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Zwischen Meer und See auf schmaler Landenge liegt das Fischerdorf Börshoop.

Wild haben sich die Dünen in das Land gewühlt. Unersättlich ist der Sand. Er frißt die kargen Feldstreifen und schiebt sich lauernd vor gegen die niedrigen Häuser, deren Wände sich unter dem Schilf und Rohr der tiefherabhängenden Dächer ducken. Eine Herde grimmiger Eber, die jäh vorbrechen will, das sind die Dünen von Börshoop.

Welcher Strand ist so einsam wie dieser. Grauer Möwenruf ist über den Wellen, und auf den Sandbergen hebt sich das krächzende Schreien der Krähen.

Auf kahlem Schiff, so erzählt man, wären einst die Menschen hierher gekommen. Verirrte waren es oder Flüchtlinge. Menschen mit hartem Schicksal wie dieses Land. Zähen Willens sind sie geblieben, haben Boote gebaut und die Netze geworfen. Düne und Meer, das war ihre Heimat, denn der Reichtum des Sees und die Fruchtbarkeit der Wiesen und Felder an seinem Rande wurde ihnen von Mächtigeren streitig gemacht, und erst nach vielen Jahren, als die Zeiten milder wurden, gestand man auch ihnen die Gerechtigkeit am See zu. Reiche Jahrzehnte kamen. Voll hingen die Netze von den Fischen des Sees. Freundlichere Häuser wuchsen empor. Kühe hatte man jetzt, und einige Pferde standen in den Koppeln. Auf den Feldern zum See hin war Saat und Ernte, und die Fischer, bisher nur zu Netz und Segel geschickt und zu dem Drehen des Windbocks, wenn die Boote auf den Strand gewunden wurden, waren nun der beiden segnenden Gebärden der Menschen des Landes teilhaftig geworden: des weiten Wurfes der Hand, wenn sie das Korn ausstreut, und des tiefen Schwunges der Arme, wenn sie die Halme im Sensenschnitt niederlegen, damit aus den reifen Körnern die braune Fülle des Brotes werde. Groß über das Ackerland ging die irdische Dreiheit: der Mensch, das Pferd und der Pflug.

Doch das alles blieb nur wenigen vorbehalten, die Verstand hatten, über den Rand des Bootes hinwegzusehen und rasch genug waren, die Grenzen abzustecken.

Eigentlich sind es nur drei Geschlechter gewesen, die alles einheimsten. Sterenbrink hießen sie, Pudmar und Mürk.

Die Sterenbrinks wissen zu heiraten, sagte man rundum. Große Herren waren sie geworden. Ihre Felder reichten bis zu den stolzen Gehöften von Bögerlant auf dem jenseitigen Ufer des Sees. Wenn sie in die alte Stadt Dranshop fuhren, traten sie reich und trotzig auf wie der Adel des Landes. Kriegsdienste nahmen sie, errangen Ehre und Auszeichnung und kamen weit in der Welt umher. Putzige Dinge brachten sie von ihren Fahrten nach Börshoop zurück. Krumme Heidensäbel, bunte Teppiche, Ketten und goldene Münzen. Sie stifteten der Kirche schwere messingene Leuchter und Altardecken, Holzschnitzereien und heilige Bilder. Ihre Grabmäler hatten sie an der steinernen Wand. Hohe Chorstühle stellten sie für sich und ihre Enkel auf. Man nannte sie die Herren von Börshoop, und die Pfarrherren von Bögerlant haben sich allzeit zu ihnen gehalten. Das waren die Sterenbrinks.

Aber die mächtigen Eichen zersplittern und die stolzen Geschlechter vergehen. Nun sind nur noch drei Schwestern da, die diesen Namen tragen. Karla, Syrrha und Vrena. Sie haben ihren Besitz einem Fremden in Pacht gegeben und wohnen in dem Hohen Haus, das ihr Vater sich auf der Rowen Düne bei Börshoop errichten ließ, dort wo der erste Sterenbrink seine armselige Fischerhütte hatte.

Vielerlei Gerede ist über die Schwestern im Umlauf. Unmutig sieht man ihnen nach, wenn sie zu den Festen nach Dranshop fahren. Sie werden das Letzte vertun, sagt man, und man wartet auf die Zeit, wo sie zu Fuß gehen werden. Sie werden das Schicksal der Mürk haben, die schon längst mit ihrem Reichtum fertig sind.

