Mendele Moicher Sfurim
Fischke der Krumme
Mendele Moicher Sfurim

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XVI

»Außer dem Zunamen der ›Reiche‹ hing man mir später noch einen andern an: ›der verschämte Arme‹. Diesen Titel verlieh mir der Rothaarige, daß ihn der Teufel! Und so nannte mich die ganze Bande: ›Fischke, der verschämte Arme.‹ ›Verschämter Armer‹ ist bei ihnen ein gar übles Wort, und wenn sie es sagen, so spucken sie siebenmal aus. Der Haß, der zwischen Handwerkern oder Kaufleuten, die das gleiche Geschäft haben, herrscht, ist ein Hund gegen den Haß, mit dem der Feldbettler den Stadtbettler und insbesondere den verschämten Armen verfolgt. ›Diese verschämten Armen, diese heruntergekommenen und angefaulten Aristokraten‹, pflegen sie zu sagen, ›sind wie Wanzen in allen Häusern! Man kann es vor ihnen gar nicht aushalten! Bei allen Festen, bei Hochzeiten, Beschneidungsfeiern und Beerdigungen stopft man ihnen die Taschen voll. Sie schinden die Haut von Lebenden und Toten. Und wir, nebbich, müssen uns wegen eines jeden Stückchens Brot so abrackern, bis wir schwarz werden. Diese faulen Kerle haben die Psalmen des Königs David mit Beschlag belegt und machen sich ihr Geschäft daraus. Wenn König David wüßte, in wessen Hände seine Psalmen kommen werden, welches Geschäft die faulen, verschimmelten Seelen daraus machen werden, so hätte er sie sicher nicht verfaßt . . .‹

›Nein, Basche‹, sagte der Rothaarige zu meinem Weib: ›Aus Eurem Fischke wird nichts Gescheites! Er wird nie wie unsereiner! Er ist ja der echte verschämte Arme mit allen Schikanen. Ihr könnt mit ihm noch so viel durch die Welt ziehen, es wird ihm doch nichts helfen! Von der Bettlerwissenschaft hat er keinen Dunst. Er ist überhaupt kein Mensch. Ihr werdet, nebbich, von ihm einen Gallenkrampf kriegen. Ja, wenn ich eine solche Basche hätte! Wir hätten beide unser Glück gemacht, so wahr ich lebe!‹

So versuchte der Halunke auf alle mögliche Art und mit aller möglichen Bosheit, zwischen mir und meinem Weib Feindschaft zu stiften und mich von ihr zu trennen. Zuletzt kam er auf einen neuen Einfall: er verleumdete mich bei ihr, daß ich mich mit einem Mädel von einem andern Wagen eingelassen habe . . . In der Bande war tatsächlich ein buckliges Mädel dabei, mit dem ich mich gerne und oft unterhielt . . .«

»Halt, was war das für ein Mädel?« fielen ihm Alter und ich ins Wort. »Nun, Fischke, gestehe!«

»Das Mädel war allen im Wagen fremd und hatte, nebbich, genug zu leiden. Ich muß gestehen, daß ich mit ihr gerne zu sitzen und zu reden pflegte. Wir schütteten voreinander unsere bitteren Herzen aus. Sie hatte Mitleid mit mir und weinte oft über meine Leiden, ebenso wie ich über die ihrigen. Wenn Ihr nur wüßtet, was das für ein Mädel war! Und was sie alles auszustehen hatte! . . .« rief Fischke mit Tränen in den Augen.

Wir baten Fischke, uns zu erzählen, woher das Mädel stammte und wie es in diese Gesellschaft gekommen war.

»Wenn Ihr mich darum bittet«, begann Fischke, nachdem er sich mit einem Ärmel die Augen abgewischt hatte, »wenn es Euch noch nicht zu dumm geworden ist, mir zuzuhören, so will ich Euch den Gefallen tun und erzählen, so gut ich kann. Hört zu und nehmet es mir, bitte, nicht übel, wenn ich es nicht ganz geläufig erzählen werde.

