Mendele Moicher Sfurim
Fischke der Krumme
Mendele Moicher Sfurim

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I

Wenn die helle Sommersonne über das Land zu scheinen beginnt, wenn die Menschen sich wie neugeboren fühlen und ihre Herzen sich beim Anblick der schönen Welt Gottes freuen, dann fängt bei den Juden die eigentliche Zeit der Wehmut an, die Zeit des Weinens und Klagens. Dann beginnt das ganze Trauerregister: Fasten, Selbstkasteiung, Jammer und Klage von den Tagen der »Sfiro« an bis spät in die Jahreszeit des großen Schmutzes und der naßkalten Tage hinein. Diese Zeit ist für mich, Mendel den Buchhändler, ein dauernder Jahrmarkt: ich arbeite, fahre ständig umher und versorge die Juden in allen Städtchen mit den notwendigsten Utensilien zum Weinen: mit Kines und Sliches, Frauen-Tchines, Mane-Loschens, Scheifres und Machsejrim. Die Juden klagen und jammern den ganzen Sommer durch, und ich mache dabei mein Geschäft. Aber nicht davon will ich sprechen.

Einmal sitze ich so früh morgens am Schiweossor-be-Tammus, wie es einem richtigen Juden geziemt, mit Tales und Tfillim angetan, mit der Peitsche in der Hand auf dem Bocke meines Wägelchens. Ich halte die Augen geschlossen, um beim Beten nicht auf die leuchtende Welt zu schauen. Die Natur ist aber just wunderschön und zwingt mich wie mit einer Zauberkraft, sie anzublicken. Lange kämpfe ich mit mir selbst. Der gute Trieb sagt: »Pfui! Es ist verboten!« Der böse Trieb aber setzt mir zu: »Ist nicht so schlimm! Gönne dir nur das Vergnügen, du Närrchen!« Und er macht mir auch wirklich ein Auge auf. Wie zum Trotz leuchtet vor mir ein herrliches Panorama auf: Felder, mit weißem, blühendem Buchweizen wie mit weißem Schnee überschüttet, daneben goldgelbe, moirierte Streifen des Weizens und mattgrüne Kukuruzpflanzungen; ein schönes, grünes Tal, beiderseits von Nußwäldchen eingefaßt, unten fließt ein kristallklarer Bach, die Sonnenstrahlen baden darin und überschütten ihn mit funkelnden, goldenen Flittern. Die weidenden Kühe und Schafe sehen aus der Ferne wie dunkle, rote und bunte Punkte aus. »Pfui! Pfui!« sagte der gute Trieb und predigt mir mit den Worten aus den ›Sprüchen der Väter‹: »Ein Jude, der unterwegs seine Gedanken von frommen Dingen ablenkt und spricht: ›Wie schön ist dieser Baum, wie schön ist dieses Feld!‹ begeht die gleiche Sünde wie ein Selbstmörder.« Der böse Trieb aber weht mir den erfrischenden Duft von Heu, Gewürzen und Kräutern in die Nase, der alle meine Glieder durchdringt; er übergießt mich mit dem kunstvollen Gesang der Vögel und kitzelt mir damit die Seele; er haucht mich mit einem warmen Windchen an, das mit meinen Pejes spielt und mir ins Ohr flüstert: »Schau und freue dich und sei ein Mensch, du närrischer Jud!« Ich stammele meine Gebete und höre selbst nicht, was ich stammele. Etwas geht mir durch die Gedanken, etwas pickt mich in das Hirn, und es kommen mir nur Schimpfworte in den Sinn: »Tote Seelen! . . . Ohne Kraft und Leben! . . . In Tscholent getauchte Seelen! . . . Seelen ohne Duft und ohne Geschmack! . . . Verdorrte, abgeschlagene Hejschanes! . . .« Ich wiege mich in gekünstelter Andacht hin und her, um nicht mehr zu denken, und höre, wie aus meinem Munde die Worte des Gebetes kommen: »Der den toten Körpern die Seelen wiedergibt.«

