Mendele Moicher Sfurim
Fischke der Krumme
Mendele Moicher Sfurim

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VII

»Kurz und gut, die Sache ist derweil faul!« sagt Reb Alter wie vor sich hin, tief betrübt, und schwere Schweißtropfen treten ihm in die Stirne. Er hebt die Augen und sieht mich so unglücklich an wie ein kleines Kind seine Mutter, wenn es nach der Brust lechzt. Alter dachte ans Geschäft und wollte so gerne mit mir irgendein Geschäftchen machen: wie können auch zwei erwachsene, bärtige Juden mitten am hellen Tage so ganz ohne Beschäftigung herumliegen?! Wenn zwei Juden irgendwie auf eine Insel geraten, wo es außer ihnen keine lebendige Seele gibt, so kann man schwören, daß der eine einen Laden aufmachen wird, der andere – ein anderes Geschäft; sie werden miteinander handeln, werden einander Kredit gewähren und Waren in Kommission geben und voneinander leben. Alter fragte mich auch bald: »Was habt Ihr im Wagen?« Das bedeutet soviel wie: »Mutter, ich verdurste! . . . Packt Eure Waren aus, Reb Mendel!«

Was blieb mir zu tun übrig? Ich durfte nicht nein sagen. Ich packe meine Waren aus, Alter die seinigen, und wir machen uns mit Eifer ans Geschäft. Wir handeln und tauschen; ich biete ihm in Tausch weltliche Büchlein an mit lauter Ausrufen »Ah!« und »Oh!« und kurzen Zeilen, lauter Ware, die ich los sein will. Er ist aber auch kein Narr und will diese Bücher nicht einmal in die Hand nehmen.

»Faule Ware!« sagt Alter und verzieht das Gesicht. »Schmöker von irgendwelchen Bankdrückern, armen Sündern! Weiß ich, was die Leute zusammengeschmiert haben! Und für wen? Kein Mensch versteht auch nur ein Wort davon! Die Sprache ist wohl türkisch! Es ist doch wirklich dumm, solche Ladenhüter mit sich herumzuführen. Eine Schande, so wahr ich lebe! Gebt etwas Rechtes her, Reb Mendele!«

Und ich packe meine Waren, einen Artikel nach dem andern aus. Alter verzieht noch immer sein Gesicht und hat an jeder Ware etwas auszusetzen. Aber ein Artikel gefällt ihm plötzlich und den will er unbedingt haben. Es ist wirklich ein Prachtstück. Die Seiten von verschiedener Größe und von verschiedenen Farben. Die Buchstaben aus verschiedenen Schriften gesetzt: Raschi, Diamant, Perl, Prokim, groß und klein. Die Anordnung ganz wunderbar: schmale Streifen aus kleinster Schrift rechts und links, ein breiter Streifen in einer größeren Schrift in der Mitte, unten ein Gürtel aus winzigsten Buchstaben, so dicht wie Mohnkörner. Und zwischen allen diesen Teilen laufen von oben nach unten und von rechts nach links schmale weiße Stege. Alle diese Vorzüge wissen die Juden besonders zu schätzen. Viele Seiten sind durcheinander geheftet. Dies ist aber auch der ganze Witz: Soll nur der Leser sich den Kopf zerbrechen und suchen, wie die Seiten zusammengehören. Denn einfach herunterlesen kann ja auch der ungebildetste Kerl. Von Druckfehlern spreche ich schon gar nicht: die muß es geben. Wer kümmert sich auch um sie? Der Jude hat ja einen guten Kopf und kann immer erraten, was gemeint ist. Die Sprache ist aber so, daß man kein Wort verstehen kann! Ein richtiges Buch nach jüdischem Geschmack. Das Gebet »Oz-Kejzez« ist doch sicher gut genug und ordentlich schwer. Aber die »Oz-Kejzez«-Sprache schreiben bei uns jetzt schon viele Leute, und man kann immerhin erraten, was der Verfasser meint. Was hat dann das Buch überhaupt für einen Wert? Wie soll man da seinen Scharfsinn zeigen? Als gut, wirklich gut, gilt bei uns Juden nur eine solche Sache, an der man sich sein Gehirn ausrenkt und die man unmöglich verstehen kann. Wenn man etwas nicht versteht, so muß sicher etwas dahinterstecken. Aber nicht davon will ich sprechen.