Das Mädel war noch ein Kind, als ihre Mutter sie zugleich mit einem Bündel Lumpen nach Glupsk brachte. Das Bündel warf sie in einem kleinen Stübchen bei irgendeiner alten Hexe vom Buckel. Die Alte war wohl eine Stellenvermittlerin für Dienstboten. Die Mutter ging mit der Alten jeden Morgen für den ganzen Tag fort und ließ das Kind ganz allein zu Hause. Als das Kind einmal bitter weinte und flehte: ›Mutter, nimm mich mit!‹ wurde die alte Hexe sehr böse und sagte zu der Mutter: ›Gott bewahre! Die Leute dürfen von ihr gar nichts wissen! Es kann dem Geschäft schaden.‹ Einige Tage später brachte die Mutter das Kind in irgendeine Bürgerküche. Aber schon nach kurzer Zeit zogen sie in eine andere Küche um, und von dort in eine dritte; so wanderten sie immer von einer Küche in die andere. Nach jedem neuen Umzug wurde die Mutter schlechter gegen sie. Ihren Vater kannte sie fast gar nicht. Früher, als sie noch zu Hause lebten, war er immer unterwegs und ein seltener Gast; in die Küche kam er aber überhaupt nicht mehr. Sie hätte wohl ganz vergessen, daß sie einen Vater hat, wenn die Mutter nicht fünfzigmal am Tage ihr bitteres Herz ausschüttete und sagte: ›Zerspringen soll er, dein Vater! Nach so vielen Jahren Mühe und Arbeit hat er mich zugrunde gerichtet und mir noch ein Kind auf den Hals gehängt, mit dem man mich auf keiner Stelle behalten will, das ich verheimlichen und mit dem ich mich würgen muß. Wer nimmt eine Köchin mit einem Kind?‹ Gar oft kam die Hausfrau in die Küche gelaufen, wenn das Essen nicht gut geraten war, machte Spektakel und schrie, daß Gott sie mit der Köchin gestraft habe, die das Oberste von der Suppe abschöpfe, um es ihrem Kinde zu geben. Obwohl das Kind, nebbich, meistens hungerte und immer magerer wurde. Die Mutter pflegte es wie gestohlene Ware oben auf dem Ofen zu halten, und dort saß es zusammengekauert und durfte keinen Ton von sich geben. Das Wasser lief ihr im Munde zusammen, wenn sie den Geruch der guten Speisen, der gebratenen Gänse und gebackenen Lebern roch. Kein Wort durfte sie sagen! . . . Sie litt im stillen Hunger, bis der Mutter einfiel, ihr ein Stück trockenes Brot oder einen abgenagten Knochen, oder irgendeinen andern Rest in die Hand zu drücken. Manchmal vergaß die Mutter sie ganz, und wenn sie dann auch nur einen Ton von sich gab, erschien oben auf dem Ofen ein Schürhaken, eine Backschaufel oder ein Stock. Die Mutter schlug sie damit ins Gesicht, auf Hände und Füße und fluchte und verwünschte dabei ihren Vater und ihres Vaters Väter bis zu unserem Stammvater Abraham. So verbrachte sie ihre ganze Jugend in Leiden und Schmerzen auf den Öfen.

Wenn sie vom Ofen herunterkroch, sah sie irgendeinen Mann in der Küche sitzen, der oft zu ihrer Mutter auf Besuch kam. Die Mutter machte ihm den Hof, fütterte ihn und stopfte ihm die Taschen mit den besten Sachen voll. Zuweilen gab sie ihm auch Geld. Manchmal kam er auch spät am Abend und blieb in der Küche über Nacht. Manchmal pflegte sich die Mutter vor dem Spiegel schön auszuputzen, die Küche im Stich zu lassen und für viele Stunden zu verschwinden. Die Mutter wollte sich wohl wieder verheiraten und dachte nur an den Bräutigam . . .

Eines Abends kam sie mit einem Mann in die Küche und holte ihre Sachen ab. Sie bedankte sich bei der Hausfrau für alles Gute, das sie bei ihr genossen hatte, nahm das halbnackte Töchterchen vom Ofen und verließ die Küche. Sie führte das Kind lange durch die Stadt und brachte es zuletzt in irgendein Gäßchen. ›Sitz hier und wart. Juden werden sich deiner erbarmen!‹ So sprach die Mutter und verschwand.

Das ausgesetzte Mädel sitzt, nebbich, auf dem Gäßchen, wartet und hat Angst sich zu rühren, ebenso wie früher auf dem Ofen. Ein kalter Herbstregen durchnäßt sie bis an die Knochen. So sitzt sie, fast im bloßen Hemd, zusammengekauert da, zittert am ganzen Leibe und klappert vor Kälte mit den Zähnen. Wenn jemand von den Vorbeigehenden sie fragt: ›Wer bist du, Mädchen?‹ antwortet sie: ›Ich bin meiner Mutter Kind . . . Die Mutter sagte, ich soll still sitzen . . . Ich darf nicht schreien, sonst kommt ein Schürhaken oder eine Backschaufel und schlägt mich . . .‹ So saß die Unglückliche bis spät in die Nacht hinein. Schließlich ging auf sie irgendeine Frau zu, überredete sie mit guten Worten, mit ihr mitzukommen und brachte sie in ein kleines Häuschen in der Vorstadt.

