Mendele Moicher Sfurim
Fischke der Krumme
Mendele Moicher Sfurim

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XX

»Der Krach, den mir mein Weib an jenem Freitagabend gemacht hatte, erklärte mir ihr ganzes verrücktes Benehmen mir gegenüber. Sie ärgerte sich über meine Freundschaft mit der Buckligen, von der ihr der Rothaarige erzählt hatte; natürlich hatte er noch tausend Lügen hinzugedichtet. Er wollte auf diese Weise mein Weib dazu bringen, daß sie sich von mir lossagt und mich laufen läßt. Er hatte sich aber verrechnet: statt mich laufen zu lassen und sich für immer von mir zu trennen, verging sie vor Wut: ›Was, mein Mann soll mir solches antun? Fischke zieht mir ein buckliges Mädel vor?! Das ist eine Beleidigung, die ich nicht herunterwürgen kann. Nein, so was werde ich nicht dulden!‹«

»Nun kann man doch fragen, warum sie selbst . . . Ich meine, warum sich dein Weib mit dem Rothaarigen dasselbe erlauben durfte?« fragt Alter, der sich nicht länger beherrschen kann.

»Ihr habt anscheinend recht«, antwortet Fischke, »aber im Glupsker Bad habe ich doch so viel Vernunft gelernt, um zu verstehen, daß Eure Frage gar keine Frage ist. Wo reden die Leute soviel übereinander wie im Bade? Und wer? Gerade diejenigen, die schweigen sollten. Einer, von dem man kein wahres Wort zu hören bekommt, sagt vom andern, daß er ein Lügner sei. Einer, dem man keinen Groschen anvertrauen darf, sagt vom andern, er sei ein Dieb; ein Geizhals, der sich für einen Pfennig die Augen ausstechen wird, spottet über den andern: ›Es ist ein schmutziger Kerl!‹ Ein böser Mensch mit einem Herzen von Stein nennt den andern einen Bösewicht, und einer, der aus Ehrgeiz sein Leben hingeben wird, spricht vom andern, daß jener nach Ehrungen lechzt. Berl der Bader griff sich einmal an den Kopf und fragte: ›Wie bringt es nur ein Mensch fertig, einen andern so zu lästern, wenn er weiß, daß er selbst ein Dieb, ein Geizhals, ein Lügner und alles ist, was es nur gibt?‹

›Hörst du, mein Kluger!‹ antwortete ihm darauf Itzek der Kleiderhüter: ›Das ist eben das ganze Unglück, daß jeder Mensch nur die Fehler des andern sieht und von seinen eigenen keine Ahnung hat.‹

Schmerl, einer der Batlonim, die sich immer im Bad aufhalten, lächelte, streichelte sein Bärtchen und sagte: ›Laßt Euch dienen, Reb Berl! Laßt Euch dienen, Reb Itzek! Ihr seid beide im Irrtum. Ich erkläre Euch, daß die Sache sich einfach so verhält: Jeder glaubt, daß er alles darf, und daß der andere nichts darf.‹«

»Schmerl hat recht!« rufe ich laut dazwischen und springe auf. Ich muß über Schmerls Worte nachdenken. Sie sind wie Weihrauch für den Teufel, der in jedem von uns sündigen Menschen sitzt. Der Teufel lächelt giftig, packt mich am Herzen, bringt alle meine Gedanken durcheinander und holt ganz alte Geschichten hervor, die einmal zufällig in meinem Gedächtnis sitzen geblieben sind. Es beginnt in mir zu kochen, es ist ein Jahrmarkt voll allerlei Gestalten, die ganz plötzlich wie aus dem Boden geschossen sind. Und der böse Geist sagt mit einer Grimasse, auf sie alle weisend:

»Da hast du die schönen Seelen: die dürfen alles, alles . . .«

Diese schönen Seelen befassen sich mit Handel, mit Gemeinde- und Vereinsangelegenheiten und geben acht auf die Jüdischkeit und die Sitten . . . Auch alte und junge Weiber von einst und von heute sind dabei. »Friede sei mit euch!« sage ich ihnen: »Gott sei mein Zeuge, daß ich euch nie wiedersehen und euren Namen nie über meine Lippen bringen möchte. So verhaßt seid ihr mir. Was soll ich aber tun? Da der Teufel euch einmal hergebracht hat, kann ich euch nicht so gehen lassen: ich muß ihm den Gefallen tun und von jedem von euch wenigstens etwas erzählen.«