Jöken Mürk, der Alte, sitzt wieder vor kleinem Haus, flickt Netze oder hütet die magere Kuh auf dem Wiesenrain. Er weiß kaum noch, daß seine Vorfahren sich breit machten, herrschsüchtig waren und oft in Unfrieden mit den Sterenbrinks lebten. Das ist viel zu lange her, um es noch an den Fingern herzählen zu können. So schweigt man über das Wenige und vergißt es ganz.

Sein Sohn hatte es in der Armut nicht ausgehalten und war mit Frau und Kindern nach Dranshop gezogen, um dort einen Handel anzufangen. Aber er trug die Schwindsucht in sich und starb über allen Plänen und Hoffnungen. Seine Frau kam mit den Kindern zu Jöken Mürk zurück, einer Tochter, die Wine heißt, und einem Sohn, dem man den Namen Jan gegeben hat. Einige Jahre hat die Frau in Börshoop noch gelebt, aber der Kummer zehrte an ihr und das Herzeleid, und eines Tages mußte Jöken Mürk die Todkranke über den See nach Dranshop rudern, denn sie wollte in der Stadt sterben, wo auch ihr Mann begraben lag. Jan und Wine blieben bei dem Alten und sie fristeten zu dritt mühsam das Leben. So haben die letzten Mürk viel Tränen erfahren, weil das Schicksal alles Schwere für sie aufgespart hatte, das die Vorfahren nicht zu erdulden brauchten.

Nur die Pudmars haben sich durch alle Zeit gehalten. Zwar geht es nicht mehr so wohlhabend und behäbig wie in früheren Tagen, als sie noch in langem Rock, engen Hosen und hohen Schaftstiefeln einherschritten und sonntags breit auf der ersten Bank vor der Kanzel saßen. Aber da sie ihrem Pflug und ihrem Boot treu blieben und nie ehrgeizige Pläne hatten wie die Sterenbrinks oder die Mürks, so hielten sie ihr Gut zusammen und ihr Name hatte noch immer seinen guten Klang.

Jürgen Pudmar konnte zufrieden sein mit dem, was sein Vater ihm hinterlassen hatte.

Doch das Schicksal gibt nichts umsonst, und von den Pudmars hieß es, daß sie alle fünfzig Jahre dem See ein Opfer bringen müßten.

Als Jürgen Pudmar die Tochter eines der reichsten Bauern von Bögerlant heimführte, gab es eine Hochzeit, wie man sie seit Menschengedenken nicht gefeiert hatte. Marie Hingsten war schön, und sie fand sich willig mit dem kleineren Hof und Haushalt der Pudmars ab, denn sie liebte Jürgen und wünschte nichts dringlicher, als ihm eine gute Frau zu sein.

So wäre wohl alles gut und voll Glück gewesen, aber das Schicksal der Pudmars war unerbittlich, und noch ehe Marie ihr erstes Kind zur Welt bringen konnte, ertrank sie in einem Sturm, der jäh über dem See aufbrach.