Alter packt das Buch mit beiden Händen, und ich sehe, wie er förmlich auflebt. Dann tauschen wir Tchines gegen Bove-Maisses, Mane-Loschens gegen Tausend und eine Nacht, Psalmen gegen Kamejes; hundert Sliches gegen einen Berschader Tales-Kotten, Wilnaer Kines gegen Scheifres, Chanukkelampen gegen Wolfszähne, messingene Sabbatleuchter gegen Hawdoles und Käppchen für kleine Jungen. Beide Teile haben bei diesen Operationen keinen baren Pfennig zu sehen bekommen, sind aber mit dem Handel als solchem sehr zufrieden. Man hat doch immerhin etwas getan, hat gehandelt, Geschäfte abgewickelt und ist nicht müßig herumgesessen. Alters Trübsinn war wie Rauch verschwunden. Ich konnte ihm ansehen, daß er an den Jarmolinetzer Jahrmarkt und sein Pech gar nicht mehr dachte. Er zählt etwas an den Fingern ab und hält den Kopf nach links geneigt, wie wenn in ihm ein Buchhalter säße, dem er zuhörte. Die Rechnungen weisen wohl auf einen kleinen Profit hin, sein Mund geht in die Breite, und unter seinem dichten Schnurrbart leuchtet ein Lächeln.

Derweil ist es schon Zeit für Minche geworden. Ein erfrischendes Windchen kommt gezogen, und auf dem Himmel erscheinen kleine Wölkchen, die man schon längst wie liebe Gäste erwartet hat. Die Bäume stecken die Köpfe zusammen und beginnen nach dem langen Schweigen miteinander in ihrer Sprache zu reden. Das Windchen weckt auch das schlafende Korn, die Halme erwachen so lustig wie kleine Kinder und beginnen einander freundlich abzuküssen. Überall rühren sich Gottes Geschöpfe: auf dem Felde, im Walde und in den Lüften. Tief unten und hoch oben in den Zweigen erscheinen kleine Vögel; sie putzen sich mit den Schnäbeln das Gefieder, schütteln sich, zwitschern und stimmen ihre süßen Lieder an. Schmetterlinge, angetan mit Seide, Samt und Atlas, mit teuersten Edelsteinen geschmückt, schweben tanzend durch die Luft. Zwei Störche stehen auf ihren roten Beinen majestätisch wie Gardesoldaten im Grase, die Schnäbel nach oben gerichtet und blicken mit großem Stolz. Irgendein Vogel fliegt mutwillig von einem Baum zum andern, versteckt sich, zwitschert und spielt »Kuckuck«. Ihm antwortet zwischen Weizen und Korn ein anderer Vogel. Er zwitschert, wie wenn er sagen wollte: »Du wirst mich deinen Lebtag nicht einfangen und wenn du mir auch Salz auf den Schwanz streust. Packt Euch, Herr Nachbar, macht, daß Ihr weiterkommt!« Im nahen Wäldchen schlägt süß und kunstvoll eine Nachtigall. Jedes Geschöpf, das einen Mund hat, begleitet den weltberühmten Chasen. Selbst die Kröten im Teiche quaken, selbst die Fliegen und Bienen schweigen nicht, und auch der ausgelassene Taugenichts, der Käfer, summt im Fliegen. Das Konzert ist so schön, daß es sich lohnte, Eintrittskarten zu bezahlen . . . Die ganze Welt ist plötzlich lebendig geworden und hat ein lustiges Gesicht bekommen. Es ist eine Freude, ein Vergnügen zu lauschen, zu schauen und alle die süßen Düfte von allen Seiten einzuatmen.

»Reb Alter, es ist gut! Reb Alter, es ist schön! Etwas zieht durch die Seele, etwas spricht zum Herzen: Gottes Welt ist so schön, Gottes Welt lebt! Es zieht einen hin, und man hat Lust, sich mit Armen und Beinen hineinzustürzen . . .«

»Reb Mendele, beh! . . . Reb Mendele, hört auf!« sagt Alter mit unzufriedener Miene. »Wollen wir doch lieber Minche beten. Laßt Euch durch alle diese Dinge nicht ablenken, ›Anejnu‹ zu sagen . . .«

Ich ziehe meine Socken hoch, binde den Gürtel fest und beginne mit hoher, freudiger Stimme zu beten. Reb Alter, leben soll er, stimmt gleich nach mir das Gebet auf der Baßsaite an, und so preisen wir Gott, während auch alle Kräuter und Blätter auf den Feldern, alle Tiere und Vögel in den Wäldern dem Herrn lobsingen.

Noch ganz am Anfang, als er den Spezereiladen auskramte: »Chelbno« – Teufelskot, »wehalwejno« – und reiner Weihrauch, »wehazipejren« – und Nagelkraut, Ingwer und Safran –, holte Alter aus seinem Wagen die Fuhrmannsspezereien – einen kleinen Topf Wagenschmiere hervor. Er war mit dem Beten sehr schnell fertig und schmierte schon die Räder, als ich erst in der Mitte des Gebetes war.

