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Der Frühling kommt spät nach Börshoop. Erst im Juni blüht der Flieder, erst im Juni bekommen die beiden alten Kastanien ihre Kerzen. Aber dann beginnt plötzlich die volle Blüte des Sommers. Weiße Sterne und duftende Blütenmonde und das strahlende Sonnengelb der Kuhblume leuchten auf jedem grünen Fleck. In diesen Tagen saß Hilke, so oft es ihre Zeit erlaubte, auf der Bank, die in den Dünen stand. Vor ihr im Sande spielte Öllerke. Ein Stück hin war Andrees am Räucherofen beschäftigt und wieder um einiges weiter hantierte Stirn Kaat an den Netzen. Auch Wine gesellte sich zu ihnen. Wie ein Bündel trug sie ihr Kind, das vor ein paar Wochen angekommen war und kaum die Größe eines Brotes hatte. Wine hatte darauf bestanden, daß es Hanne hieß. Ihr Mann war zuerst nicht damit einverstanden gewesen. »Hannes und Hanne«, sagte er, »das ist nicht schön«, aber Jöken Mürk hatte Wine recht gegeben. »Es ist schon gut, wenn das Mädchen weiß, von wem es kommt. Später vergißt sich das leicht.« Das waren seine Worte und Hannes Lietz hatte schließlich nachgegeben. Nun lag also Hanne wie ein kleiner satter Frosch in der Sonne und Öllerke liebte es, ihr ungeschickt ins Gesicht zu patschen, bis sie schrie und er von Hilke einen Klaps bekam. Auch die Kuh war da. Sie stand angepflockt an dem Wiesenrain und konnte den ganzen Tag kauen. Es war erstaunlich, wieviel sie in ihrem Maule zermahlte. In den freien Stunden kam auch Hannes Lietz zu ihnen, der jetzt für Martha auf dem See fischte. Von ihm erfuhr man, was auf dem Pudmarschen Hofe vorging, wie der kleine Jürgen der Mittelpunkt des Hauses geworden war und wie vor allem Mariechen ihn nicht aus den Augen ließ. Dies und anderes hörten sie durch Wines Mann, denn Martha selbst fand keine Zeit mehr, sich blicken zu lassen.

Diese freundliche Sommerzeit währte nur kurz in Börshoop. Eigentlich war nur der Juli voll Sommer. Im August meldete sich schon der erste Herbstwind. Er kam wie ein Vorbote der großen Stürme angeritten und belustigte sich, schwerfällige Wolken vor sich herzutreiben. Diese Wolken kamen in vielerlei Gestalt. Plumpe dicke Walrosse waren es, Bären, die auf den Hinterbeinen sprangen, und putzige Pudel. Auch flinke Seelöwen, die auf ihren Schnauzen rosige Wolkenbälle balancierten. Und dann das kleine Tiervolk, huschende Mäuse und flatternde Vögel. Eine ganze Schöpfung glitt in diesen Wolkenbildern über den Himmel hin. Sie zogen am Horizont des Meeres entlang, als hätten sie dort ihre Straße. Denn nur über dem endlosen Meer tauchten sie auf und ab, als kämen sie von den großen Seetieren und wollten wieder zu ihnen. Über der begrenzten Fläche des Sees aber stand das Wolkenland, die Berge und Hügel, Schneegebirge und graue Gletscher.

Im August waren schon oft kühle Tage, regnerische und fröstelnde. Man mußte sich immer mit dem guten Wetter von Mond zu Mond vertrösten. Jöken Mürk unternahm öfter, es voraus sagen zu wollen

»Die Sonne sitzt auf einer Bank«, sagte er, »es wird morgen regnen«, oder »die Wolken rennen, da hat die Sonne morgen freies Feld.«

In den Nächten fielen die Sternschnuppen. Sie sprangen von Sternbild zu Sternbild, und man sah oft noch lange ihren Feuerweg. Wenn sie alle Wünsche in Erfüllung bringen würden, hätte man es leicht, in Geld zu schwimmen. Durch diese Nächte schlug auch schwer und weich der dunkle Flügelschwung der Eule. Man wußte nicht, woher sie kam. Vielleicht wohnte sie in dem alten Gebälk einer Scheune, vielleicht zwischen den morschen Weidenstümpfen. Man hörte sie auch nie, aber wenn man nachts zu den Booten ging, strich sie aschgrau über die Dünen.

