Mendele Moicher Sfurim
Fischke der Krumme
Mendele Moicher Sfurim

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XV

Fischke beginnt wieder in seiner unverständlichen Sprache zu erzählen. Ich helfe ihm auf meine Art, Reb Alter auf seine Art, und die Geschichte geht weiter wie folgt:

»Am nächsten Tage nach diesem Gespräche setzte sich die Kavallerie in Bewegung und verließ ›Sodom‹, wie jene Stadt von der Bande genannt wurde. Es war ein Lärm und ein Geschrei, ein Fluchen von vielen Mäulern und ein Quietschen von vielen Rädern. Es regnete auf die Stadt die wüstesten Flüche: Verbrennen soll sie! Die Einwohner sollen zehnmal am Tage Hungers sterben und als Abgebrannte durch die Welt ziehen! . . . Drei Wagen waren mit allerlei Leuten vollgestopft: Männern und Weibern, Mädchen und Burschen, Großen und Kleinen. Und darunter war auch ich mit meinem Weib. Wir sind also glücklich auf eine höhere Stufe gekommen: nun sind wir bei der Kavallerie!

Hört Ihr, meine lieben Freunde: eine neue Welt tat sich vor mir auf! Anfangs war es mir bei der Bande recht lustig. Ich sah und hörte wunderbare Dinge, die ich mit allen Einzelheiten gar nicht wiedergeben kann. Ich hörte, wie sie die ganze Welt verspotteten und sich über alles lustig machten, wie jeder in seiner Gaunersprache von seinen Heldentaten erzählte. Der eine berichtete, wie er ein Brot gestohlen, der andere – wie er ein Huhn stibitzt; der dritte – wie er Geld gemaust; der vierte – wie er ein herrschaftliches Kind verprügelt hatte. Auf die reichen Leute schimpften sie gar schrecklich so ohne jeden Grund. Ich kann Euch in Tales und Kittel schwören, daß sie die Reichen viel mehr hassen, als umgekehrt. Sie haben für sie die schönsten Namen: Blutegel, volle Bäuche, verstopfte Köpfe, verstockte Herzen, freche Muttersöhnchen, kupferne Stirnen und weiß der Teufel was noch alles! Es gilt bei ihnen als frommes Werk, einem reichen Mann bei Gelegenheit einen üblen Streich zu spielen. Sie wünschen ihnen Bauchweh, Seitenstechen, Schmerzen, Plagen und Krankheiten aller Art. Mich nannten sie manchmal zum Spaß ›der Reiche‹, weil ich mich oft der Reichen annahm und ihre Ehre verteidigte. Als ich noch im Bade angestellt war, hatte ich ja mit den Reichen genug zu tun: ich bewachte ihre Kleider, reichte ihnen, was sie brauchten, brachte ihnen bei Gelegenheit einen Kübel Wasser oder eine glühende Kohle zum Pfeifenanzünden und hatte mit ihnen noch viele ähnliche Geschäfte. Manchmal hörte ich, wie die Burschen mit den Mädchen scherzten und um sie freiten. Ein Wagen wollte sich mit einem andern verschwägern. Die Kunst der Verstellung war bei den Leuten sehr groß: sie brauchten sie ja zum Geschäft. Wenn es nötig war, verstellte sich der eine als Buckliger, der andere als Lahmer, der dritte als Blinder, der vierte als Stummer und der fünfte als Krummer. Echte, unverstellte Krüppel, wie zum Beispiel ich und mein Weib, standen bei ihnen im hohen Ansehen. Sie sagten oft, daß solche Gebrechen wie die unsrigen für einen Bettler ein wahrer Schatz sind, eine Gabe Gottes. Solche Gebrechen könnten sehr viel einbringen. Das Gebrechen meiner Frau gefiel ihnen noch mehr als das meinige. Den größten Respekt hatten sie aber vor ihrem Mundwerk: die Haare standen ihnen zu Berge, wenn sie den Mund auftat.

