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Es kamen die Tage, wo die Septembersonne aus gelbem Wolkenrauch aufsteigt. Die Fischer vom See hatten ihre Reusen aufgestellt. Weit in den See hinein ging der Pfahlsteg der hölzernen Stangen, an denen die runden Netze befestigt waren. Besonders in der Nähe des Tiefs ragten diese Pfähle, auf denen Möwen saßen oder Krähen. Der Durchfluß zum Meer war so schmal, daß man nur eine Reuse anbringen konnte. Da sich aber in ihr die meisten Fische fingen, so wurde der Fang unter den Fischern geteilt. Man fürchtete übervorteilt zu werden, wenn man nicht ständig dabei war, und so zog mancher Fischer es vor, die kühle Herbstnacht am Tief im Boot zu verbringen. Einsam ist diese Stelle, an der sich zwei Wasser treffen. Die baumstarken Pflöcke, die das Ufer schützen sollen, ragten beinern in ihrem nackten Holz aus dem Sand. Dahinter sproß in fahlem Grün das matte Dünengras. Wenn man dort lag, hatte man einen weiten Blick über die endlos kühle Fläche des Meeres und über den herbstlichen Glanz des Sees, über die gebogene Brücke am Tief, den hellen saftigen Vorsprung der moorigen Vogelinsel, über die dürre Nehrung, auf der Kühe sich mühselig ihr Futter suchten, bis hinüber zu den Hügeln, die sich vor Dranshop lagerten.

Diese Septembertage waren von einer unglaublichen Klarheit. Die Welt schien aus Glas zu sein. Sie war ein einziger Kristall, darin alles spiegelte.

In solchen Tagen durfte Mole Deep sterben.

Stim Kaat und Hannes Lietz waren morgens mit vollen Netzen zurückgekommen. Es war ein guter Dorschfang gewesen und man bereitete die Fische zum Räuchern vor. Hilke hatte einen Tisch vor das Haus gestellt, an dem man die Arbeit verrichtete. Da Hannes Lietz auf seinem Stück Feld zu tun hatte, das ihm vom Vater her gehörte, war Wine zum Helfen gekommen.

Andrees schnitt den Fischen die Köpfe ab. Es waren breite stämmige Köpfe, mit denen man nichts anfangen konnte, und die man später vergraben mußte. Hilke und Wine nahmen die Fische aus und reinigten sie, während Stim Kaat jeden Fisch in drei Teile schnitt und jeden Teil sorgsam mit Bindfaden umschnürte. So konnten sie in den Rauch gehängt werden.

Die Leber wurde in eine Wanne geworfen, sie war für das Schwein bestimmt. Stim Kaat und Hannes Lietz hielten es gemeinsam. Man konnte es gut mit den Abfällen füttern, die von Küche und Fischerei kamen.

Es war ein neugieriges Tier, das neben der Kuh im Stalle untergebracht war und jedesmal, wenn es einen Schritt hörte, sich an der Planke seines Kobens hoch richtete und aufgeregt den Kopf vorstreckte, damit man es hinter dem Ohre kraule.

Mit den Dorschen hatte man bis in den Nachmittag hinein zu tun.

Gegen Abend saß man dann in der Küche zusammen. Es gab Buttermilch mit Klimpern. Das war Stim Kaats Leibgericht, und auch Öllerke gampelte schon danach.

Wine hatte über das Zubereiten der Dorsche keine Zeit für den eigenen Haushalt gefunden. So hatte sich Hannes Lietz zum Essen eingestellt und später kam auch Jöken Mürk. Er steckte vorsichtig den Kopf durch die Tür.

»Die Kartoffeln sind schon gar«, sagte er, »da kann man wohl Platz nehmen.«

Er setzte sich und aß.

»Man soll vorm Schlafen seine Kartoffeln essen«, meinte er, »dann liegt man fest.«

Er hatte sich einen großen Teller voll aufgetan und goß die Buttermilch darüber. Man hörte, wie es ihm schmeckte. Manchmal blinzelte er zu Hanne hin, die in einem Waschkorb schlief. Er hätte sie am liebsten munter gemacht, weil er gerne mit ihr erzählte.

Hannes Lietz hatte am Nachmittag sein Feld gedüngt. Davon sprach man nun. Es war schöner warmer Dung gewesen, der einem in die Nase dampfte und in dem kühlen Wetter mit einer angenehmen Hitze umgab.

»Er brannte förmlich«, sagte Hannes Lietz. »Das liegt nun da und fault und eigentlich sollte man nicht denken, daß es von innen her noch seine Wärme hat.«

»Überall ist Leben drin«, warf Andrees ein.

»Darum soll man mit nichts seinen Spott haben«,sagte Jöken Mürk, »es stimmt schon, was der Garnsherr sagt. Er ist ein kluger Mensch und kennt Wort für Wort die Heilige Schrift.«

Man war eben mit dem Essen fertig, als Martha unerwartet kam. Seit Wochen ließ sie sich zum erstenmal wieder blicken. Sie stellte einen Drahtkorb auf den Tisch. Darin lag eine Stiege Eier.

»Die hab ich euch mitgebracht«, sagte sie, »ich denke auch, daß Mutter hin und wieder eins essen kann.«

»Sie nimmt bloß noch Eingebrocktes«, sagte Hilke, »aber sonst ist ihr Zustand unverändert.«

»Ich will einmal zu ihr hereinsehen«, antwortete Martha und ging mit Hilke in Mole Deeps Kammer.

»Das ist ein seltener Besuch«, sagte Andrees, »es ist wohl sein Vierteljahr her, seit sie das letztemal hier war. Sie hat sich rausgemacht seitdem. Man merkt ihr immer mehr an, daß sie was vorstellt.«

Die Frauen kamen in die Küche zurück. Martha war unschlüssig an der Türe stehen geblieben.

»Du könntest doch ein Stündchen bleiben?« bat Hilke, »wir sehen uns selten genug.«

Martha setzte sich mit Hilke und Wine an den Tisch, während die Männer am Herd saßen und ihren Tabak rauchten. Die Frauen sprachen leise von den Kindern. Ab und zu horchten sie auf das Gespräch der Männer.