In diesem Jahre war der August trübe hereingezogen. Man wartete auf den Wechsel des Mondes.

Der volle Mond kam mit gelindem Wetter. Als er aufstieg, dieser große rote Augustmond, als er erdnah im langsamen Schweben hochkam, wurde die See unruhig und die Menschen aufgeregt. Es war wie ein kurzes Aufflackern in allem. Doch der Mond verlor bald diese fremde schreckende Glut und war wieder das stille Gestirn, das friedlich seine Bahn wandelte. Die See wurde wieder glatt und die Gemüter ebneten sich.

Um diese Zeit war Rode Harms von einer großen Unruhe befallen. Er war nicht wieder bei Syrrha gewesen. Sein Herz drängte zu einer Entscheidung mit Martha. Er wollte sich vor ihr aussprechen. Ihr Weihnachtsgeschenk, die Annahme seiner Patenschaft und ihre freundlichen Gespräche legte er gut für sich aus. Er zweifelte nicht daran, daß sie, die Alleinstehende, seiner Werbung mit warmem Vertrauen entgegenkommen würde, und er stellte sich vor, wie man das neue Jahr mit einem neuen Leben beginnen könnte. Es war schon ein Jahr seit Pudmars Tod vergangen und er hielt es für angemessen, nun mit seinem Verlangen zu ihr kommen zu dürfen.

Eines Abends war Martha nach der täglichen Arbeit an den See gegangen. Es war so zufrieden dort und sie hatte sich, das Tagewerk noch einmal überdenkend, auf die kleine Bank am Schilf gesetzt. Der Mond war schon im Abnehmen. Von dem jenseitigen Ufer sah man nur einen fahlen Hauch. Über den See kam ein Licht. Es war der etwas trübe Schein einer Bootslaterne, die hinter sich die dunklen Umrisse von Mast und Bootswand herzog.

Früher fuhr man oft zu später Stunde auf den See. Man hatte ein Kienfeuerlicht an Bord angezündet, das die Fische heranlockte, so daß sie in dichtem Schwarm vom schwarzen Grund emporstiegen in die Helle. Mit einer langen Gabelstange stachen die Fischer dann nach den Lichtseligen. Sie zogen die Durchbohrten heraus und warfen die zappelnd Verendenden in die hölzernen Bütten. Diese Art des Fischfanges nannte man das Blusen. Später wurde verboten, den Fischen so nachzustellen, und man legte eine hohe Strafe darauf. Doch kam es hin und wieder noch vor, daß Fischer es heimlicherweise taten. Einmal soll an einem stillen Freitag ein Fischer auf dem Dranshoper See geblüst haben. Von diesem nächtlichen Fang ist er nicht zurückgekommen. Man erzählt, daß er zu ewiger Fahrt auf dem See verwunschen wäre, und daß ihn das Licht des Kienfeuers im Laufe der langen Nächte geblendet hätte. Oft soll, so sagt man, der blinde Blüsner zu sehen sein, wenn der Mond zur Sichel sich rückwandelt.

Das Boot, das Martha jetzt mit leisem Ruderschlag sich nähern hörte, schien wie aus einer Schattenwelt heranzuschweben. Es zog nun dicht am Schilf entlang und bekam erst, als es sich nahe vor Martha aus dem Dunkel löste, feste Gestalt. Sie sah, daß der Rudernde Rode Harms war. Verwundert über seine späte Bootsfahrt rief sie ihn an. Er antwortete überrascht, denn er hatte sie zu so später Stunde nicht am See erwartet. Er legte an und stieg aus dem Boot.