Bei dieser Frau hielt sie sich lange Zeit auf, bekam aber keinen Honig zu schlecken. Die Frau gab sich für ihre Tante aus und ließ sich von ihr auch so nennen. Sie war Hökerin und verkaufte auf dem Markte Kartoffeln, heiße Küchel, Kol-Nidrej-Birnen und Erez-Jissroel-Äpfel. Jeden Morgen ging sie in aller Frühe auf den Markt. Das bucklige Mädchen blieb zu Hause, wiegte das kleine Töchterchen der Frau und half auch in der Wirtschaft mit: sie sammelte auf der Straße trockene Späne zum Feueranmachen, holte Eier aus dem Hühnerstall, kratzte aus den Töpfen die eingetrockneten Breireste heraus, wusch im Eimer die schmutzigen Kinderhemdchen, überwachte die hölzernen Milchlöffel und die Kinderkissen, die vor dem Hause in der Sonne trockneten, und verrichtete noch viele andere Arbeiten. Wenn die Hökerin abends nach Hause kam, schickte sie ihr kleines Dienstmädchen hinaus, um einige Stücke Brot zusammenzubetteln. Das Kind lebte davon und ernährte damit auch die ›Tante‹.

Als sie eines Abends in ihrem groben Hemd und zerrissenen Kleidchen betteln ging, verirrte sie sich weit vor die Stadt und fand nicht mehr den Weg nach Hause. Die Sonne war schon längst untergegangen, nur eine schwarze Wolke zog am Himmel auf. Ab und zu blitzte und donnerte es. Plötzlich kommen einige vollbesetzte Wagen gefahren. ›Schaut nur‹, schreien die Leute, ›da steht ein buckliges Mädel und weint, nebbich!‹ Gleich darauf springt von einem der Wagen ein rothaariger Kerl – es war natürlich der bewußte rothaarige Halunke, die Kränke fahre ihm in die Knochen! – und fragt das Kind, wem es gehöre. ›Ich will heim, heim zu der Tante!‹ antwortet das Kind mit weinerlicher Stimme. ›Still, Töchterchen, still!‹ sagt der Halunke: ›Ich will dich zu deiner Tante heimbringen.‹ Und er packt sie, wirft sie in den Wagen und fährt mit ihr davon.

Seit jener Zeit wanderte das arme Mädel mit der Bande der fahrenden Bettler, die sich aus ihrem Buckel ein Geschäft gemacht hatten. Wenn sie in irgendeine Stadt kamen, setzten sie das Kind barfuß und halbnackt irgendwo auf eine belebte Straße hin, und es mußte mit weinerlicher Stimme betteln, jammern und die Vorübergehenden an den Rockschößen zerren. Und wenn es mal die Komödie nicht gut genug spielte und wenig Geld zusammenbettelte, wurde es furchtbar geprügelt oder zuweilen auch nachts halbnackt auf die Straße gesetzt, so daß es schon ganz aufrichtig weinte und jammerte . . . Sie erzählte mir, wie man sie einmal nachts bei starkem Frost auf die Straße setzte. Die Kälte stach sie wie mit Nadeln. Der Schädel schmerzte ihr, und es war ihr zugleich finster und hell vor den Augen; es war ihr, als ob sie gleich sterben müßte. Sie kann es nicht länger aushalten und fleht, daß man sie wieder in die Stube lasse: ›Mach auf, Tante! Mach auf, Onkel!‹ So pflegte sie nämlich jeden von der Bande zu nennen. Sie schreit: ›Onkel, jetzt werde ich schon ordentlich schreien!‹ Sie weint: ›Tantchen, jetzt will ich ordentlich weinen!‹ Sie bettelt: ›Gnade! Jetzt werde ich ordentlich betteln!‹ Sie bekommt aber keine Antwort! . . . Sie liegt ruhig da, fühlte keine Kälte und keinen Schmerz mehr, ein süßer Schlummer überfällt sie, es ist ihr, wie wenn sie jemand umarmte und streichelte, es ist ihr so schön warm . . . Halbtot hob man sie auf! Nach jener Nacht lag sie lange Zeit krank. Wenn man unterwegs Gutsbesitzer oder Kaufleute fahren sah, ließ man sie vom Wagen springen. Und sie mußte wieder die Komödie spielen: mit ausgestreckter Hand neben den Pferden herlaufen, schluchzen, jammern, ein unglückliches Gesicht machen und, wenn es auch ihr Tod wäre, ein Almosen erbetteln. Manchmal bekam sie auch einen Schlag mit der Peitsche vom Kutscher. Sie ertrug es aber ohne zu mucksen und bettelte weiter: sie wußte ja, daß der Peitschenhieb nichts ist gegen die Schläge, die sie später kriegt, wenn sie mit leeren Händen zurückkommt . . . Was sie in ihren jungen Jahren alles durchmachen mußte, läßt sich gar nicht erzählen. Auch heute noch hat sie genug auszustehen. In der Hölle hat man es wohl nicht so schlecht, wie sie es hier auf Erden hat. Das Blut kocht in mir, wenn ich an sie denke! Ich würde gerne mein Leben hingeben, um sie auszulösen. Hört Ihr, Juden: Sie ist eine so gute, süße, sanfte, liebe Taube, wie es auf der ganzen Welt keine zweite gibt! . . .«


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