»Man weiß nicht, was in ihn gefahren ist«, sagte Hannes Lietz, »er kümmert sich kaum noch um die Räucherei. Das macht jetzt alles Per Stieven. Er soll manchmal tagelang fort sein. Als ich neulich die blanken Aale brachte, war er gerade zurückgekommen. Man kennt ihn kaum wieder.«

»Daß ihm das mit der Frau so nachgeht«, wunderte sich Andrees. »Soll er sie doch in Dranshop lassen. Per Stieven hat auch nicht den Kopf verloren. Da fährt er wohl nun immer in die Stadt?«

»Rode Harms läuft keinem nach, das will ich euch sagen«, rief Jöken Mürk. »Der beißt sich lieber den Finger ab. Da gibts nichts von klein beigeben.«

»Er ist ein Pechvogel«, sagte Stim Kaat. »Ich hab nie was mit ihm zu tun gehabt und meinethalb mag es ihm gehen wies will. Aber manchmal macht man sich so seine Gedanken. Er hätte nicht zurückkommen sollen, wo er draußen sein Glück gemacht hat. Wenn er mit leeren Taschen angeklopft hätte, wärs ihm leichter geworden, sich hier wieder reinzufinden. Aber so wollte er groß hinaus. Daß es mit der Sterenbrink nichts würde, hab ich mir gleich gesagt. Die nehmen doch einen, der von unten kommt, nicht für voll, und wenn er auch Geld hat. Das fressen sie auf und fertig!«

»So ists«, sagte Jöken Mürk, »man hätt ihm eine bessre Frau gewünscht. Das war ja eine Furie den Tag. Konnten wir wissen, daß sie da war? Sei ihr nicht böse, Kaptän, hat er gesagt. Da bin ich gegangen. Sie soll mir nicht wieder vor die Augen treten. Er tut mir leid. Ich hab ihn neulich getroffen. Trinken wir eins, Rode Harms, hab ich gesagt, aber er war nicht umgängig. Ein andermal, Kaptän, das war alles.«

»Das geht seinen Weg«, sagte Andrees, »dazu kann man nichts tun.«

Martha war kein Wort dieses Gespräches entgangen. Sie hörte nicht auf das, was Hilke und Wine erzählten. Wenn die beiden Frauen sie ansprachen, wußte sie keine Antwort.

Sie sagte etwas müde:

»Ihr dürft es mir nicht übelnehmen. Es geht einem soviel durch den Kopf.« Dann schwieg sie wieder und hörte zu den Männern hinüber.

Hilke stand auf:

»Ich will Mutter zu Bett bringen.«

»Ich wundere mich immer, daß sie so lange in dem Lehnstuhl aufsitzt«, meinte Wine, »das muß ihr doch unbequem sein.« Sie rückte ein wenig beiseite, um den Schwestern Platz zu machen.

»Ich komme mit«, sagte Martha und ging hinter Hilke her. Sie legte ihren Arm um Hilkes Schulter, daß die Schwester verwundert war.

»Wo ist denn Öllerke?« rief Stim Kaat ihnen nach.

»Er wird wohl bei Mole Deep sein«, sagte Andrees, »da find ich ihn immer.«

Während die Männer und Frauen bei ihren Gesprächen gesessen hatten, war Öllerke über die Diele in Mole Deeps Kammer gekrabbelt. Auf dem Tisch vor dem aufgeschlagenen Bett brannte eine kleine Petroleumlampe. In dem Lehnstuhl neben dem Bett saß Mole Deep ohne Bewegung. Ihr Gesicht war kleiner geworden, kaum größer als die Hand, und die Augen hielt sie fast immer geschlossen. Obgleich die Tür knarrte, wenn sie aufgeschoben wurde, merkte man Mole Deep nicht an, daß sie es hörte. Auch wenn man mit ihr sprach, wußte man nicht, ob sie darauf acht gab. So war auch Öllerke auf Händen und Füßen zu ihr gerutscht, ohne daß sie es bemerkt zu haben schien. Sie regte sich auch nicht, als er sich nun an ihrem Rock aufrichtete und seine Arme auf ihre Knie stemmte. Er sah ihr neugierig ins Gesicht. Ihre Augen waren zu. Öllerke krähte vor ihr, denn er wollte, daß sie die Augen öffnete. Aber er wartete vergebens. Da krähte er nach einem Weilchen zum zweiten Male, doch Mole Deeps Augen blieben geschlossen. Als er aber zum dritten Male ungeduldig sein Gekräh anstimmte, gingen die Augen der alten Frau auf. Die Lider schoben sich langsam hoch, Öllerke war still geworden und sah aufmerksam auf Mole Deeps Augen, die weit und groß geworden waren und starr über ihn hinsahen. Er hatte sich dicht an sie geschmiegt und stand, die Hände noch immer auf ihren Knien, mit neugierigem Staunen unter ihrem letzten Blick.

Jakob Tharden war leise in die Kammer gekommen. Er sah öfter abends zu Mole Deep herein. Dann pflegte er ohne Aufhebens durch die Diele zu gehen, denn er liebte nicht erst große Gespräche mit Stim Kaat oder Andrees. Er trat zu Mole Deep und sah sie an. Dann nahm er die Lampe, schraubte sie höher und leuchtete ihr vorsichtig in das Gesicht. Er stellte die Lampe zurück und schloß behutsam Mole Deeps Augen. Die Mütze in der Hand stand er hinter Öllerke. Als nun Martha und Hilke hereinkamen, wandte er sich zu ihnen.

»Sie ist tot«, sagte er leise.

Martha nahm es still hin, aber Hilke weinte laut auf und auch Öllerke begann nun zu schreien.

Die anderen kamen aus der Küche herüber. Sie ahnten, was geschehen wäre.

»Es ist das Beste für sie«, sagte Stim Kaat.

Es antwortete niemand darauf. Andrees beugte sich über Mole Deep. Er konnte nicht fassen, daß es wahr sein sollte, trotzdem man seit Monaten täglich mit ihrem Tode rechnete.

Er lebte seit langen Jahren in ihrem Hause. Eines Tages hatte ihn Christian Deep mitgebracht. Sie waren von Vaters Seite weitläufig verwandt. Das hatte sich zufällig in Dranshop herausgestellt, als Christian Deep dort seine Fische verkaufte und Andrees, der ohne Arbeit war, den Marktleuten für ein paar Pfennige zur Hand ging. »Wenn du keine Ansprüche machst«, hatte Christian Deep gesagt, »kannst du bei mir arbeiten. Auf Essen und Bett soll es mir nicht ankommen. Meine Frau ist ein ruhiger Mensch, da verträgst du dich schon. Ich denke doch, daß man ein bißchen vorwärts kommt, da kann man wohl schon einen Menschen wie dich gebrauchen.«

Andrees hatte eingeschlagen, und so war er zu den Deeps gezogen. Er war nüchtern und arbeitsam und man sah ihm über seinen guten Willen die kleinen Umständlichkeiten nach. Seine Eltern waren früh gestorben und er hatte schon als Elfjähriger aus dem Hause gemußt und sich bei fremden Leuten herumgedrückt. Nun war er in ein Haus gekommen, darin er freundlich aufgenommen wurde und eine Wohnstatt bis an sein Lebensende haben konnte. Obgleich er fast gleichaltrig mit Mole Deep war, hatte er immer in ihr eine Mutter gesehen, die nun für ihn sorgte und ihn in Kleidung und Essen nicht hinter den anderen zurücksetzte. Er hatte es ihr mit treuer Anhänglichkeit vergolten, ohne Murren den kargen Tisch geteilt, und war nie auf den Gedanken gekommen, für seine Dienste einen Lohn zu beanspruchen. Dadurch wäre er sich wie ein Knecht erschienen, dem man Arbeit, Treue und Ehrlichkeit bezahlen muß. Hier wollte man einer zu des anderen Gedeih einem harten Leben gegenüber aus guter Freundschaft tun, was in den Kräften stand. So hatte man es all die Jahre gehalten und war leidlich dabei gefahren, zufrieden mit dem kleinen Maß, denn das Schicksal hatte einem nie das Gute mit Ellen bemessen. Daran zu denken wäre wohl vermessen gewesen.