»Wart eine Weile, Fischke! Nehmt es mir nicht übel, Reb Alter!« unterbreche ich ihn: »Ich muß Euch etwas erzählen. Laßt mir nur einen Augenblick Zeit, daß ich es mir überlege!« Und wie ich das sage, packe ich einen von der schönen Gesellschaft: So, jetzt kommst du in die Arbeit! Er wehrt sich mit Armen und Beinen, stöhnt und schreit wie der gebundene Hahn beim Kapores-Schlagen. Die übrigen schauen mich mit bösen Mienen an und bedeuten mir, daß ich schweige. – Narren! sage ich ihnen: – Ich höre auf euch wie auf das milchige Messer. Mich werdet ihr nicht so leicht erschrecken, und wenn ihr auch eure Pelze mit dem Fell nach außen anzieht und euch als Bären verstellt. Affen seid ihr und keine Bären! . . . – Der Teufel in mir kommt in Hitze und reizt mich noch mehr: »Ja, so, nimm sie in die Arbeit, all diese schönen Seelen!« Und ich fange wirklich an: »Hört Ihr, Reb Alter, ich will Euch eine schöne Geschichte erzählen: in einer gewissen jüdischen Stadt gab es feine Leute, die die Angewohnheit hatten . . .« Ich bleibe aber mitten in der Geschichte stecken. Die Weiber winken mir zu und flehen: »Lieber, guter Reb Mendele, habt Erbarmen, erzählt es nicht! . . .« Sie lächeln mir so freundlich zu und bitten mich mit so leuchtenden Augen, daß ich weich wie Teig werde und vor ihren Blicken schmelze. Und es fällt mir mein Gelübde ein, dem Verein der »Onkel« beizutreten. »Hol' Euch der Teufel!« sage ich lächelnd. Und ich füge hinzu, mich an Reb Alter wendend: »Ich meine die feinen Leute in jener Stadt, von der ich eben sprach. Aber ich habe heute keine Lust, die Geschichte zu erzählen. Sollen die Leute zu allen Teufeln gehen! . . . Nehmt es mir nicht übel, Reb Alter.«

»Ich habe nichts dagegen, von mir aus können sie wirklich zum Teufel gehen! Aber was ist das für eine Art, einen Menschen mitten in seiner Erzählung zu unterbrechen, mit einer Geschichte dazwischen zu kommen, einer von Euren Geschichten!« sagt Alter und zuckt die Achseln. Dabei blickt er mich so an, wie wenn er sagen wollte: »Er ist wie ein durchlöcherter Sack, neun Maß Rede schütten sich aus ihm, so wahr ich lebe. Sehr nötig brauche ich seine Geschichten! Könnt Ihr mir vielleicht sagen, wozu ich sie brauche?« Er winkt mißbilligend mit der Hand und wendet sich wieder an Fischke: »Nun, und weiter? Mach es kurz!«

Fischke beginnt auf seine Art, ich arbeite auf meine Art, Alter treibt ihn auf seine Art an, und die Geschichte geht so weiter:

»Je mehr Zeit verging, um so mehr entfremdete ich mich von meinem Weib. Sie war mit dem Halunken noch vertrauter geworden, und sie gingen jetzt immer zusammen wie ein Graf und eine Gräfin auf den Bettel. Ich kümmerte mich nicht mehr so sehr darum, denn alle meine Gedanken waren mit der Buckligen beschäftigt; keinen Augenblick hörte ich auf, an sie zu denken. ›Geht von mir aus ins Grab!‹ sagte ich mir: ›Bettelt zusammen, bis ihr zerspringt.‹ Wenn ich einmal auf dieses Pärchen stieß, sah mich der Kerl spöttisch an, wie wenn er sagen wollte: ›Ich habe dir schön zum Tanze aufgespielt, kannst zufrieden sein!‹ Ich spie jedesmal aus, setzte meinen Weg fort und dachte dabei: ›Und wenn du dich mit ihr auch herumschleppst, was hast du davon? Sie ist ja eine verheiratete Frau und fest an mich gebunden. Auch ich habe dir schön aufgespielt, du Kerl! Zerspringen kannst du! . . .‹

Beim Betteln begleitete mich nun ein alter Mann aus der Bande des Rothaarigen, ein ebenso übler Kerl wie er, namens Notke der Dieb. Er machte die Sache sehr gut. Jedermann mußte ihm Almosen geben, weil er immer auf mich zeigte und dabei ein so bitteres und unglückliches Gesicht machte. Er gab sich nämlich als der unglückliche Vater des armen Krüppels aus. ›Hink, Fischke, hink gut, mein Schatz!‹ pflegte er mir zu sagen, wenn wir in ein Haus traten, und stieß mich dabei in den Rücken: ›Schneide Gesichter und seufze, seufze, du Hund! Sie werden mir schon für dein Seufzen zahlen.‹ Unterwegs lehrte er mich, wie ich mich zu benehmen habe, spottete über die Bürger, kniff mich ab und zu und schimpfte auf mich, aber gutmütig: ›Daß dich der Teufel! . . .‹ Einmal versetzte er mir zum Spaß einen solchen Stoß in die Herzgrube, daß ich beinahe die Fallsucht bekam. Die Almosen, die man uns gab, nahm er zu sich, und es war mir schwer, von ihm auch nur einen Heller herauszubekommen. ›Was brauchst du Geld, Fischke?‹ pflegte er zu scherzen: ›Du bist ja selbst so gut wie Geld! Wenn du nur immer hinkst und an allen deinen Gliedern krank bleibst, bis du stirbst, mein Schatz!‹ Einmal, wo ich in großer Not war, versuchte ich von ihm meinen Teil mit heftigen Worten zu mahnen. Er sagte aber drauf: ›Still, krummer Hund! Glaubst du, daß ich so ein Aas wie dich umsonst im Wagen herumfahren werde? Du frecher Kerl! Ich werde es deinem Weib sagen. Dich kenne ich nicht und habe mit dir überhaupt nicht zu reden. Ich kenne bloß dein Weib; sie hat dich mir übergeben; von ihr habe ich diese schöne Ware bekommen und mit ihr werde ich auch abrechnen.‹