Der rothaarige Spitzbube wich nicht von meiner Frau. Er scharwenzelte vor ihr, machte ihr den Hof und verschaffte ihr immer die feinsten Sachen: gekochte Erbsen und Bohnen oder Pflaumen, was er gerade erwischte. Ich sagte mir aber: ›Hol dich der Teufel! Was geht es mich an? Traktiere sie womit du willst, was schadet das mir? Sie ist ja eine verheiratete Frau, also ist die Sache ungefährlich . . . Dir gefällt an ihr nur ihr Gebrechen: du meinst, daß man damit viel Geld verdienen kann? Und wenn du auch zerspringst, sie geht ja doch nur mit mir betteln. Was hast du, Narr, mit allen deinen Schmeicheleien und Gefälligkeiten erreicht, wenn sie doch nur mit mir und keinem andern betteln geht? Und das ist doch die Hauptsache!‹

Und da ich es mir so dachte, bekam ich große Lust, die Bettlerwissenschaft von Grund auf mit allen Feinheiten zu erlernen, um meiner Frau noch mehr zu gefallen. Ich machte die Sache gar nicht schlecht. Ich hatte schon gelernt, wie man in ein Haus tritt. Diese Kunst besteht in folgendem: man muß recht mürrisch und böse dreinschauen und das Almosen wie eine Schuld fordern; dabei immer weiter in die Wohnung eindringen und bis ins Schlafzimmer kommen, um dort den Hausherrn oder die Hausfrau zu stellen. Im Feilschen war ich ein ganz großer Meister, wie man selten einen zweiten findet. Die Hauptsache dabei ist: sich niemals damit zufrieden zu geben, was man bekommen hat. Kriegt man ein Stück Brot, so verlangt man etwas Gekochtes oder einen Teller Rübensuppe; kriegt man Geld, so verlangt man ein Hemd, eine alte Hose, Socken oder dergleichen. Man muß immer unzufrieden sein und die Nase rümpfen, niemals danken, sondern immer brummen und zuweilen auch schimpfen. Was tut aber der rothaarige Spitzbube? Die Kränke fahre ihm in die Knochen! Er will mich einfach los werden. Er denkt sich ganz sicher so: ›Was die Bettlerwissenschaft betrifft, so kannst du, Fischke, mein Stiefelputzer sein. Ich verstehe das Spiel achtzigtausendmal besser wie du. Und wenn ich mir einmal vorgenommen habe, von deiner Blinden zu leben, so wird es mir wohl auch gelingen. Hab nur keine Angst, ich werde dich mit Gottes Hilfe schon versorgen!‹ Und er nahm mich in Behandlung und verspottete mich auf Schritt und Tritt. Auch meine Frau fing mich schlecht zu behandeln an, und ich hörte von ihr nichts als: ›Werde geschwollen! Geh mit dem Kopf in die Erde! Die Würmer sollen dich fressen! Du fauler, frecher Kerl, du so einer!‹ Der Rothaarige – er soll die Auferweckung der Toten nicht erleben! – grub mir ein Grab und setzte mir so lange zu, bis ich allen zu Spott und Schande wurde; alle Wagen lachten zuletzt über mich. Jede Sekunde wurde über mich ein neuer Witz gemacht, jede Minute wurde mir ein neuer Spottnamen angehängt. Ein jeder tat mit mir alles, was ihm gerade einfiel. Ich war allen der Kapores-Hahn. Und wenn ich mal böse wurde, so setzten mir die Leute noch mehr zu. ›Seht nur‹, pflegten sie zu sagen, ›wie der Reiche aufbegehrt, er wird bald zerspringen!‹ Und wenn ich nach ihren Schlägen vor Schmerz in Tränen floß, sagten sie: ›Was freust du dich so, Fischke? Was grinst du so? Seht nur, Leute, wie Fischke lacht!‹ – ›Gebt ihm doch, jüdische Kinder‹, schrie der Rothaarige dazwischen, ›gebt ihm doch, nebbich, einen ordentlichen Stoß ins Genick: das ist ein ausgezeichnetes Mittel gegen den Lachkrampf. Und wenn es, Gott behüte, nicht hilft, so braucht man ihm nur das Haar zu streicheln, ihn am Ohre zu fassen und ein Geheimnis einzuflüstern: davon werden ihm Tränen in die Augen kommen, wie von einem Stück Meerrettich. Man muß doch einem Juden das Leben retten!‹ Manchmal warf er mich aus dem Wagen, und wenn ich mit meinen kranken Füßen, so schnell ich konnte, dem Wagen nachlief, klatschte er in die Hände und schrie lachend: ›Bravo, Fischke! Tanz, Fischke! Schaut nur, Leute, wie Fischke die Füße hebt, wie schön er, unberufen, tanzt! Er kann wohl auf allen Hochzeiten tanzen! Daß ihn nur kein böser Blick trifft!‹ Und einmal erklärte er, die Kränke fahre ihm in die Knochen: ›Leute! Fischke ist ja gar nicht krumm! Er verstellt sich nur so, der Schelm, und führt uns an! Man muß ihn wieder gerade richten! Gebt ihm einen Stoß ins Dickbein, und ihr werdet sehen, wie schön gerade er wird!‹ Man peinigte mich ganz furchtbar. Mit Schmerz dachte ich an die schönen Zeiten zurück, wo ich wie ein vornehmer Herr im Bade saß und wie Gott in Frankreich lebte! Was hat mir auch dort gefehlt?«