Christian Deep war schon jahrelang tot, und jetzt war auch die Frau von der Erde gegangen. Da stand man also allein inmitten der Jungen, die man vom ersten Schrei an mit behütet hatte.

Andrees stand noch immer fassungslos vor dem Lehnstuhl, obgleich Stim Kaat und Hannes Lietz die Tote schon gebettet hatten.

Sie standen nun schweigend um das Bett. Hilke weinte leise vor sich hin. Sie hatte Öllerke auf dem Arm, der an ihre Schulter geschmiegt fest schlief.

Jakob Tharden setzte sich an den Tisch. Er legte die Hände in einander. Sein Gesicht war von allen abgewendet.

»Sie ist um ihres Sohnes willen gestorben«, sagte er still, »darum hat sie einen guten Tod gehabt. Sie ist allzeit ein fleißiger Mensch gewesen und die Liebe zu dem, den sie liebte, und zu dem, den sie gebar, hat ihr oft das Herze abgeschnürt. Sie hat sich um sie geängstiget und sie in Verzweiflung vom Meere zurückerwartet lange Zeit. Nun ist sie zu ihnen gegangen in aller Stille. Sie ist ihnen nachgefolget und sie wird, um die sie weinte, in Freude wiedersehen.«

Und er faltete die Hände und betete:

»Herr, lehre doch mich, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß. Nun, Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich.«

Die in der Stube waren bei der toten Mole Deep, wunderten sich, daß er, der sonst Schweigsame, so viele Worte sagte in dieser Stunde. Sie hatten wie er die Hände gefaltet und blieben noch eine Weile so stehen. Dann erhob sich Jakob Tharden und sie folgten ihm langsam. Nur Martha nahm noch die Gardine ab und deckte sie über die Tote, und Andrees öffnete weit das Fenster.

Als Martha in dieser Nacht nach Hause ging, fiel ein leiser Regen. Sie ging barhäuptig und fühlte das Naß gegen ihre Stirne wie eine Labung.

Es war schon auf Mitternacht, doch sie hatte keinen Schlaf. Sie war von dem Pfad, der zum See führt, auf den Hof gekommen, und hörte aus dem Stalle das unruhige Murren einer Kuh. Es war ein schweres braungeflecktes Tier, das in den nächsten Tagen kalben sollte. Martha redete ihm begütigend zu und klopfte seinen starken Rücken. Die Schwalben waren in diesem Jahre länger geblieben und zwitscherten verschlafen in den warmen Nestern am Balken. Die Kuh hatte sich beruhigt und muhte zutraulich. Es waren noch mehrere Kühe im Stall, die sich zum Schlaf niedergelegt hatten und von denen ein ruhiges Atmen kam. Martha setzte sich auf einen Schemel, der an der Wand lag.

Am Bett der toten Mutter war es ihr zum Bewußtsein gekommen, wie allein sie im Leben stand. Sie hatte nie eine sonderliche Innigkeit zu ihr gefunden, und über die Achtung, die einer Mutter zukommt, war ihr Gefühl niemals hinausgegangen. Nur wenn das Leben sie allzu hart anging, hatte sie hin und wieder Mole Deep aufgesucht. Nicht daß sie vor ihr geklagt hätte, aber es tat wohl, bei ihr zu sitzen und sich mit kleinen Freundlichkeiten umhegen zu lassen. Nun sollte auch das vorbei sein.

Sie war an diesem Abend zu Mole Deep gegangen, um für eine Stunde aus allen Gedanken herauszukommen. Was Rode Harms ihr vor einigen Tagen am See gesagt hatte, war noch immer so lebendig in ihr wie in jenen Augenblicken. Wenn sie auch erkannte, daß es für sie bei der Entscheidung bleiben mußte, so fürchtete sie doch, daß ihre Absage ihn für immer ihrem Hause fernhalten würde. Sie versuchte, sich ihre Worte wieder zu vergegenwärtigen, und sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihm sofort geantwortet hatte und durch ihre Worte keine Zeit zu freundlicher Aussprache gewährte. Sie stellte sich vor, daß ihr Entschluß, nicht so jäh ausgesprochen, ihn einsichtsvoll gestimmt hätte, so daß sie nach wie vor in anhänglicher Gütigkeit zu einander hätten verweilen können, denn der Schmerz, den sie um ihre Entscheidung empfand, sagte ihr, daß Rode Harms ihrem Herzen nahe stand. Sie hatte ihn seit jenem Abend nicht wiedergesehen und erst aus den Gesprächen bei Hilke erkannt, wie schwer er an ihrer Absage trug. Was Hannes Lietz von ihm erzählte, hatte sie mit einer großen Traurigkeit erfüllt, und sie würde sich gerne mit ihrem Kummer zu der Mutter gesetzt haben. Sie hatte sich gewünscht, an ihrem Bette sitzen zu können und die alten Hände, die schon nach einer besseren Welt hinübergriffen, für einige Augenblicke halten zu dürfen. Das vielleicht wäre ihr ein gelinder Trost gewesen. Aber als sie eintraten, war Mole Deep schon tot und ihr leiser Puls, zu dem Martha die verhaltene Erschütterung ihres Herzens beugen wollte, war verhaucht. Martha hatte vor der Toten in einer großen Leere gestanden. Was geschah, erschien ihr wie ein ferner unwirklicher Vorgang, erst Jakob Thardens Gebet hatte sie in den Kreis der anderen eintreten lassen. Als sie die Tür zu Mole Deeps Kammer hinter sich schloß, war alles in ihr aufgewühlt. Sie war in einem lautlosen Schreien die dunklen Wege nach Hause gegangen. Ihr Mund war geschlossen geblieben, aber hinter ihrer Stirne schluchzte ein Weinen.