Martha lachte: »Beinahe hätte ich geglaubt, du wärst einer, der sich heimlich an die Reusen macht. Wer kann auch annehmen, daß Rode Harms spazieren fährt, wenn man in Börshoop schon schläft.«

»Ich sehe nicht, daß du im Bett liegst«, antwortete Rode Harms heiter.

»Nach der Arbeit ist es gut, sich ein Stündchen zu besinnen, so hab ichs immer gehalten«, sagte Martha.

»Du hast recht«, antwortete Rode Harms, »tagsüber kommt einem manches in den Sinn, was bedacht sein will. Ich nehm auch gern den Abend dazu. Am Tag ist immer irgendwas, das einen in Atem hält.«

»Auch am Abend gibts noch genug zu tun. Ich hab eben erst die Abrechnungen beiseite gelegt«, warf Martha ein.

»Es wär dir schon zu wünschen, wenn dus ein bißchen leichter hättest«, meinte Rode Harms.

Martha schüttelte den Kopf:

»Ich bins zufrieden. Man soll mir nicht nachreden, daß ich der Arbeit wegen murre. Besitz ist ein Geschenk des Himmels. Ich wills meinem Kind gut verwahrt in die Hände geben.«

»Du kannst glücklich sein, denn du weißt nun, für wen«, sagte Rode Harms. »Ich würde mir keine stille Minute gönnen, wenn ein Kind da wäre.«

Sie schwiegen eine Weile. Martha hatte sich wieder auf die Bank gesetzt und Rode Harms lehnte am Bootsrand.

»Es ist mir viel nachgegangen all die Zeit«, sagte er langsam und verstummte wieder. »Da hab ich dich nun heute abend getroffen. Es ist ein guter Zufall«, begann er von neuem.

Seine Worte zögerten sich hin.

»Ich wollte schon immer einmal mit dir reden. Ich wäre sowieso gekommen. Nun hab ich dich also getroffen. Du mußt mich in Ruhe anhören.«

Martha fühlte eine Unruhe. Sie sagte scheu:

»Es ist schon spät. Der Kleine könnte aufgewacht sein.«

»Bleib sitzen«, bat Rode Harms. »Ich will mich kurz fassen, aber es muß gesagt sein.«

»Du tust grad, als sollt ich dir helfen«, versuchte Martha zu lächeln.

»Darum wollte ich dich auch bitten«, antwortete Rode Harms.

Er hatte sich aufgerichtet, aber er blieb am Boot stehen, so daß zwischen ihm und Martha ein breiter Schritt lag, ein Schritt Dunkelheit. Dieses Dunkel hing zwischen ihnen wie ein Netz. Ihre Blicke suchten dies graue Gewebe zu durchdringen, aber sie verloren sich in dem feinmaschigen, Gespinst der Finsternis.

Auch die Worte, die nun zu Martha herüberklangen, schienen es schwer zu haben, sich aus dieser Dunkelheit zu entwirren. Es waren Worte, in denen ein langer Weg nachzitterte, Worte, die mühsam anstiegen, dann aber, als glaubten sie den rechten Pfad gefunden zu haben, fester einhergingen und behutsam um Einlaß baten.

Martha senkte den Kopf. Sie ließ diese Worte auf sich zukommen. Sie wagte nicht, sie zu zerbrechen.

