Mendele Moicher Sfurim
Fischke der Krumme
Mendele Moicher Sfurim

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XIV

»Ich und mein Weib gehörten zu den Bettlern zu Fuß. Nun könnt Ihr Euch selbst vorstellen, wie langsam wir mit meinen kranken Füßen zu gehen pflegten: wir gingen nicht, sondern krochen wie die Krebse.« Fischke sagte das in seiner unverständlichen Sprache, alle »r« und manche andere Buchstaben auslassend. Ich übersetzte es in die gewöhnliche Menschensprache und übersetzte auch weiter:

»Mein Frau begann mit der Zeit zu schimpfen, zu fluchen, zu sticheln, mir allerhand Spitznamen anzuhängen und meine kranken Füße vorzuwerfen. Sie behauptete, daß ich ihre Erwartungen getäuscht hätte; sie hätte mich zu einem Menschen erzogen, in menschliche Gesellschaft gebracht, mich ernährt und mir zu einer Stellung in der Welt verholfen; ich sei ihr aber nicht so ergeben, wie sie es verdiene, und tue ihr alles zum Trotz. Solche Szenen kamen aber recht selten vor. Ich tat so, als ob ich es nicht hörte, und dachte mir: ›So sind eben alle Weiber, so muß es sein! Jedes Weib traktiert ihren Mann mit Schimpfworten und manchmal auch mit Schlägen.‹ Kaum machte sie ihrem Zorn ordentlich Luft, als gleich wieder das schönste Leben begann: Fischke war ihr wieder wert und lieb, und sie pflegte mir ihre Hand auf die Schulter zu legen und zu sagen: ›Nun, Fischke, marsch weiter!‹ Ich gehe voraus, sie mir nach, und beiden ist es so wohl ums Herz. Und wir schleppen uns immer weiter.

Es dauerte furchtbar lange, bis wir in Balta anlangten. Wir kamen zu spät: der weltberühmte Baltaer Jahrmarkt war schon zu Ende. Mein Weib ist ganz außer sich. Sie ärgert sich so, wie wenn sie eine Million Taler verloren hätte. Ich tröste sie und sage ihr: ›Mein Gott, das Unglück ist doch nicht so groß: die Baltaer Häuser sind uns ja noch geblieben! Genügen uns denn nicht die vielen Häuser in dieser großen Stadt?‹ Und sie schreit immer: ›Verbrennen sollst du mit deinen Häusern! Was taugt mir, Verdammter, diese schmutzige Stadt? So eine Stadt willst du mir anhängen? Ich will sie nicht! Hörst du? Ich will diese Stadt nicht! Versinke hier im Schmutz und erwürge dich mit deinem schmutzigen Balta!‹«

»Reb Alter, ich hab's!« rufe ich plötzlich aus: »Mir ist noch eine Sorte Bettler eingefallen: Bettler mit Buchhaltung

»Ein feiner Fund!« sagt Alter und schnalzt vor Verachtung mit der Zunge: »Von mir aus könnte man sie überhaupt nicht erwähnen.«

»Einen von diesen Leuten, einen gewissen Ssimchele den Lebendigen in Glupsk, kenne ich sogar sehr gut. Er hat ein eigenes Buch, in dem alle Häuser verzeichnet sind und die Beträge, die er von jedem Bürger im Laufe eines Jahres zu bekommen hat. ›Die Häuser‹ – sagt er – ›gehören mir und zahlen mir den Zins. Ganz Glupsk ist mein Kontor.‹ Er pflegt jeden Tag eine bestimmte Zahl Häuser abzubetteln. Laut und unbescheiden tritt er ins Haus und verlangt sein Almosen. Gibt man es ihm sofort, so ist es gut. Und gibt man ihm nichts, so sagt er: ›Macht nichts, ich werde Euer Konto damit belasten.‹ Und läuft schnell weiter. Habt Ihr vielleicht, Reb Alter, einmal gehört, wie ein Glupsker Bettler seine Tochter mit dem Sohn eines Bettlers aus Teterewka verheiratete und ihr alle Häuser von Glupsk als Mitgift gab? Das war eben Ssimchele der Lebendige. Oder habt Ihr vielleicht die Geschichte gehört: bei einer Armenmahlzeit, die ein reicher Mann einmal bei einer Hochzeit veranstaltete, erschien ein geladener Bettler und brachte einen andern, ungeladenen mit. Und als man ihn fragte: ›Wen bringt Ihr da mit?‹ antwortete er: ›Dieser da ist mein Schwiegersohn, der bei mir Kost ißt.‹ Auch das war Ssimchele der Lebendige! Mit einem Worte, dieser Ssimchele betrachtet Glupsk als sein Eigentum.«

»Von mir aus kann Euren Ssimchele den Lebendigen der Teufel holen!« sagt Alter und bittet Fischke, weiter zu erzählen.