Monatelang ging Jürgen wie ein Toter einher. Vielleicht wäre damals alles zugrunde gegangen, wenn nicht Maries Vater, Christof Hingsten, der seinen Hof schon dem Sohne überschrieben hatte, zu Jürgen gezogen wäre und sich der Wirtschaft angenommen hätte. Da er sich das Herrschen nicht abgewöhnen konnte, war er mit dem Sohn in Unfrieden gekommen, und der Junge war nun froh, daß er den Alten auf diese Weise los wurde. Christof Hingsten hatte bald das Regiment auf dem Pudmarschen Hofe, und Jürgen ließ ihn gewähren, denn der Schmerz um Maries Tod war noch nicht von ihm gewichen. Der Alte sah bald ein, daß eine Frau fehlte, die das Hauswesen zusammenhielt und so setzte er Jürgen zu, wieder zu heiraten. Aber da er nicht wollte, daß eine Frau auf den Hof käme, die seiner Tochter ebenbürtig wäre und ihn womöglich beiseite drängen würde, suchte er unter den Fischertöchtern ein tüchtiges Mädchen aus, das ohne Ansprüche als Frau auf dem Hofe dienen würde. Jürgen Pudmar willigte schweren Herzens und nur in der Hoffnung auf einen Erben endlich ein und heiratete nach Verlauf dreier Jahre Martha Deep, die Tochter der Mole Deep, die ein kleines Fischerhaus besaß und einen Räucherofen in den Dünen hatte, dessen Ertrag sie nach Dranshop auf den Markt schickte. Ihr Mann war vor Jahren auf dem Meere beim Fischfang umgekommen, und Mole Deep hatte ein hartes Leben. Da sie für ihre Tochter ein besseres erhoffte, so redete sie ihr zu dieser Heirat zu. Sie sah bald ein, daß Martha es in ihrer Ehe nicht leicht hatte, aber nun war es zu spät und man mußte den Himmel bitten, es einmal besser werden zu lassen. Sie selbst kam nur noch selten auf den Hof, nachdem sie sich mit Christof Hingsten seiner Eigenmächtigkeiten wegen erzürnt hatte, und auch ihre jüngere Tochter Hilke, die bei den Schwestern Sterenbrink diente, sprach nur hin und wieder bei Martha mit vor. Ihr Bruder, Peter Deep, aber kam nie. Er war unwillig über diese Heirat, denn er trug von seinen Vätern her die Armut und Rechtlosigkeit der Strandfischer im Blut, die dem Aufstieg und Wohlergehen der Seefischer, zu denen die Pudmars gehörten, feind waren. Viele im Dorfe neideten Martha Deep das Glück, nun auf dem angesehenen Hofe zu sitzen, aber sie taten unrecht daran, denn Martha war nicht glücklich und litt unter dem Gedächtnis, das Jürgen und der alte Christof der toten Marie bewahrten. Auch brachte sie statt des erhofften Sohnes eine Tochter zur Welt, und Jürgen Pudmar, der sie in den Monaten ihrer Schwangerschaft freundlich und fürsorglich behandelt hatte, wurde wieder fremd und zurückhaltend wie in der ersten Zeit ihrer Ehe.

So war viel herbes Leid und kalte Unlust auf dem Hofe der Pudmar und Christof Hingsten tat in seiner herrischen Art das Seinige hinzu, um eine Annäherung zwischen Martha und Jürgen zu erschweren, denn für ihn war noch immer die tote Marie die rechtmäßige Herrin, Martha jedoch nur die dienende Magd, die es als Glück zu empfinden hatte, den Namen tragen zu dürfen, der seiner Tochter bestimmt gewesen war.

Zu jener Zeit kam Rode Harms zurück. Er war lange Jahre auf See gefahren, hatte viele Länder gesehen und es in der Fremde zu Geld gebracht.

Von den Harms ist nicht viel zu erzählen. Der Großvater Robert Harms hatte noch im Hafen von Dranshop gearbeitet und als er auf die Vierzig ging, heiratete er eine Witwe, die einige Ersparnisse besaß. Mit dieser Frau kam er eines Tages über den See nach Börshoop und baute, fast außerhalb des Dorfes schon, sein kleines Haus. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Fischer zu werden, aber das erheiratete Geld reichte nicht aus, sich Rechte an dem See zu erwerben und so täglich eine reiche Beute edler Fische ohne Gefahren heimzubringen. Er mußte ein armer Strandfischer werden wie Per Stieven oder Christian Deep, konnte seine Netze nur auf dem Meere auswerfen und mußte sich mit den Fischen begnügen, die dicht an die Küste kamen, denn sein Boot war nicht seetüchtig genug, um weit hinauszufahren. Aber er hatte sein Handwerk lieb und vererbte diese Liebe auf seinen Sohn, Rudolf Harms, den man wegen seiner Gradheit und ehrlichen Gesinnung in Börshoop schätzte, obgleich sein Vater erst zugewandert war.

Rudolf Harms wünschte nichts mehr, als daß auch sein Sohn Rode Harms sich einmal mit diesem Erbe begnügen möge, aber Rode war immer ein hochfahrender Bursche gewesen, der sich große Dinge in den Kopf setzte und in dessen Gedanken viel zu sehr das bunte Leben der großen Stadt Dranshop rumorte, von dem sein Großvater noch viel zu erzählen wußte.

So hatte Rode Harms von kindauf eine Sehnsucht nach fremden Städten und den Ehrgeiz, aus der Enge des kleinen Fischerhauses herauszukommen.

Rudolf Harms erkannte mit Betrübnis diese Wünsche seines Sohnes, die über das Maß seiner Vorstellung hinausgingen.

Eines Tages kam es zu der Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn.