Das Stöhnen der trächtigen Kuh hatte ihren Schmerz in Trost gelöst, den sie nun dem Tiere mitteilte. Es hatte schwerfällig seinen Kopf ihr zugewandt und sein Schnoben ging warm über ihre Hände. Der Stall war von einem sanften Muhen erfüllt. Der Schlaf der Tiere hat eine eigene Melodie. Es ist ein friedlich schnaufendes mahlendes Lied. Der Traum von satter Weide liegt darin, von würzigen Gräsern und fettem Klee. Sie haben tagsüber auf der Wiese gestanden, Star und Bachstelze waren ihre Gesellen, die dicht vor ihren Mäulern ohne Scheu sich das Futter suchten. So war der Tag freundlich gewesen, nun ist es auch die Nacht.

Aus diesem Schlaflied der Tiere kam eine große Ruhe zu Martha. Als sie in das Haus ging, hatte sie ihre Gedanken wieder geordnet. Sie versprach sich Gutes aus dem Tode ihrer Mutter, denn sie glaubte, daß Rode Harms nun noch einmal kommen würde und daß man am Tage des Begräbnisses Gelegenheit hätte zu neuer Aussprache, die wohl die Brücke werden könnte zu geschwisterlicher Freundschaft. Das hoffte Martha und sie wünschte es sich mit allen Gedanken.

Doch Rode Harms kam nicht. Er sandte nur einen Kranz aus weißen Herbstblumen.

Martha ging von Grabe ihrer Mutter allein nach Haus. Kiek Möns war während der Beerdigung bei den Kindern geblieben. Sie hatte Öllerke mitgebracht und sich erboten, auf die Kleinen achtzugeben. Nun setzte sie sich zu Martha, denn sie sah deren stillen großen Kummer. Kiek Möns schob es auf den Tod der Mutter und wollte sie trösten. Martha sagte:

»Es ist traurig, daß sie uns nicht ein letztes Wort gegeben hat. Du warst dabei, als Pudmar starb und hast sein letztes gehört. Auf diese drei Worte stelle ich nun mein Leben.«

Damit wollte sie ihre Gedanken von Rode Harms abtun. Kiek Möns sah sie an und antwortete nicht. Martha aber nahm ihren Sohn, der nach dem Vater gerufen wurde, auf den Arm. Sie trat mit ihm an das Fenster und sah über den Hof, der ihm einmal gehören sollte.

Das Land schob sich schwer in den Winter. Die Birken am See, die, vom Wind gebogen, im Blätterschmuck Frauen glichen, die Kiepen trugen und mit geschürzten Röcken durch den Regen stapften, hatten ihre Gestalt verloren. Sie trugen im oberen Geäst Hexenbesen, die wie leere Nester aussahen. In den kahlen Zweigen hockten aufgeplusterte Wintervögel, die erschrocken aufstoben, wenn das graue Krächzen der Krähen in den Baum fiel. Nur der Schwung der Möwen über den ruhenden Booten hin war weich und daunenwarm. Sie waren die Unbekümmerten des Jahres, deren Flug in großen ebenen Kreisen über allen Jahreszeiten stand. Die Menschen aber gingen vom Meer und vom See zurück in das Haus. Sie riefen den Hund herein, damit er wärmer am Herde läge. Er war ihr Gefährte am Boot und ihr Gespiel in eintönigen Stunden. Diese Hunde waren grob gewachsen, kleinstämmig und mit gutmütigem Gekläff. Sie waren genügsam und freuten sich, wenn sie einen Fisch erwischten. Nun lagen sie den langen Tag am Herd, dankbar für jede Kartoffel, die ihnen zufiel. Sie vergalten es mit der Wärme ihres Körpers. Es war angenehm, wenn sie sich einem auf die Füße legten oder munter auf den Schoß sprangen. Der Winter rückte Mensch und Tier dicht zusammen. Über Börshoop lag ein Hauch von Eis und Schnee.

Als es derart zum Winter ging, kam Rode Harms von einer Reise zurück.

Marthas Antwort hatte alle seine Pläne und Hoffnungen durcheinander geworfen. Er sah sich vor einem Kreuz und Quer, das zu geradem Weg umzugestalten ihm unmöglich däuchte. So hatte er sich die erste Zeit hintreiben lassen, unschlüssig und von einer Gleichgültigkeit, die er bisher noch nie in sich verspürt hatte. Er versuchte sich zusammenzunehmen, um wenigstens nach außen hin fest und sicher zu erscheinen, aber er konnte es doch nicht hindern, daß man die Veränderung seines Wesens empfand, und daß jeder diese Verwandlung nach eigenem Gutdünken auslegte. Man schob sie auf Vrena oder auf Syrrha Sterenbrink, denn es war aufgefallen, daß er seine Besuche bei der Schwägerin eingestellt hatte. So war manches müßige Geschwätz aufgekommen, und Rode Harms fühlte aus vielen kleinen Verlegenheiten, mit denen man ihm begegnete, daß man sich in schwatzhaften Stunden mit ihm mehr beschäftigte, als ihm lieb sein konnte. Er merkte es, wenn er zu Drüsel ging, um seine Mahlzeiten einzunehmen, und er hörte es aus manchem ungeschickten Wort, das Jöken Mürk vor ihm aufbrachte. Man schien es auch mißfällig aufgenommen zu haben, daß er dem Begräbnis der Mole Deep ferngeblieben war, da man seine Freundschaft zu Pudmar und seine Nachbarlichkeit zu Martha kannte. »Die Reichen sehn den Armensarg nicht gern«, hatte Stirn Kaat gesagt, »auch gut. Mole Deep wird schon ohne seinen Gruß ruhig schlafen, und ich denke, wir können ohne ihn leben.«

Durch dieses Wort, dem die Fischer zustimmten, war ihre letzte Vertrautheit von Rode Harms abgewendet.

Man begann wieder zwischen Börshoop und der Räucherei zu scheiden und zog zwischen sich und denen, die bei Rode Harms in Lohn und Brot standen, von neuem die Grenze, die sich im Laufe des letzten Jahres bereits zu verwischen begann. Darunter hatte vor allem auch Per Stieven zu leiden, dessen Zuverlässigkeit und Erfahrung Rode Harms die Aufsicht in dem Betriebe anvertraute. So zog sich Per Stieven von den Fischern zurück und lebte ganz abgeschlossen für sich mit Alma.

Auch Jöken Mürk hatte sich nach Mole Deeps Begräbnis kaum noch sehen lassen.

»Er hätte ihr wohl die letzte Ehre geben können. Sie hat ihn doch zu Lebzeit nicht gebissen. Im Tod, mein ich, sind wir gleich.«

Das war seine Ansicht.