Fischke beginnt in seiner Sprache, ich übersetze es in meine Sprache, und die Geschichte hört sich so an:

»Unsere Reise ging nicht geradewegs von der einen Stadt in die andere. Nein, wir krochen und schlängelten uns nach allen Richtungen, wie es sich gerade traf. Einmal kamen wir in eine Stadt . . . Ach hätte mich doch der Teufel geholt, ehe ich hingekommen war! Gegen die Stadt selbst kann ich sogar nichts sagen: sie nahm mich recht nett auf und ließ mich in Ehren von Haus zu Haus gehen. Aber ich traf dort meinen Todesengel – geschlachtet soll er werden ohne ein Messer! Die Sache war so:

Jene Stadt, in die wir kamen, war gerade von Kavallerie, das heißt von Feldbettlern mit ihren Wagen besetzt. Alles war da in Aufruhr. Die neumodischen Bürger der Stadt hatten nämlich den Beschluß gefaßt, keinem Bettler, mit Ausnahme der Kranken, Alten und Krüppel, etwas zu geben. Gesunde Burschen, Mädchen und Frauen, sagten sie, können arbeiten und sich mit eigenen Händen ihr Stück Brot verdienen. Die dumme jüdische Wohltätigkeit ist einfach schädlich. Sie ernährt, sagten sie, eine Menge unnützer Geschöpfe, die wie die Wanzen von fremdem Blut leben und manchem sogar den Kopf wegfressen. Die Leute hatten nun in ihrer Stadt eine Art Fabrik eingerichtet, in die sie alle gesunden Bettler, die zu ihnen kamen, gar freundlich einluden. Einem jeden boten sie da irgendeine Arbeit an: drehe Stricke oder nähe Säcke, und für diese Arbeit kriegst du zu essen. Nun kamen immer weniger Bettler hin. Die Kavalleristen, die wir dort antrafen, waren voller Wut über diese Neueinführung. ›Gewalt!‹ schrien sie: ›Was ist das für eine Welt? Wo bleibt die jüdische Barmherzigkeit? Es ist aus mit aller Jüdischkeit!‹ Ein kräftiger, rothaariger Bursche – die Beine möchte er sich zerbrechen! – war der Haupträdelsführer. Er schrie mehr als alle anderen: ›Es ist ja ein Sodom! Einfach ein Sodom! Warum sollen die reichen Leute ruhig dasitzen und die andern für sie arbeiten? Beruht denn nicht ihr ganzer Reichtum auf der Arbeit der andern? Sie selbst sind verwöhnte Menschen, sie hüten ängstlich ihre Seelen und verlangen von den andern, daß sie sich abrackern. Je dicker und gesünder so ein reicher Mann ist, um so vornehmer ist er. Und wenn unsereiner gesund ist, so muß er, nebbich, seine Gesundheit verheimlichen und sich ihrer wie ein Dieb schämen. Jedermann schreit unsereinen an: Warum arbeitet so ein kräftiger Kerl nicht? Es wäre schon wirklich Zeit, die Rollen zu vertauschen: sollen die Reichen einmal arbeiten – sind sie denn krank?‹ – ›Du hast recht, Faibuschke, du hast recht! Wir sind ja die gleichen jüdischen Kinder wie sie!‹ So stimmten alle dem rothaarigen Schurken zu und gingen langsam einer nach dem andern aus dem Hekdesch.