Schlecht ist's! Nun sehe ich, daß ich bei der Bande dasselbe gelte wie ein Bär bei den Zigeunern. Man führt mich herum, um an mir ein paar Groschen zu verdienen. Sie haben mir mein Weib genommen, haben es auf ihre Seite gelockt, und nun hilft sie ihnen gegen mich: sie hat mich an diese Bande Vagabunden und Diebe ausgeliefert! . . . Es ist schlecht, es ist bitter, die Welt ist keine Welt mehr! . . .

Ich sah schon, daß ich das Spiel verloren hatte, daß es zwischen mir und meiner Frau zu keinem richtigen Zusammenleben mehr kommen wird. Wozu soll ich dann noch bei den Leuten bleiben? Ich muß fliehen, so schnell wie möglich fliehen. Jeder Tag unter diesen Dieben ist eine Sünde vor Gott; es sind ja Menschen, die keinen Gott im Herzen haben, die keinen Finger rühren, keine Arbeit tun, jedes Joch von sich geworfen haben, von fremder Arbeit leben, jüdisches Blut saugen und dabei noch die, von denen sie leben, wie den Tod hassen! Ich selbst kam mir tief gesunken vor, wenn ich meine ganze Lebensweise unter diesen schlechten Menschen betrachtete. Ich bin ja ein ganz anderer geworden. Ich habe von ihnen viel Schlechtes gelernt. Das einzige Mittel, mich von all der Pein zu befreien, ist, von ihnen wegzulaufen und sie wie die Pest zu fliehen. Was fange ich aber mit ihr an? Wie kann ich die Bucklige bei den Leuten zurücklassen? Mir war es, wie wenn ich in einer tiefen Grube, in der Hölle säße. Eine Stimme schreit mir ins eine Ohr: ›Verliere nicht deine Seele, Fischke! Entlaufe, wenn du noch an Gott glaubst!‹ Und im andern Ohr klingt mir die Stimme der Buckligen: ›Fischke, Fischke . . .‹ Ich muß mich entscheiden: entweder gehe ich in die leuchtende Welt, die frei von Sünde und Pein ist, oder bleibe hier in dieser Hölle, aber mit ihr zusammen . . . Ich weinte mich ordentlich aus und – Gott strafe mich nicht für diese Sünde! – blieb noch weiter bei der Bande . . .

Erst viel später kam mir der Gedanke, daß ich auch zusammen mit der Buckligen entfliehen kann. Das ginge aber nur dann, wenn ich mich zuvor von meinem Weib scheiden ließe: ich kann doch nicht so mit einem Mädel durch die Welt ziehen! Die Leute werden sich Gott weiß was denken. Wird aber meine Frau auf eine Scheidung eingehen? Sie ist ja eine wahre Strafe Gottes. Wenn ich auch nur ein Wort von der Scheidung spreche, wird sie mir zum Trotz ›Nein!‹ sagen. Ihr größtes Vergnügen in der letzten Zeit war, mich bis aufs Blut zu peinigen. Dies schreckte mich aber nicht ab. Ich gab meine Absicht nicht auf und beschloß, die Scheidung mit Gutem oder Bösem durchzusetzen. Vielleicht wird sich Gott doch noch meiner erbarmen. Ich hielt meine Absicht geheim und sagte keinem Menschen ein Wort.

Nach meinen Erfahrungen mit dem Alten wollte ich mit niemand von der Bande mehr betteln gehen. Das kam mir teuer zu stehen, aber ich setzte meinen Willen durch: ich wollte um nichts in der Welt mehr den Bären bei diesen Zigeunern spielen. Der Rothaarige und seine Leute waren damit natürlich sehr unzufrieden und versuchten, mir mit Schlägen Gehorsam beizubringen. Wie sie mich einmal schlugen, sagten sie: ›Warum sollen wir dich umsonst mitführen, du schöner Kerl, wenn du nicht arbeiten willst? Scher dich zum Teufel!‹ – ›Das will ich augenblicklich tun‹, sage ich ihnen, ›aber gebt mir mein Weib zurück!‹ Sie sahen mich an und fingen zu lachen an. Natürlich wollte ich gar nicht, daß sie mir mein Weib zurückgeben; ich dachte mir dabei: ›Behaltet sie nur, sie soll aber auf die Scheidung einwilligen!‹ Die Schläge, die ich für meinen Trotz bekam, taten mir allerdings furchtbar weh, ich hatte aber doch Freude am Gedanken: ›Macht nichts, daraus werde ich schon meinen Nutzen ziehen. Wenn sie sehen, daß ich eigensinnig bin und zum Geschäft nicht mehr tauge, werden sie mich los sein wollen, und so werde ich leichter die Scheidung durchsetzen können.‹«


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