Rode Harms war daher froh, daß er durch eine Reise für einige Zeit aus Börshoop herauskommen konnte. Er hatte sich schon immer vorgenommen, einige Geschäftsfreunde, die in den Küstenstädten saßen, einmal aufzusuchen, dieses Vorhaben aber zurückgestellt, bis Martha über den Wunsch seines Herzens entschieden hätte. Nun war ihr Wort gesprochen. Rode Harms hatte ein unwirtliches Börshoop verlassen.

Er fuhr durch die kühlen Städte des Nordens, diese herben und trotzigen Seefahrerstädte, deren Kirchen Burgen sind, ungeschickt zu Weihrauch und Spezereien, aber in denen jede Wölbung machtvoll wie ein Choral aufsteigt, dessen Worte ein ewiges Bekenntnis sind und dessen Melodie einen eisernen Schritt hat. Er war durch Straßen gegangen, aus deren Leben und Treiben das Schreiten großer Jahrhunderte aufklang, und er hatte an Häfen gestanden, in denen die alten stolzen Schiffe zu Hause gewesen waren, die den Wimpel verklungener Geschlechter zu fremden Weltteilen getragen hatten.

Diese Städte hatten ihn ruhig gemacht und er war nach Börshoop zurückgekommen mit dem klaren Entschluß, sein Leben ohne Verstörung und Bitterkeit so hinzunehmen, wie es ihm gegeben wurde. Er glaubte nun die Kraft dazu gefunden zu haben.

Sein erster Schritt sollte zu Martha sein. Er fürchtete, daß er sie durch sein Fernbleiben vom Begräbnis der Mutter gekränkt hätte, und daß sie vielleicht annehmen könnte, daß er ihren Entschluß nicht zu würdigen wisse, und ihr um die treue Anhänglichkeit zu Pudmar zürne. So wollte er durch seinen Besuch alles wieder in das rechte Geleis bringen. Er hatte eingesehen, daß er Marthas verständige Art nicht entbehren konnte, und daß er ihr, wenn es nicht als Gatte sein sollte, so doch wie ein Bruder zugetan zu sein wünschte.

Auf diesem Wege stellte er sich seine früheren Begegnungen mit Martha vor und es kam ihm jener Nachmittag in Gedanken, als sie, das Kind auf dem Schoß, an dem Fenster zum Hofe hin gesessen hatte, und hinter ihr Hof und Landschaft wie ein geschlossenes Bild sich formten. Dieses in eine hölzerne Ruhe gebettete Bild erschien ihm für Martha bedeutsam. Er stutzte vor dieser Erkenntnis in der plötzlichen Befürchtung, daß sie seinen Besuch falsch auslegen könnte und in ihm einen Unerwünschten sähe, der sie aus dieser Ruhe durch neues Verlangen aufschrecken wollte.

Rode Harms ging darüber nachdenklich weiter. Er war an Marthas Haus schon vorbei, das Dorf bog hin zu der Rowen Düne.

Rode Harms achtete wenig auf den Weg. In den letzten Widerstreit seiner Überlegung hinein hörte er sich angerufen. Es war Syrrha. Sie hatte sich bei dem alten Kars Fische besorgt, und Frems, der neben ihr ging, trug den Korb.

»Wieder im Lande?« sagte sie erfreut, »ich habe es schon von Frems gehört.«

Auch der alte Kutscher konnte seine Freude über das Wiedersehen nicht unterdrücken. Rode Harms sah sich einer Herzlichkeit gegenüber, die er in der letzten Zeit in Börshoop vermißt hatte. Auch erschien ihm diese Begegnung mit Syrrha wie ein Ausweg aus seinen Überlegungen und es war ihm nicht unlieb, den Besuch bei Martha aufzuschieben, bis er das Für und Wider noch einmal geprüft hätte.

So begleitete er Syrrha und erzählte von seiner Reise. Er schilderte seine Eindrücke und Syrrha ergänzte sie aus ihrer Fantasie heraus, so daß sich die strenge Fläche, in der er zu denken gewohnt war, unter den schmiegsamen Linien ihrer Vorstellungswelt anmutig wölbte und weitschweifig rundete.

Was ihm in früheren Gesprächen mit Syrrha aufgefallen war, erfuhr er jetzt wieder. Sie verstand es, seine nüchternen Erklärungen zu größeren Erkenntnissen umzugestalten, ohne das Ergebnis für sich zu beanspruchen. Sie hatte eine unaufdringliche Art zu sprechen und Rode Harms empfand es wie früher wohltuend, zwanglos mit ihr reden zu können.

Sie setzten ihr Gespräch bei Syrrha fort. Rode Harms hatte ihre Einladung gern angenommen. Dieser Abend hat den Glanz einer späten Blume. Die duftenden Kelche des Frühlings sind verhaucht, die vollen Farben des Sommers verrauscht und das Gold des frühen Herbstes verglüht. Nun ist nur noch eine Blume, die den späten Herbsttag überdauert. Ihre Blütenblätter sind in ein dunkles Gelb gekleidet, kein leuchtend flammendes, nach Sonnenglanz und Julikrone, es ist ein strohiges Gelb, ein warmes guttuendes Gelb zu Rast und tagferner Säumnis. So ist dieser Abend.

Als Rode Harms nach Haus ging, war über ihm die schwebende Klarheit der Sterne, dieser unfaßbaren Augen der Nacht. Es war ein Strahlenwandel sondergleichen, darinnen dienend der Stern Erde zog, der von den Menschen viel verleumdete Planet.

Rode Harms war jetzt oft bei Syrrha. Er fühlte, daß Syrrha ihm von Tag zu Tag inniger zugetan war. Er sah, wie sie sich in Liebe von seinen Wünschen abhängig machte, wie sie alles Lästige abwehrte und sich bemühte, einen neuen Beginn für ihn herzurichten. Diese Besorgnis tat ihm wohl. Er empfand sie wie ein Genesender. Sie sprachen nicht von Vrena, nicht von Karla. Er erwähnte Martha mit keinem Wort. Er hatte sich Syrrha überlassen, vertrauensvoll und wie ein Mensch nach langer Fahrt ruhbegehrend und ohne Aufhebens von seinem Schicksal.

Bald gab es für Rode Harms nur noch die Rauhe Düne, auf der das Haus der Sterenbrinks in Syrrhas liebevollem Erschließen sich ihm wie ein Hafen auftat. Er vergaß darüber Börshoop. Er war mit seinem Leben zufrieden und wünschte nicht, es anders zu haben.