Gegen Abend mußte ich zufällig durch den Schulhof gehen. Es ist finster, und viele Leute stehen da unberufen herum. Plötzlich höre ich eine weinerliche, flehende Stimme, die auch einen Stein rühren kann. Ich bleibe stehen und sehe einen armen Mann, der mit beiden Händen ein Kissen hält; auf dem Kissen liegt aber ein winziges Kind, das fürchterlich schreit. Der Unglückliche dreht es hin und her, wiegt es und jammert mit tränenerstickter Stimme: ›Weh ist mir, finster ist mir! Mein Weib ist tot und hat mir das kleine Kind hinterlassen! Armes, kleines Waisenkind, schlecht hast du es ohne Mutter! Sei still, sei still, was soll ich mit dir, nebbich, anfangen?‹ Jeder, der vorbeigeht, gibt ihm etwas, und viele Weiber sprechen ihn sogar an. Er aber jammert ununterbrochen: ›Weh ist mir, finster ist mir!‹ Und er wiegt immer das Kind auf dem Kissen. Das Herz krampft sich mir vor Mitleid mit dem unglücklichen Vater und dem armen, verwaisten Wickelkind zusammen. Ich hole aus der Tasche einen Dreier und gehe auf ihn zu. Wie ich ihm den Dreier reiche, kneift er mich fest in die Hand und sagt dabei mit weinerlicher Stimme: ›Ach, weh ist dir!‹ Und betont das Wort ›dir‹, als meinte er mich. Ich fasse mich vor Schmerz an die Hand, springe etwas zur Seite und schaue ihn verwundert an. Der unglückliche Vater wendet sich zu mir um, ich sehe ihn genauer an und bin ganz starr vor Erstaunen . . . ›Für heute ist's genug, komm! Halt eine Weile das Kind!‹ sagt er mir und gibt mir das Kissen. Nun sehe ich, daß die arme Waise eine in Lumpen gewickelte Puppe ist. Der unglückliche Vater ist aber niemand anderer als der rothaarige Schurke Faibuschke. Die Kränke fahre ihm in die Knochen! Er machte aber seine Sache gut: er weinte, stöhnte und jammerte für sich und zugleich auch für das Kind . . . ›So muß man mit den närrischen Juden umgehen!‹ sagt er mir. ›Wollen sie nicht im Guten geben, so muß man es von ihnen auf diese Weise nehmen. Ohne Kunststücke geht es eben nicht. Auch der Row, der Dajen, der ehrwürdige Almosenempfänger und alle geistlichen Amtspersonen verstellen sich und machen Kunststücke. Sie – mit ihren Grimassen, und ich mit meinem armen Waisenkind. Laßt euch melken, ihr Kühe! Und du, Fischke, sag Amen!‹ . . .

Um jene Zeit, als wir uns im Hekdesch aufhielten, machte sich der Rothaarige mit glatten Worten an meine Frau heran. Sie gefiel ihm so gut. Wenn sie etwas haben wollte, reichte er es ihr sofort und bediente sie mit großer Liebe. Und er trieb es so lange, bis er sich ihr ganz anbiederte. Stundenlang pflegte er mit ihr zu plaudern, wobei er oft recht grobe Worte gebrauchte. Meine Frau hielt sich die Ohren zu und tat so, wie wenn sie gar nicht zuhören wollte. Und wenn er sie manchmal anhimmelte: sie sei ein so fettes, molliges, reinliches Weibchen, eine von denen, wie er sie gerne möge – so schimpfte sie, gab ihm auch manchmal einen Klaps auf den Rücken und lachte dabei. Ich lachte anfangs mit, wenn es auch zuweilen ein bitteres Lachen war. Doch ich sagte mir: ›Was kümmert mich dieser Schwätzer? Morgen oder übermorgen sind wir ihn los. Wir werden nach verschiedenen Richtungen fortziehen; ewig werde ich doch seine Fratze nicht vor mir sehen!‹ Zum Betteln geht doch mein Weib, Gott sei Dank, nur mit mir. Wenn er sie bei der Hand nimmt und sie führen will, stößt sie ihn von sich weg und schimpft: ›Geht, geht, ich bin doch eine verheiratete Frau und habe, Gott sei Dank, einen andern, der mich beim Betteln begleitet!‹