»So mag es denn heut abend sein,« hatte Rode Harms gesagt. »Es wird mir schwer, dir das alles zu sagen. Du weißt, ich bin kein gelenker Mensch. Es ist nicht seit gestern, daß ichs mit mir herumtrage. Das hat schon seine Zeit gereift. Ich weiß nicht, ob du dich des Herbstabends entsinnst, als ich bei dir saß und wir zum ersten Male über Börshoop sprachen. Du hattest dein Wirtschaftsbuch vor dir, und ich wollte dich nicht in deiner Arbeit stören. Da hab ich mich in deinem Zimmer umgesehen. Ich bin nicht oft zu Haus gewesen, Martha, es waren wohl immer fremde Wände. Auch hab ich eigentlich noch nie das gehabt, was man einen warmen Herd nennt. Nun ist mir deine Stube nicht wieder in Vergessenheit geraten. Ich hab sie oft in Gedanken gehabt. Darin müßte es sich gut zu Haus sein lassen, das hab ich oft gedacht. Du mußt nicht glauben, daß es solche Äußerlichkeiten sind. Das alles ist nur wie eine Tür, durch die wir ins Haus gehen. Ich sah dich oft bei deiner Arbeit. Wir haben manches zusammen bedacht und gesprochen. Wenn es eine Frau gibt, die mir in allem zur Seite stehen könnte, so kann es nur eine Frau sein wie du. Doch auch das ist es nicht allein, was mich zu dir kommen läßt. Nicht dein Verstand und nicht deine Arbeitsfreude, nein, Martha, es ist noch ein anderes. Wenn ich ein junger Mensch wäre, würde es mir leicht sein, von solchen Dingen zu reden, aber wenn man älter wird und weiß, was Worte, die man früher leichthin gesagt hat, in sich bergen, dann geht man schwerblütiger mit ihnen um. Auch du bist ein herber Mensch und wenn ich dir jetzt dieses oder jenes sagen würde, möchte es leicht geschehen, daß du dich gegen wehrst. Darum will ich dich nur fragen, ob du meine Frau werden könntest.«

Martha saß reglos im Dunkeln. Sie sagte kein Wort.

»Du wirst an den anderen denken, der von dir gegangen ist«, fuhr Rode Harms fort. »Er hat dir zwei Kinder hinterlassen, und ich würde sie halten wie meine eigenen. Darüber darfst du ohne Sorge sein. Du sollst jetzt auch nicht an die Frau denken, die scheinbar noch zwischen uns steht. Ich weiß, daß Vrena sich leicht trennen würde. Sie wäre wohl froh, wenn es schon geschehen wäre. Das dauerte nur seine kurze Zeit. Ich denke wohl, daß man das neue Jahr mit einem neuen Leben beginnen könnte. Es mag sein, daß meine Frage dich überrascht und verwirrt. Du brauchst mir nichts in dieser Stunde zu sagen. Besprich dich mit deinem Herzen, doch bedenk dabei, daß zwei Schultern mehr tragen als eine. Der Tote, der dich zurückgelassen hat, wird einen ruhigeren Schlaf haben, wenn er weiß, daß du nicht allein stehst. Wir sind zeitlebens Freunde gewesen, Pudmar und ich. So kann er wohl über das Grab hinaus Vertrauen zu mir haben.«

Rode Harms schwieg. Er horchte zu Martha hin. Sie hatte sich von der Bank erhoben und trat auf ihn zu. Er fühlte ihre Hand. Martha sagte:

»Du hast mich erschreckt, als du begannst, aber nun, wo ich dich angehört habe, kann ich dir doch schon antworten. Du sagst, überprüf es, aber ich weiß, daß es nur eine Entscheidung gibt. Du hast von Pudmar gesprochen. Wir haben zehn Jahre zusammen gelebt, ich will dir auch sagen, daß diese Ehe nicht immer leicht für mich war, und ich könnte mir schon ein freundlicheres Leben wünschen. Aber aus Pudmars letzter Stunde weiß ich, daß er bei seinem Weggang in Liebe an mich gedacht hat. Nun hat er mir nach seinem Hinscheiden auch einen Sohn in Obhut gegeben. Um diesen Sohn habe ich ihn gebeten. Es war seine letzte Liebe zu mir. Darum will ich ihm über seinen Tod hinaus eine treue Frau sein. Du bist mir immer vertraut gewesen. So wird es mir auch schwer, dich zu kränken. Laß, was jetzt gesprochen wurde, zwischen uns ungesagt sein. Das wäre das Beste.«

Der Schritt zwischen beiden wird breiter. Martha geht langsam ins Haus. Es ist für kurze Zeit ein Licht am Fenster. Über den Hof hin weht sein Schein. Der blasse Schein geht aus. Das Licht ist erloschen. In dem Fischkasten am Rande des Sees dumpf schlagen die gefangenen Fische.

 


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