»Zieht es nicht so in die Länge, Reb Mendele, macht es kurz«, treibt mich Alter zur Eile an. »Schmiert einmal Euren Wagen, und ich will derweil nach den Pferden schauen; es ist Zeit, weiterzufahren. Bis zur Nacht können wir ja noch eine ganze Strecke fahren.«

Alter geht fort, und ich gehe an meinen Wagen und nehme ihn in Behandlung. Ich übereile mich nicht, schmiere die Räder ordentlich und gemächlich, geize nicht mit der Schmiere, untersuche die Achsen und jede Kleinigkeit. Das dauerte eine ganze Weile, Alter war aber noch immer nicht zurück. »Die Pferde sind wohl inzwischen recht weit in den Wald hineingekommen und haben tüchtig gefressen!« denke ich mir und schaue auf die Sonne, die schon im Sinken ist. Und ich warte wieder eine Weile. Die Sonne ist schon untergegangen. Ihre letzten Strahlen gleiten langsam von den Bäumen, auf denen sie erst vor kurzem so lustig gespielt haben und sagen dem Walde: »Gute Nacht!«

Es wird mir etwas ängstlich zumute. Vielleicht ist ihm plötzlich unwohl geworden? Das wäre ja nach so vielem Schwitzen und nach dem langen Fasten wohl möglich! Vielleicht liegt er irgendwo ohnmächtig; oder hat ihn vielleicht gar jemand überfallen? Wir sind ja im Walde, an einer entlegenen Stelle, abseits vom Wege! Ich darf die Sache nicht so lassen, ich muß ihn suchen gehen.

Ich fasse mir ein Herz und gehe in den Wald. Ich geh und such, aber alle Mühe ist umsonst: Alter und die Pferde sind wie in die Erde versunken. Ich bin schon recht weit gekommen und gelange schließlich an eine längliche Mulde, die den Wald mitten entzwei schneidet. Die Mulde ist mit Schilf und stachligem Gesträuch bewachsen und zieht sich mit dem einen Ende zur Landstraße und mit dem andern irgendwohin auf die Seite, zu allen Teufeln. Der Wald steht und schläft und ist oben mit einem dunklen Vorhang bedeckt. Ringsum ist es still. Man hört nur ab und zu, wie zwei schlanke Bäumchen, die dicht beieinander stehen, die Köpfe zusammenstecken, miteinander tuscheln und dabei einander von hinten mit den Zweigen kitzeln. Einige Blätter pendeln immerfort und berühren einander, wie wenn sie jemand stieße. Alle diese Töne sind Worte, die der Wald aus dem Schlafe spricht. Er träumt vom vergangenen Tag mit allen seinen Freuden und Leiden. Irgendwo raschelt dürres Reisig – der Wald träumt eben von den Bäumen, die man, nebbich, vor der Zeit gefällt hat. Irgendwo in der Höhe rauscht es: der Wald träumt davon, daß der niederträchtige Sperber ein Nest mit jungen, unschuldigen Vöglein zerstört hat; die Blätter, die da flattern, fallen auf die tote Mutter und ihre toten Kinder, von denen der Wald träumt . . . Eine furchtbar schwarze Wolke zieht über dem Walde und auch in meiner Seele auf. Die weltberühmte Schwarzkünstlerin und Lügnerin Phantasie vermittelt zwischen mir und der Mulde, auf die ich schaue, schwindelhafte Geschäfte. Sie bringt mir von dort einen Transport Schreckbilder, die in der Fabrik, die ich im Kopfe habe, abgeändert und mit vielen neuen verrückten Einzelheiten ausgeschmückt werden. Mit einem solchen Transport bekomme ich von dort die Leiche des ermordeten Alter Jaknhas und die Totengerippe unserer Pferde. Dieses Bild wird in meinem Kopfe mit tausend Einzelheiten ausgeschmückt, und im Nu fliegt es schon zurück, mit einem rothaarigen, kräftigen Räuber und einem Wolf mit schrecklichem Gebiß ausgestattet.

Und wie ich schon in die Mulde hinabsteigen will, kommt mir plötzlich der Gedanke: die beiden Wagen stehen auf dem freien Felde verlassen da; wie leicht können wir um unser ganzes Vermögen kommen! Es würde gar nicht schaden, noch einmal nach den Wagen zu schauen. Es ist auch möglich, daß Alter mit den Pferden schon längst zurückgekehrt ist und sich jetzt wegen mir Sorgen macht. Dieser Gedanke setzt sich in meinem Kopf fest, und ich fasse neuen Mut. Die Hoffnung wächst an und zerreißt schließlich die traurige Wolke, und es wird mir wieder leichter ums Herz.

Und ich gehe schnell zurück.


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