Was sich zu allen Zeiten hart und gewaltsam abspielte, was bei den Großen und Mächtigen oft mit Krieg und Gericht endete, bei den Bescheidengeborenen mit lebenslanger Entfremdung, Tränen und Verwirrung ausgeht, dieser dunkle Bruch zwischen dem Alten und dem Jungen brach auch in das stille Haus der Harms wie eine Hölle. Die Mutter stand in schweigendem Jammer dabei, schlug die Schürze vor die Augen, um ihr Weinen nicht hilflos hinausströmen zu lassen. Alle ihre guten Worte waren lange verbraucht. Stumm war ihr Mund nun geworden und der Schmerz saß tief um die Lippen. Sie zitterte um den Sohn, der sich mit Bitten, Vorhaltungen und schließlich mit Vorwürfen gegen den Vater erhob, und sie zitterte um den Mann, der diesem Sohn wie eine verschlossene Wand gegenüber stand, junges aufschäumendes Verlangen nicht begriff und grübelnd über dieses ihm fremde Begehren sein einfältiges Denken nicht mehr in Gleichklang bringen konnte mit einem unabänderlichen Geschehen.

Rudolf Harms hatte in Jahren harter Arbeit, Gefahren und Entbehrungen seine kleine Welt aufgebaut, und nun stand sein Sohn vor ihm, stark und trotzig, die Hände geballt in der Tasche und schrie: »Ich spuck drauf!«

»Raus!« brüllte der Alte. Seine Faust zitterte, seine Füße, schon zum Sprung bereit, versagten. Er wankte und fiel auf den Stuhl. Die Frau lief hinzu und beugte sich über ihn. Unter ihrem Herzen ging der schwere Atem des Mannes.

In dieser Sekunde, da sie den Sohn verlor und den Mann wie ein todkrankes Kind in ihren Armen barg, wurde diese einfache ängstliche Frau emporgehoben aus dem kleinen Kreis ihrer Wirksamkeit. Sie wuchs zu einer der großen Dulderinnen, die keine Tränen mehr haben, sondern ihren Schmerz wie einen warmen schützenden Mantel über das stählerne Gleichmaß der Tage breiten.

Rode Harms hatte die Türe hinter sich zugeschlagen.

Die Frau erwähnte ihn mit keinem Wort mehr, aber sie betete für ihn, und alle Guttaten, mit denen sie jetzt den Mann umgab, waren wie das Abtragen einer Schuld, die sie für das Kind, das sie geboren hatte, auf sich nahm.

Sie sagte nichts dagegen, als Rudolf Harms eines Tages das Boot verkaufte und sein Leben mit kleinen Arbeiten hinzubringen begann. Sie sorgte dafür, daß das Essen da war, half hier und dort bei den Fischern, lief mit der Trage an den Strand, wenn sie vom Fange heimkehrten, schleppte mühsam die Lasten der Gerätschaften, pflanzte, hackte und jätete auf fremden Feldern gegen geringen Lohn, wusch und besorgte fremde Kinder, flickte fremde Netze und nähte an fremden Kleidern.

Rudolf Harms baute sich aus den Planken eines alten Bootes, das schon jahrelang morsch am See lag, einen Schuppen und in diesem halben Boot, an dessen Holz noch Tang und vertrocknete Wassergräser hingen, saß er stundenlang untätig, sah in das Land und sah nach Dranshop hinüber. Er ging nie wieder an den Strand. Das Meer war für ihn fortgeflossen in eine Welt, mit der er nichts mehr zu tun hatte.

Die Frau überlebte ihn um eine kurze Zeit. Sie begnügte sich mit einer Stube und vermietete die andere an Kiek Möns, eine alte Frau, die vielerlei Wissen hatte, wie man es aus dem Umgang mit der Natur und den Schicksalen eines langen Lebens erfährt. Kiek Möns kaufte später das Haus für eine kleine Summe, die sie Pfennig auf Pfennig durch viele Jahre sich abgekargt hatte, denn Frau Harms wurde leidend und kam in große Not.

Als es mit ihr zu Ende ging, hinterlegte sie bei dem Pastor von Bögerlant den Rest des Geldes, den Krankheit und Begräbnis übriglassen würden, für ihren Sohn Rode, damit er ein Gedenken vorfände, wenn er zurückkäme.

Aber Rode Harms blieb noch lange Jahre in den fremden Ländern, von denen er als Kind geträumt hatte, die er als Jüngling sich ertrotzte, und als Mann mit zähem Willen zwang, auch ihn teilhaftig werden zu lassen an ihren Schätzen.