Da erhielt er den Brief aus Dranshop, worin ihm der Senat den Bagger für das nächste Frühjahr zusagte. Bestimmend dafür war, daß man die Notlage der Fischer anerkannte, zumal es ungewiß schien, wie lange sich der Prozeß wegen der Abwässer der Papiermühle noch hinziehen würde. Allerdings mußte sich Rode Harms für Börshoop verpflichten, einen Teil der geldlichen Regelung zu übernehmen, denn der Senat fand es billig, daß die Gemeinde, die allein alle Vorteile der Arbeit hätte, dazu beitrüge, was in ihren Kräften stünde. Der Bescheid kam am Tage vor Weihnachten. Es war eine gute Botschaft.

Durch diesen Brief, der auf einmal ein beginnendes Werk vor ihm aufbaut, an dessen Verwirklichung er schon nicht mehr zu denken gewagt hatte, wurde Rode Harms wieder mitten hinein in seine Pläne und Hoffnungen gestellt.

Das Fischerdorf, das die ganze letzte Zeit für ihn wie in einem Nebel gelegen hatte, tauchte aus dieser Verschwommenheit auf, hell und deutlich mit seinen Leiden und geringen Freuden, seiner mühseligen Arbeit und seinen harten Nöten und seiner großen, ans Herz greifenden Armseligkeit.

Rode Harms fand wehmütig nach diesem Dorf zurück, als hätte er es in einer heiteren Landschaft verleugnet. Dieser Brief aus Dranshop schien ihm die endgültige Versöhnung zu bedeuten. Eine große Freude kam über ihn, und ohne sich Zeit zu lassen, ging er mit dem frohen Bescheid zu Syrrha. Er brauchte jetzt einen Menschen, vor dem er das ausschütten konnte, was verschlossen in seinen Gedanken geruht hatte. Nicht in der Enge eines Zimmers wollte er zu Syrrha davon sprechen; er bat sie zu einem Spaziergang.

Es war schon die erste leise Dunkelheit eines frühen Winternachmittages, aber das Wetter war milde und man ging wie in einem leichten Hauch.

Rode Harms hatte von dem Briefe noch nichts gesagt, doch merkte ihm Syrrha seine verhaltene Freude an. Sie versuchte ihn mit kleinen Übermütigkeiten auszuforschen, aber er hielt noch geheimnisvoll zurück, und so schwebte eine kleine Neckerei zwischen ihnen. Erst auf der schmalen Nehrung in der Nähe des Tiefs erzählte Rode Harms von dem Bagger.

»Das wird hier bald anders aussehen«, sagte er, »der unfruchtbare Sand und das dürre Gras werden verschwinden. Nicht lange, und der Pflug geht über dieses Land. Man wird Kartoffeln bauen und Hafer. Ich denke mir, die Fischer werden dann auch Vieh halten können. Das ist ein glücklicher Weg vom Boot zum fruchtbaren Acker. Da mag draußen geschehen, was will. Sie sind geborgen. Man sagt, daß alles seine Zeit währt, aber der Bauer wird immer das Feld pflügen und der Fischer ewig seine Netze werfen. So, glaube ich, wird Börshoop unter Pflug und Netz in guter Hut sein.«

Syrrha hatte erschrocken zugehört. Sie fühlte, daß ein großes Geschehen in die Friedlichkeit ihrer Liebe einbrechen wollte. Sie zitterte plötzlich, den Mann, den sie gewonnen zu haben glaubte, an ein Werk verlieren zu müssen.

Ängstlich nahm sie seinen Arm. Sie sagte:

»Du hast es in die Wege geleitet, laß es die anderen vollenden. Es sieht wohl groß und gewaltig aus, aber in aller Größe und in aller Gewalt steckt viel kleine Bosheit, Zwietracht, Neid und Verdruß. Bedenke, das Land ist da, nun müßte es aufgeteilt werden. Wenn du das übernimmst, wird man dir Vorwürfe machen, wenn sich der eine oder der andere benachteiligt fühlt. Man ist dir überdies in Börshoop nie gut entgegengekommen. Du wirst nach allem einsamer sein als vorher. Ich freue mich, daß sich dein Plan verwirklicht. Laß es dir dabei genug sein. Nichts ist für den Menschen von größerem Glück als der Frieden. Du hast neulich gesagt, ich bin so zufrieden bei dir. Laß dir diese Zufriedenheit nicht zerstören. Was brauchen wir das alles zum Leben, diesen ständigen Wechsel von Niederlage und Erfolg, von Tat und Zerwürfnis. Ich habe mir oft ausgemalt, in einem stillen Fischerhaus zu leben. Der Tag geht hin in liebevoller Schau: die See, der Baum, der Vogel und der Fisch, die Sonne und die Wandelzeit des Monds. Ich denke, daß zwei Menschen das genügt, die ihre Liebe haben und ihr Glück.«

»Ich sollte mich von dieser Arbeit trennen?« erschrickt Rode Harms.

Er wendet sich unwillig von Syrrha ab. Sie gehen schweigend zurück. Auch im Zimmer finden sie kaum Worte. Alles was Syrrha hat, ist ein ängstlicher Blick auf den Mann, den sie liebt. Sie fürchtet, daß er gehen könnte ohne ein einlenkendes Wort, aber sie wagt nicht, das Gespräch noch einmal zurückzuführen, als könnte sie dann zuviel verraten von ihrem Herzen.

»Ich habe gedacht, dir eine Freude zu bringen«, sagt Rode Harms, als er geht.

Syrrhas Zagheit findet keine Antwort, aber als sein letzter Schritt verklingt, bricht sie weinend zusammen.

›Wo ist der andere?‹ fragt es in Rode Harms, ›ich suche einen Menschen, einen einzigen Menschen. Ich hab nach ihm verlangt mit allen Fasern meines Herzens. Aber er ist nicht gekommen.‹

Und Rode Harms denkt an Martha, von der er alles erhoffte für ein gütiges Leben, und die ihm die Türe zutat. Und er denkt an Vrena, die er mitnehmen wollte in den ernsthaften Gang seiner Tage, und die ihn abzulenken suchte in nichtige Vielfalt. Nun biegt auch sein Weg von Syrrha ab, die ihn fortziehen will von dem Werk, das er vorhat, um für sich die Beschaulichkeit ihrer Träume wahrwerden lassen zu können. ›Braucht man den anderen?‹ fragt es in Rode Harms, und er, der sich durch die Welt hat stoßen müssen, weiß, daß er nun nach allen Wegen diesen anderen braucht, diesen wahrhaft aufgehenden Menschen, mit dem er eins sein könnte in Tat und Gedanken, diesen anderen, der Hingabe ist, Antrieb und Rechenschaft.

Rode Harms bleibt mitten auf dem Wege stehen, einsamer als je. ›Glücklich ist der starke Rücksichtslose, der nur eines kennt: sein Werk, und der allein zu sein vermag in seiner Welt, herzlos und ohne Erschütterung.‹

So dachte Rode Harms erbittert.