Was?! Wie?! Was ist damit gemeint?! Ich fahre auf und schäme mich meiner üblen Gedanken. Und um mein Vergehen vor dem Schöpfer der Welt wieder gut zu machen, tue ich so, als hätte ich mit meinem Schimpfen den Gaul gemeint. Und ich ziehe dem armen Tier mit der Peitsche eins über und sage: »Hüh, du Aas! . . .«

Der Einfall war gar nicht so dumm! Aber diesmal hatte er keine Wirkung. Es kränkte mich sehr, daß mir ausgerechnet heute solche Gedanken in den Sinn kamen, heute, wo man über die große Zerstörung, über das furchtbare Unglück, das die Kinder Israels betroffen, weinen muß! Die Banden Nebukadnezars, Königs von Babylon, waren in Jerusalem eingedrungen und hatten alles verwüstet . . . Ich mache ein unglückliches Gesicht und spreche die für den heutigen schweren Tag festgesetzten Sliches mit weinender Stimme, die an der bewußten traurigen Stelle immer höher und trauriger klingt:

»Wehaschfifejn mizofejn – und die Otter vom Norden, keschibejles schtofani – überschwemmte mich wie ein Strom wehazojod – und der Jäger – scholach jod – streckte seine Hand aus – hazofir wehassoir – der Bock, der Ziegenbock . . .«

Wenn der Jude seine Litanei aufsagt, sich ausspricht, bis er fast zerspringt, und die Sliches herunterleiert, so glaubt er genug getan zu haben und ist, wie ein Kind, das seine Schläge bekommen und sich ordentlich ausgeweint hat, wieder zufrieden. Ich sitze bequem auf dem Bock, streiche mir mein Bärtchen und bin wieder ruhiger, wie wenn ich sagen wollte: »Ich habe das Meinige getan, habe meiner Pflicht genügt, nun hängt alles von Dir allein ab, lieber Gott! Zeige also, himmlischer Vater, daß Du der Gott der Barmherzigkeit bist!« – »Lauf doch, bitte, lauf!« sage ich zu meinem Gaul im Guten und bitte ihn im Herzen um Verzeihung für den Zunamen »Aas«, den ich ihm vorhin angehängt habe. Der unglückliche Gaul knickt die Vorderbeine ein, beugt den Kopf tief zur Erde und seufzt, wie wenn er sagen wollte: »Mein Herr und Gebieter! Wie ist es nun mit dem Essen?« – »Klug ist das Tier wie der lichte Tag!« sage ich und gebe ihm ein Zeichen, daß er aufstehen darf. Nicht umsonst heißt es in den Kines: »Zion, dein ganzes Vieh und Geflügel ist klug!« Aber nicht das will ich sagen. Dieser Ausspruch brachte meine Gedanken wieder auf das Volk Israel, auf seine Klugheit, sein Benehmen, seine feinen Vertreter und seine elende Lage. Der Kopf ist mir ganz wirr. Ich sehe vor mir die Otter – den Nebukadnezar mit seiner Bande, einen schrecklichen Krieg, eine Schlägerei; die Kerle stürzen Mauern um und brechen Türen und Fenster ein. Juden, zum Teil mit Warenbündeln und altem Hausrat beladen, schreien und rennen . . . Auch ich ergreife einen Stecken und stürme vorwärts . . . und da liege ich schon meiner ganzen Länge nach auf der Erde.