Nun war er zurückgekommen nach Börshoop, um hier nach Fahrten, Irrungen und Erkenntnissen mit dem Gelde, das er draußen erworben hatte, seinem Leben einen festen Grund zu geben. Vielleicht hatte er sich oft ausgemalt, was sein Vater sagen würde, wenn er mit vollen Taschen einmal heimkehrte, welchen Stolz und welche Bewunderung für ihn die Mutter aufbringen möchte, wie man überhaupt in Börshoop Rode Harms wie einen großen Sohn empfangen würde. Diese Träume waren lange schon abgetan. Man steht eines Tages sinnend da und sagt einfach: »Ich werde einmal nach Hause fahren« – und man gibt keine großen Erwartungen darein, sondern nur die Sehnsucht, wieder über die Schwelle zu schreiten, auf der man als Kind spielte und an der man sich später auf Schritt und Tritt zu stoßen vermeinte. Man will liebe alte Hände noch einmal halten, sich über vertraute greise Gesichter beugen, und die Münder sollen nichts weiter sagen als: Da bist du.

So mag es auch Rode Harms gegangen sein, als er mit vierzig Jahren heimfuhr. In Dranshop erzählte man ihm von dem Tod seiner Eltern und in Bögerlant nahm er die kleine Erbschaft in Empfang, dieses letzte Zeichen einer besorgten Mutter.

Dann eines Abends klopfte er an das Haus, in welchem nun Kiek Möns wohnte.

Er hatte vergessen, daß man in Börshoop die Häuser offen hält, und daß er nur die Türe aufzuklinken brauchte. So wartete er, daß ihm jemand auftäte.

Dreimal mußte er gegen die Türe schlagen, dann erst öffnete Kiek Möns, noch verwundert über das Klopfen. Als sie den Städtischgekleideten sah, wischte sie die Hände an der Schürze ab und knickste unbeholfen. Der Mann griff nur an den Hut und trat an Kiek Möns vorbei in das Haus. Er sagte kein Wort, so erregt war er in seinem Herzen. Die Alte murmelte: »Dich sollte ich doch kennen.«

Rode Harms, schon am Herd in der Diele, wandte sich um: »Ja, Kiek Möns, ich bin es.«

»Rode Harms«, sagte sie ein paarmal leise hintereinander. Sie plapperte den Namen noch vor sich her, als sie die Stubentür nun vor dem Heimkehrenden weit aufmachte.

Rode Harms nahm den Hut ab und trat in die Stube. Er sah auf alle Dinge, aber er kannte weder Tisch noch Bett, weder Stuhl noch den Sessel am Fenster. Auch der fromme Spruch an der Wand und die Uhr waren ihm fremd.

Nur der Spiegel erschien ihm bekannt. Er betrachtete ihn genauer, das halbblinde Glas und den abblätternden Goldrahmen, ausgebuchtet und mit aufgesetztem Schnörkel am oberen Rande. Das war der Spiegel, den sein Vater nach einem guten Fang einmal aus Dranshop mitgebracht hatte.

Nur der Spiegel noch – , alles andere in der Stube stammte aus Kiek Möns' Hausrat. Rode Harms sah in das blinde Glas und er sah einen ernsten Mann darin, dessen Lippen zuckten, obgleich sie fest aufeinander gepreßt waren, und dessen Augen langsam verschwammen. Auf einmal fühlte er, daß sein Blick blinder war als das Glas. Er strich mit Daumen und Zeigefinger hastig über seine Augen, legte die Hände dann zusammen wie ein einfältiges Kind und sagte nichts als: »Ja«.

Niemand hatte eine Frage an ihn gerichtet, aber er antwortete, als wäre da eine Stimme gewesen, so wie einst: »Komm rein, es ist schon spät!«

»Nimm Platz, Rode Harms«, bat jetzt Kiek Möns.

Sie schob ihm den Sessel an den Tisch und wartete, daß er sich setzte. Aber er blieb noch eine Weile stehen, starrte auf die alten Wände, darüber nun ein anderes Leben lag, starrte auf die Holzdielen, die nun unter anderen Schritten knarrten, und starrte zu dem Fenster hinaus, davor es Abend war. Die aufgehängten Fischernetze, näher zum Ufer hin, hingen wie ein grauer Schleier zwischen trockenen Weidenstämmen und dem wie Zelte aufgeschichteten Rohr.