Ein heulender Ton schreckte ihn auf. Es war die rostige Stimme eines Hornes, das durch die Dorfstraße rief. Es rollte auch das Gerassel eines Wagens und der Lärm vieler Menschen. Rode Harms sah entsetzt nach den Häusern am See. Er lief den anderen nach.

An diesem Abend war ein Feuerschein in Börshoop.

Die Frauen ließen von ihren Vorbereitungen zu dem Fest und stürzten aus den Häusern. Die Männer kamen angstvoll von den Booten. Sie schoben den Wagen heraus, die Kübel und Eimer. Kinder liefen dazwischen und schrien. Es war ein hastiger Zug über den Weg nach dem See. Man rief, man fragte, man schrie: »Kiek Möns!«

Hilke hatte in diesem Jahre keinen Weihnachtsbaum bereiten wollen, weil sich der freudige Glanz schlecht mit der Trauer um ihre Mutter vertrüge. Kiek Möns aber wünschte, daß Öllerke doch seine Lichter hätte und so nahm sie ihn mit nach Haus, um ihm dort die Kerzen anzuzünden, die sie in der Schublade verwahrte.

Öllerke ging ohne Widerstreben mit. Er kannte die Alte gut und liebte sie. Seitdem Kiek Möns durch Hede Lorms Fortgang Mute verloren hatte, kam sie oft, um an Öllerke ihre Freude zu haben.

Kiek Möns besaß noch vier Lichtstümpfe, die sie auf einen Teller stellte. Sie zündete sie vorsichtig an und verwies Öllerke, der sie gleich wieder auspusten wollte. Als die vier Lichtlein brannten, hatte auch der Kleine seine Freude daran. Er saß auf der Bank, dem Bett gegenüber und Kiek Möns beugte sich zu ihm.

»Du bist noch klein«, sagte sie, »und weißt es nicht zu begreifen, aber ich will es dir doch erklären, denn wenn das Licht brennt, muß auch das Wort dabei sein. Dieses Licht hier, das vor den drei anderen hergeht, ist der Stern, der über der Krippe stand. Die drei aber, die ihm nachfolgen, sind gar gewaltige Herren. Sie sind Könige und haben eine Krone auf. Sie sollen goldene Mäntel angehabt haben, und jeder einen elfenbeinernen Stab in der Hand. Sie sind von weither gekommen, aus Arabien der eine und Ägyptenland der andere. Der dritte aber war der Fürst vom Mohrenreich, schwarz wie die Nacht hat er ausgesehen, doch sein Herz war licht wie die liebe Sonne. So also sind sie hinter dem Sterne hergezogen und sie fanden das Kind in der Krippe. Das Kind ist kleiner gewesen als Öllerke und ist doch der Heiland gewesen, vor dem die Könige sich neigten. Sie haben ihm gute Gaben mitgebracht, Gold und Früchte und eine große Schüssel voll Fische. Dazu hat das Kindlein gelächelt in der Krippe und es ist eine große Freude gewesen unter allen Menschen. Und es waren Hirten in derselbigen Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und sie sahen den Stern und kamen und beteten an. Sie sind arm gewesen und brachten von der Milch ihrer Schafe.«

So erzählte Kiek Möns und Öllerke saß da, sah auf ihren Mund, ihre Hände und auf die Lichter.

»Da hat nun jeder König sein Licht«, sagte Kiek Möns, »aber wo ist der Hirten ihres? Sie haben es wohl verdient, daß wir ihnen auch ein Licht zum Gedenken hinstellen. Ich will sehen, ob ich nicht noch ein Stümpflein finde. Sitz still und geh mir so lange nicht von der Bank.«

Kiek Möns zog ein Schubfach auf und kramte darin, Öllerke saß einen Augenblick still vor den Lichtern und blinzelte in den Schein. Dabei überkam ihn die Lust, in die kleine Flamme zu fassen. Er schob sein Händchen vorsichtig heran, öffnete es und haschte nach dem Licht. Das Licht fiel um und erlosch. Darüber freute sich Öllerke und er wollte nun auch die anderen Lichter fangen. Ehe Kiek Möns es bemerkte, kehrte er patschend die Lichter vom Tisch. Sie fielen ins Bett, schon brannte das Stroh.

Kiek Möns stand entsetzt. Sie wollte es löschen, doch die Flamme war größer und sprang an die Wand. Das brannte wie Zunder, das Holz und das Stroh, das morsche Gebälk.

Das Kind lacht fröhlich, es klatscht in die Hände. Die Flammen kriechen. Der Qualm beißt die Augen. Das Kind weint erschrocken.

Die Glut dringt nach außen. Sie knistert im Dach.

Die Wege leben, die Menschen laufen, auf der Straße schreit Hilke.

Kiek Möns starrt ins Feuer. Die Lippen zucken, die Augen brennen: ›Sie reiten, sie kommen, die uralten Grauen, die Götter von ehmals. Sie reiten aus Flammen, sie reiten zum Weltbrand. Sie haben die Lichter der Könige gefressen. Aus brennenden Wolken sie jagen hernieder, die lohende Erde wie Glutasche stiebt.‹

Kiek Möns bebt in Fieber. Sie verdeckt ihre Augen.

Ein Mensch stürzt herein, er stürzt durch die Flammen, er packt das Kind. Der Mensch ist verschwunden.

›Sie kommen, sie reiten, die grauen Uralten, von ehmals die Götter. Sie kommen aus Flammen, sie kommen zum Weltbrand. Die Lichter der Könige sind all längst verglommen. Sie kommen, die Grauen aus brennenden Wolken, die Glutasche sprüht, die Erde loht.‹

Kiek Möns hebt die Arme, sie öffnet die Augen.

Ein Mensch stürzt herein, er stürzt durch die Flammen, er packt die Alte. Sie wehrt sich, sie ringen. Schon sengen die Kleider, die Hände brennen. Ein Balken bricht nieder. Der Mensch reißt die Alte, er reißt sie zur Tür. Er schreit auf sie los, zerrissene Worte. Von draußen sind Rufe: »Er bringt sie!« »Gerettet!«

Da läuft die Alte zurück in das Feuer, sie läuft wie ein Tier in die Flammen hinein. Vom Feuer gejagt, gejagt in das Feuer.

Rode Harms taumelt ins Freie. Seine Kleider brennen, er stürzt nach dem See. Es sind nur wenige Schritte, er läuft in das Wasser, er fällt vornüber. Stim Kaat sprang ihm nach. Er trug ihn zurück. Er hatte Rode Harms auf seinen Armen liegen. Der Kopf lag zurückgesunken.