»Mein Gott, in solchem Falle läßt man sich ganz einfach scheiden«, fällt ihm Reb Alter ins Wort: »Wir Juden haben ja die Ehescheidung.«

»Ja, gewiß«, sagt Fischke und seufzt. »Ach hätte ich es doch früher getan! Das wäre für mich – und vielleicht auch noch für wen anderen – viel besser . . . Ich weiß selbst nicht, was mit mir los war. Es war sicher ein Zauber dabei . . . Es tut mir weh, und ich schäme mich, es zu sagen, aber mein Herz hing noch immer an meiner Frau . . . Wie sehr ich auch litt und mich quälte, ich verschmachtete dabei nach ihr . . . Ich weiß nicht, ob es nur der Trotz war: wenn der Rothaarige unbedingt will, zwischen mir und meinem Weibe Unfrieden zu stiften und mich zugrunde zu richten, so will ich mich ihm zum Trotz noch fester und mit beiden Händen an sie klammern! Oder kam es – wie soll ich es Euch sagen – ganz von selbst? . . . Es war wie ein Zauber: ihre Gestalt hielt mich gefangen. Sie war so kräftig, dick und drall; das Gesicht war weniger schön als angenehm. Einige Male wollte ich schon vor Herzweh Hand an mich legen und wünschte mir zugleich mit ihr den Tod. ›Heute muß es ein Ende nehmen!‹ sagte ich mir oft: ›Heute sage ich ihr: ich laß mich von dir scheiden!‹ Wenn ich aber auf sie zuging, und sie mir dann ihre Hand auf meine Schulter legte und sagte: ›Führe mich, Fischke!‹ so konnte ich kein Wort mehr aussprechen und wurde wieder ein anderer.

Als ich einmal zu einer glücklichen Stunde leichten Mutes mit meinem Weibe von Haus zu Haus betteln ging, sagte ich ihr: ›Basche, meine Seele! Was brauchen wir uns so ewig herumzuschleppen? So wahr ich lebe: das paßt gar nicht für uns! In Glupsk hatten wir, Gott sei Dank, einen Namen. Du hast mich dort aus dem Bade geheiratet, und das ist doch wirklich kein Spaß: das Glupsker gemauerte Bad, wo so bedeutende Menschen verkehren! Auch dich kannte und ehrte dort jeder Mensch. Und jetzt sind wir unstet und flüchtig und wandern mit einer Bande Vagabunden von Stadt zu Stadt. Was für ein Ansehen haben wir dabei?‹ – ›Willst du vielleicht nach Glupsk zurückkehren?‹ antwortet mir mein Weib mit großem Zorn: ›Du kannst ja zurückkehren, Fischke, wenn du willst. Ich aber um nichts in der Welt! In Glupsk gibt es auch ohne mich Bettler genug. Jeden Tag schießen dort nagelneue Bettler und verschämte Arme aus dem Boden. Die Bürger gehen dort sogar zueinander betteln.‹ – ›Von mir aus kann es auch eine andere Stadt sein‹, antwortete ich ihr: ›Such dir irgendeine Stadt aus, du liebe Seele, nach deinem Wunsch, und wir wollen uns da niederlassen. Wenn man sagen kann: das ist unsere Stadt, das sind unsere Häuser und unsere Bürger, so ist es Glück und ein Segen! Wie es im Sprichwort heißt: Jeder Hund gehört auf seinen Misthaufen!‹

›Bald, Fischke, bald!‹ sagte mir mein Weib und klopfte mich mit der Hand gar freundlich auf den Rücken: ›Wollen wir noch ein wenig herumziehen, uns zwischen Menschen reiben und die Welt sehen. Es ist doch so schön und so lustig . . . Warte noch, Fischke, mit deiner Stadt! Bald, bald! . . .‹

Ihr ›bald‹ dauerte sehr lange und wollte gar kein Ende nehmen. Inzwischen habe ich viele Städte besucht und genug Leiden ausgestanden. Und alles hatte ich nur ihm, dem rothaarigen Spitzbuben, zu verdanken, die Kränke fahre ihm in die Knochen! . . .« Fischke seufzt tief auf und bleibt mit geschlossenen Augen sitzen. Wir lassen ihm Zeit, ein wenig auszuschnaufen, und dann erzählt er weiter.


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