft und summte dabei eine Tische-be-Ow-Weise vor mich hin. Man könnte meinen, die Sache sei nun erledigt. Schickt mir aber der Teufel eine junge, häßliche Christin mit einem Topf Erdbeeren in den Weg; Erdbeeren sind aber meine Leibspeise. Ein anderer an meiner Stelle, einer von jenen guten Leuten, würde es wohl auf seinen Eid nehmen, daß es der böse Trieb selbst sei, der die Gestalt eines Weibes angenommen habe . . . Aber gefehlt! Ich habe keine Angst und sehe sie mir genau an: eine ganz gewöhnliche Christin, ganz ohne Tücken! Sie bietet mir die Erdbeeren mitsamt dem Topf für zehn Groschen an und hält sie mir dicht vor die Nase. Der Geruch reizt mich, das Wasser läuft mir im Munde zusammen, das Herz krampft sich zusammen, und es ist mir finster vor den Augen. Ich habe so große Lust! Ich fürchte, mich nicht beherrschen zu können, und springe so hastig wie einer, der sich aus einer Feuersbrunst rettet, vom Wagen. Es ist noch ein Wunder, daß ich mir dabei nicht Arme und Beine brach! Und ich schreie mit einer Stimme, die gar nicht wie meine Stimme klingt: »Reb Alter!« Ich wollte nämlich, daß Alter der Aufpasser sei.

Reb Alter liegt in seinem Wagen, mit Verlaub zu sagen, auf allen Vieren, rot wie ein Krebs, mit bloßer rotbehaarter Brust, ganz verbrannt und gebraten, und schwitzt so furchtbar, daß einem bei diesem Anblick – auf alle Feinde Zions sei es gesagt! – das Herz zerreißt.

»Was?« sagt Alter, wie er mein Geschrei hört, mit der Stimme einer Kuh, ohne sich vom Orte zu rühren: »Was ist?«

Ich sehe, daß die Frau mit den Erdbeeren plötzlich verschwunden ist. Und ich denke mir einen Vorwand aus und frage:

»Wie spät ist es jetzt wohl, was glaubt Ihr?«

»Wie spät es jetzt wohl ist?« antwortet Alter mit dumpfer Stimme. »Weiß ich's? Bis die Sterne kommen, kann man sich die Augen ausschauen . . . Ach, mein Gott, heiß ist's!«

»Ja, ordentlich heiß!« sage ich, zu Fuß neben Alters Wagen hergehend. »Ihr schwitzt, Reb Alter? Ich meine, es wäre jetzt Zeit, Halt zu machen. Unsere Adler sind, nebbich, müde und können sich kaum schleppen. Bis zur Glupsker Landstraße sind noch einige Werst und vielleicht noch mehr. Nicht weit von hier, links, wo der Wald beginnt, sehe ich ein gutes Plätzchen zum Füttern!«

Und wir bogen nach links vom Wege ab und kamen an eine Stelle, wo es Wald, schöne Wiesen, einen Sumpf und dergleichen schöne Dinge gab. Wir spannten unsere Löwen aus, ließen sie in Freiheit am Waldrande grasen und legten uns selbst unter einen Baum.


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