Als das Feuer aufkam, war Stim Kaat noch auf der See gewesen. Es saß aber eine Unruhe in ihm, und er hatte sich beeilt, an den Strand zu kommen. Da waren die Menschen schon unterwegs nach dem brennenden Haus. Als man ihm zurief, daß es bei Kiek Möns wäre, begann er wie ein Irrsinniger zu laufen. Er wußte, daß Öllerke am Nachmittage bei der Alten wäre. Stim Kaat stürzte auf die Brandstätte und wollte durch die Flammen hindurch ins Haus. Da hörte er seinen Namen gerufen. Hilke rief ihn. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie hielt Öllerke geborgen im Arm.

»Rode Harms«, sagte sie bebend zu Stim Kaat.

»Wo?« schrie er hastig. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht.

In diesem Augenblick riefen die Fischer: »Er bringt sie«, und Stim Kaat sah entsetzt Kiek Möns zurücklaufen ins Feuer, und sah, wie Rode Harms taumelnd zum See lief.

Da sprang er ihm nach.

Nun hielt er ihn auf den Armen. Er fühlte, daß Rode Harms tot war, aber so, als wollte er ihn nicht hergeben, stand er lange, den Toten im Arm, bis er ihn endlich langsam auf die Erde gleiten ließ.

»Sein Herz zerschlug sich«, sagte Jakob Tharden hingebeugt.

Man dachte an kein Gebet. Das Feuer durfte sich nicht weiter fressen. Die Eimer flogen wieder von Hand zu Hand.

Unter den Frauen, die erschrocken herbeigeeilt waren, stand auch Martha. Sie hatte die Schürze vor das Gesicht geschlagen. So stand sie reglos unter den andern.

 

Nach Rode Harms' Tode fing man an, manches Gute von ihm zu reden, zumal sich herumgesprochen hatte, daß unter seinen Papieren ein Schriftstück gefunden wurde, darin er verfügte, daß die Überschüsse der Räucherei nach Abzug der Summe für Vrena seinem Heimatdorfe zugute kommen sollten. In diesem Schriftstück war auch wie eine letzte Bitte der Wunsch ausgesprochen, daß man bei der Verteilung des Neulandes am Tief vor allem die ärmeren Strandfischer bedenken sollte. ›Ich bin von ihnen hergekommen‹, hieß es, ›und ich möchte, falls es mir zu Lebzeiten nicht vergönnt sein sollte, wenigstens nach meinem Tode durch diese Fürbitte zu ihnen zurückkehren.‹

Man begann in Börshoop einzusehen, daß Rode Harms wohl nur das Beste für alle im Auge gehabt hatte. So hielt man das, was er geschaffen hatte, in Ehren, und sagte nichts mehr dawider.

»Es heißt, wenn der Reiche dem Armen auf die Schulter klopft, tut er es nicht des Staubes wegen. Dieser aber hat es eures Staubes willen getan. Er wollte euch helfen«, sagte Jakob Tharden.

»Soll mir einer was gegen ihn sagen«, antwortete Jöken Mürk, »als er mir noch nicht bis ans Knie ging, hab ich gewußt, das wird einer. Auf den ist Verlaß.«

Stim Kaat aber holte eines Tages den alten Farbtopf aus der Ecke und mit ungefügen Buchstaben schrieb er an sein Boot »Rode Harms«.

So begann Rode Harms in Börshoop zu leben, nachdem er gestorben war.

Von Syrrha Sterenbrink sah man nicht mehr viel in dem Fischerdorf. Nur ab und zu, doch seltener als früher, ruderte sie mit dem alten Kars auf den See. Er erzählte von ihr, daß er sie dann singen höre.

»Zuerst habe ich geglaubt, es läge in der Luft, aber dann sah ich, daß sie die Lippen bewegte. Es war wohl was Geistliches.«

Darum sprach man manchmal von dem singenden Fräulein.

Im Frühjahr kam dann der Bagger von Dranshop. Die Fischer hatten ihn schon am Vormittage erwartet, aber der Tag verging, und erst am Abend bemerkte man den Hafendampfer, der ihn heranschleppte. Stim Kaat war am Nachmittag noch einmal hinausgefahren, nicht weit, nur bis zu dem vorderen Netz, denn er sah, daß das Fähnchen, welches die Stelle bezeichnen sollte, umgeknickt war. Auf die Fahrt hatte er Öllerke mitgenommen. Nun kam er zurück. Das Segel breitete sich und war wie ein großer brauner Vogel, und als es jetzt vor der Sonne vorbeizog, verdeckte es sie fast, war schwarz und mit scharfem Umriß. Das Boot lief sanft an den Strand. Zwischen den Ruderbänken stand eine Kiste, warm ausgelegt mit Decken. In dieser Kiste saß Öllerke. Das war seine erste Bootsfahrt.

Als der Hafendampfer mit dem Bagger sich näherte, kamen die Fischer mit ihren Frauen aus den Häusern eilig an den Strand. Sie standen aufgeregt am Ufer und sahen gespannt auf den Bagger, dieses schwarze ungefüge Tier, das aus vielen Eimern frißt. Der Dampfer schleppte es langsam nach dem Tief und die Fischer gingen mit ihren Frauen am Strande mit. Auch Stim Kaat und Hilke mit Öllerke auf dem Arm.

Auf dem Hafendampfer waren auch die Arbeiter aus Dranshop, die nun den Fischern helfen sollten, die trockene Nehrung in fruchtbare Erde zu wandeln. Es waren Menschen, die lange ohne Arbeit hatten sein müssen. Sie stiegen umständlich an Land. Graue vergrämte Gestalten waren unter ihnen und junge, trotzige. Jeder trug sein Bündel unter dem Arm und derbe Schuhe über die Schulter gehängt. Sie standen unschlüssig vor den Fischern. Die Armseligkeit hatte sie mißtrauisch gemacht, und sie musterten prüfend einander. Dann aber ging Jakob Tharden hin und gab dem, welcher der Älteste unter den Angekommenen zu sein schien, die Hand. Da traten auch die anderen Fischer hinzu. Jeder wollte einen der Arbeiter mitnehmen, bis die feste Baracke gebaut wäre, die ihnen Unterkunft gewähren sollte.

Es war schon dunkel, als sie mit den Dranshoper Arbeitern in das Dorf kamen, aber die Sterne standen groß über den Häusern. Die See hatte ihren ewigen Gesang. Jede Stube in Börshoop war davon erfüllt. Doch war an diesem Abend noch ein anderes Lied in Börshoop, ein ungesungenes und doch innerst glückseliges, ein Lied, das wie eine große Zuversicht in allen Worten lag, die an diesem Abend noch geredet wurden. Es war wie ein jauchzender Ruf, der in allem widerklang und nun groß und wie vernehmbar in allen Stuben aufstieg: Es gibt Land und Land ist Brot. Die Herzen sangen es und die Hände beteten es.


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