Am nächsten Morgen nach der Begegnung mit dem Rothaarigen, wo er sich als unglücklicher Vater verstellte, mußte ich allein auf die Arbeit gehen. Mein Weib hatte sich beim Aufstehen beklagt, daß sie sich nicht ganz wohl fühle. Sie streckte sich und gähnte – ein böser Blick hatte sie wohl getroffen! – und blieb zu Hause. Auch ich fühlte mich nicht ganz wohl, und es stieß mich immer auf. Es war mir aber zu langweilig, allein ohne mein Weib betteln zu gehen. Ich muß gestehen, daß mein Weib mir teurer geworden war, seitdem der Spitzbube angefangen hatte, mit ihr zu schäkern. Ich ärgerte mich oft über ihn, der Zorn brannte in mir wie Feuer, und doch zog er mich wie durch einen Zauber an. Es war ein süßer Schmerz, wie ich ihn manchmal empfinde, wenn ich mich bis ans Blut kratze. Ein Schmerz und eine Wonne zugleich . . . Am Betteln hatte ich diesmal gar nicht das Vergnügen wie sonst. Ich machte es kurz – mit Sabbatstichen – und war schnell fertig. Wie ich wieder in den Hekdesch komme, sehe ich, daß mein Weib mit dem Rothaarigen sitzt und er ihr etwas zuflüstert. Ihr Gesicht glüht, sie hat sich zu ihm geneigt, um jedes seiner Worte zu hören, und ein süßes Lächeln spielt auf ihren Lippen. Als ich auf sie zuging und sie fragte: ›Wie geht es dir?‹ fuhr sie zusammen und wußte im ersten Augenblick nicht, was zu sagen. Nachher betastete sie mich mit der Hand, wie es ihre Art ist, und sagte: ›Weißt du, Fischke, was mir fehlt? Es kommt nicht vom bösen Blick, sondern vom Zufußgehen. Die Heilgehilfin sagte mir heute, ich solle ins Bad gehen, mir einige Schröpfköpfe setzen lassen und mich auf die Nacht einreiben und ordentlich schwitzen. Nein, Fischke, ich kann nicht zu Fuß weitergehen! Reb Faibuschke ist so gut und nett und will uns zu sich auf den Wagen nehmen. Was sollen wir tun? Was meinst du, Fischke?‹

Der Kerl sah mich dabei mit einem solchen Lächeln an, daß es mich stach. Das Herz krampfte sich in mir zusammen, und ich fühlte mich wie ein Junge, dem der Rebbe befohlen hat, sich auf die Bank hinzulegen, um Prügel zu bekommen. Ich bewegte eine Weile die Zunge ohne Worte und wußte nicht, was zu sagen.

›Was schweigst du? Was antwortest du nicht?‹ fängt meine Frau voller Zorn zu schreien an. ›Ich weiß, meine Gesundheit kümmert dich nicht. Du willst mich nur los werden, du willst mich in meinen jungen Jahren ins Grab bringen! Warte nur, du frecher Kerl! Viel eher wirst du eines plötzlichen Todes sterben! Hörst du, Fischke? Die Erde wirst du mir kauen! Kein Haar werde ich dir auf dem Kopfe lassen, alle Zähne werde ich dir ausschlagen!‹

So oft mein Weib den Mund aufmachte, wurde es mir kalt im Magen. Ich stand vor ihr aufgeregt und erschlagen da. Gott allein weiß, wie es mir damals zumute war. Was konnte ich tun? Ich neige den Kopf und sage ihr: ›Still, schrei nicht, ärgere dich nicht! Du wirst fahren, warum auch nicht?‹

›Das ist was anderes!‹ sagt mein Weib schon etwas milder. ›Warum stehst du aber, wenn man zu dir redet, wie ein Lehmgötze da und antwortest kein Wort? Reb Faibuschke ist so gut und nett und will uns ganz umsonst mitnehmen, und du dankst ihm nicht einmal! Schämen sollst du dich, du Grobian!‹

Was sollte ich machen? Ich mußte mich bei dem Spitzbuben auch noch bedanken.«

»Reb Alter, noch einer!« schreie ich plötzlich auf.

»Was gibt's, Reb Mendele? Habt Ihr noch einen Fund gemacht?« sagt Alter spöttisch: »Habt Ihr noch eine Sorte Bettler gefunden? Gott möge Euch, so wahr ich lebe, einmal einen schöneren Fund bescheren. Ich glaube, Ihr habt schon genug Bettler beisammen!«

»Nein, Reb Alter! Ich wollte nur sagen: da haben wir noch einen Chajim-Chane Chaje-Trajnes, der vor seinem Weibe zittert. Ich glaube, unser Fischke bekam von der Seinen zuweilen auch ein paar brühwarme Ohrfeigen!«


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