Offenbar war ich mitten im Beten – ich will es gar nicht über die Lippen bringen! – eingeschlafen. Ich sehe mich um: mein Wägelchen ist in ein tiefes Loch, wie man es in der Fuhrmannssprache »Tintenfaß« nennt, hineingeraten, und die Hinterräder haben sich an die Achse eines anderen Wagens festgehakt. Mein Gaul steht ganz unglücklich da, er ist mit einem Bein über die Deichselstange geraten, hat sich in die Zügel verwickelt und schnarcht wie eine Gans. Von der andern Seite des Wagens her regnet es unter Husten und Keuchen jüdische Flüche und Schimpfworte. »Ein Jude!« sage ich mir: »Also ist's nicht gefährlich!« Und ich stürze voller Zorn zum fremden Wagen. Unter dem Wagen liegt ein Mann in Tales und Tfillim; die Peitschenschnur hat sich mit dem Tfillimriemen verwickelt, und er versucht mit aller Kraft, sich aus seiner Lage zu befreien. Ich schreie: »Unerhört!« Er schreit: »Unerhört!« Ich schimpfe, was ich schimpfen kann, er flucht, daß ich ihn gar nicht anschauen mag. Ich schreie: »Wie kann ein Jude beim Beten einschlafen?« Er antwortet: »Wie kann nur ein Mensch so schnarchen?« Ich verwünsche seinen Vater, er verwünscht meine Mutter. Ich schlage sein Pferd, er befreit sich aus den Zügeln, läuft auf mein Pferd zu und beginnt es zu schlagen. Die beiden Pferde stellen sich auf die Hinterbeine, und wir stehen voreinander voller Zorn wie zwei Hähne und sind bereit, uns in die Pejes zu fahren. So stehen wir eine Sekunde unbeweglich da und blicken einander scharf an. Das war wohl schön anzuschauen: zwei jüdische Helden, mit Tales und Tfillim angetan, stehen zornig gegeneinander und sind bereit, ihren Heldenmut zu zeigen und mitten im freien Felde Ohrfeigen auszutauschen, wie man es sonst nur im Bejssmedresch – es sei davon wohl unterschieden! – zu tun pflegt. Es lohnte sich wirklich, dieses Bild zu sehen. Wir stehen so da, schauen einander an, und die Ohrfeigen hängen schon in der Luft, als wir beide plötzlich einige Schritte zurücktreten und erstaunt ausrufen: »Ach, Reb Alter!« – »Ach, Reb Mendele!«

Alter Jaknhas ist ein kräftiges Männchen mit dickem Bauch. Sein Gesicht ist dicht mit schmutziggelben Haaren bewachsen, welche zu Pejes, Bart und Schnurrbart wie für ihn selbst, so auch für noch einige Juden reichen würden. Inmitten dieses Meeres von Haaren ragt eine Insel – eine dicke, fleischige Nase, die den größten Teil des Jahres gänzlich verstopft ist. Aber in der Zeit um Pejssach herum, wenn alles taut und ihr Besitzer sie mit allen fünf Fingern in Arbeit nimmt, geht in ihr irgendeine Veränderung vor, und sie gibt schallende Töne von sich, die sich wie Schejfforklänge anhören. Um diese Zeit ist sie in ganz Tunejadowke zu hören: Da gibt sie zugleich mit den Truthähnen ein Konzert. Alle Leute bleiben erstaunt stehen und bieten ihm um die Wette Prisen an, und Jaknhas bekommt von allen Seiten Glückwünsche zu hören. Um diese Jahreszeit kommen in den jüdischen Städten auch sonst alle Nasen in Bewegung. Offenbar liegt etwas in der Luft . . . Das ist wohl schon einmal so eingerichtet, ebenso wie daß zu der Parsche »Jissre« alle Ziegen Junge werfen. Aber nicht davon will ich sprechen. Alter Jaknhas ist ein Tunejadowker Bücherhausierer und mein langjähriger Freund. Er ist ein eigener Mensch, nicht allzu klug, nicht allzu gesprächig, immer mürrisch, wie wenn er der ganzen Welt böse wäre, sonst aber kein schlechter Mensch.

Nachdem wir uns sehr freundlich begrüßt haben, beginnen wir einander auszufragen, oder, wie man es bei uns Juden nennt, anzutappen und zu beschnüffeln, ob es etwas Neues gibt.

»Wohin fährt ein Jud?« tappe ich Reb Alter an.

»Wohin ein Jude fährt? Ach! . . .« antwortet Alter mit einer Frage: wir Juden beantworten ja eine Frage niemals direkt, sondern fertigen den andern mit einem »Ach« ab und versuchen mit einem Blick alles, was mit dem Geschäft zusammenhängt, zu erraten. »Ein Jude fährt! Mit dem Kopf ins Grab fährt er . . . Und wohin fährt Reb Mendele?« tappt er mich an.

»Dorthin! . . . Wohin ich immer um diese Jahreszeit fahre.«

»Ich ahne schon, wohin! Nach Glupsk, wohin auch ich fahre«, sagt Alter mit einer Miene, als fürchtete er, daß es seinem Geschäft schaden könnte. »Warum fahrt Ihr aber hinten herum und nicht mit der direkten Landstraße?«

»Diesmal hat es sich gerade so getroffen, es ist schon recht! Ich bin schon lange nicht mehr auf diesem Wege gefahren. Und Ihr, Reb Alter, warum fahrt Ihr hinten herum?« tappe ich ihn an. »Woher kommt Ihr des Weges?«

»Woher ich des Weges komme? Von allen Teufeln! Von einem schönen Jahrmarkt! Das war einmal ein Jahrmarkt in Jarmolinetz – in die Erde soll diese Stadt versinken!«

Und während Alter Jarmolinetz und den Jahrmarkt verwünscht, kommen einige Bauernwagen gefahren, und die Bauern schimpfen, daß wir die Straße versperrt haben. Und wie sie näher kommen und uns beide in Talejssim, mit mächtigen Tfillim auf den Stirnen und breiten Tfillimriemen erblicken, werden sie grob und fangen zu höhnen an:

»Schaut nur diese Herren an! Der Teufel hol' eure Mutter, gebt den Weg frei, ihr schmutzigen Juden!«

Alter und ich machen uns gleich mit großem Eifer an unsere Wagen. Ich muß die Wahrheit sagen: die Bauern waren, obwohl keine jüdischen Kinder, doch so anständig, uns in der Not zu helfen. Mit Hilfe ihrer kräftigen Stöße kam mein Wägelchen recht bald aus dem »Tintenfaß« heraus. Sonst hätten wir uns, Gott weiß wie lange, abgeplagt und vielleicht auch unsere Talejssim dabei zerrissen. Mit Hilfe der Esaus ging es aber ganz anders: sie zeigten eben, daß sie Esaus Hände hatten – »die Hände sind Esaus Hände«; wir aber – es sei zwischen uns und ihnen wohl unterschieden! – wir zeigten unsere Stimmen – »Und die Stimme ist Jakobs Stimme«, das heißt, wir schrien und taten nur so, als ob wir mitstießen . . . Aber nicht davon will ich sprechen. Sobald der Weg wieder frei wurde, fuhren die rohen Kerle davon. Im Fahren wandten sie sich immer nach uns um, lachten und spotteten, daß wir wie die Popen – es sei zwischen uns und ihnen wohl unterschieden! – angetan neben unseren Pferden gehen und dem Schöpfer der Welt mit der Peitsche in der Hand dienen. Einige von ihnen falteten die Schöße ihrer Röcke zu »Schweinsohren«, zeigten sie uns und schrien: »Krätzige Juden!« Auf Alter machte das gar keinen Eindruck. »Das sind mir auch Menschen«, sagte er mit einer Grimasse, »vor denen man sich schämen muß!« Mich aber regte ihr Höhnen schon sehr auf: »Schöpfer der Welt, womit haben wir das verdient? Womit? Womit?«

»Allmächtiger Gott!« bete ich in der Sprache der Tchines: »Öffne Deine Augen, blicke von Deiner Wohnstätte, das ist vom Himmel, herab und sieh, wie Deine frommen Juden Schimpf und Schande über sich ergehen lassen müssen, weil sie Deinem lieben Namen Ehre erweisen, weil sie Dich fürchten und Deine Gebote in Wahrhaftigkeit achten. Lasse darum Deine Barmherzigkeit auf uns herableuchten, auf daß wir freundliche Gnade in Deinen Augen finden und in den Augen aller Menschen. Beschirme Deine geliebten Schafe, Deine Gnade möge rauschen über den verständigen Wesen, die Dich fürchten. Verbessere mein Los für das Lob, mit dem ich Deinen Namen schmücke, und schicke mir, Deinem Knechte Mendel, dem Sohne Deiner Magd Genendel, und dem ganzen Volke Israel ein anständiges Auskommen, gute Geschäfte, Freude und Ruhe! Amen!«


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