Kiek Möns war in die Diele gegangen und holte aus dem Schrank Milch, Brot und etwas Butter. Sie stellte alles auf den Tisch.

»Es ist nicht viel, Rode Harms. Aber du sollst willkommen sein!« sagte sie.

Da setzte er sich, aß und trank.

»Nun bist du also da«, begann Kiek Möns, als Rode Harms die leere Schüssel beiseite schob.

»Zweiundzwanzig Jahre fort«, sagte er wie zu sich.

»Du mußt lauter sprechen, Rode Harms. Wenn man in meinen Jahren ist, summt einem soviel Altes im Ohr, daß das Neue nur schwer noch eindringt.«

Sie fuhr mit der Schürze über die Holzplatte des Tisches, denn es lagen ein paar Brotkrumen da, um die Fliegen summten.

»Zweiundzwanzig Jahre war ich draußen«, sagte Rode Harms jetzt laut, »es hat sich viel geändert.«

»Der Mensch kommt und geht, wir können nichts dagegen tun, Rode Harms.« Ihre Stimme zerbrach in einem rauhen Hüsteln. Dann schwiegen sie wieder.

Er hätte wohl gern nach seinen Eltern gefragt und wie sie gestorben wären, aber er fürchtete sich vor dieser Frage.

Kiek Möns sah ihn an und sagte: »Sie haben bei ihrem Sterben nicht mehr aushalten müssen als andere auch. Darüber darfst du ruhig sein. Auch das ist Gottes Lohn, wenn über Not und Kummer die graue Frau das Licht ausdrückt, und die Ewigkeit beginnt. Du bist noch mitten im Leben, Rode Harms, aber wenn einem wie mir das Schwelen schon in den Augen beißt, dann hat man nichts dawider, daß das Licht zu Ende geht. So ist das nun einmal und es ist wohl auch gut so.«

»Ich wäre wohl früher gekommen«, sagte Rode Harms, »aber man will gern was vor sich bringen, ehe man die Türe wieder aufmacht, aus der man hinausgewiesen wurde. Das ist ein schwerer Stachel, Kiek Möns. Ich habe oft gedacht, warum wohl die Mutter nichts abwenden konnte. Im Anfang hat sie zwar oft zum Guten geredet. Auch zum Vater für mich. Das muß man ihr lassen. Aber später hat sie immer nur für den Alten gesprochen. – Sei doch vernünftig, Junge, das war alles, was sie für mich hatte. Und noch später hat sie kein Wort mehr gehabt. Auch nicht, als der Alte mir die Tür wies. Da drüben auf dem Weg habe ich gestanden und gewartet, daß sie käme und mir ein paar Worte sagen möchte. Aber sie kam nicht. Da bin ich gegangen. Ganz weg. Wußte man denn, zu wem man hier sollte. Ich bin kein weiches Holz, das sich biegt. Nein, das bin ich nicht und keiner kann aus seiner Haut.«

Er legte die Hände hart auf den Tisch.

Kiek Möns beugte sich vor: »Bist du bloß gekommen, das Alte aufzurühren?«

Er saß unbeweglich.

»In dieser Stube ist sie gestorben«, fügte sie leise hinzu, »da drüben stand das Bett, das weißt du wohl noch.«

»Du hast recht, Kiek Möns, lassen wir das ruhen.« Rode Harms erhob sich. »Man muß allein seinen Weg gehen, zum Guten oder zum Schlechten. Das alles ist nun so und nicht anders. Du hast schon recht. Ich will nun in Börshoop bleiben. Aber darüber können wir morgen noch reden. Wenn du einen Platz für mich im Hause hast, dann wäre es für heute gut.«

»Du kannst drüben in der Stube schlafen, Rode Harms.«

Kiek Möns wollte alles herrichten, aber er hielt sie zurück.

»Ich habe meine Sachen noch in Bögerlant«, sagte er, »morgen will ich das alles holen. Ich wollte auch bloß bis zum See gehen und erst morgen kommen. Aber dann hat es mich weiter getrieben. Nun ist man also da. Brauchst keine Umstände mit mir zu machen, Kiek Möns. Eine Bank genügt, auf der man sich ein bißchen ausstrecken kann. Ich habe oft hart geschlafen in den Jahren.«

»Ein Bett ist noch da. Sollst es schon bequem haben.« Sie nahm die Lampe und ging hinaus.

Er blieb in der Diele vor dem Spind stehen und zeigte auf einen Teller. »Da hab ich als Kind von gegessen«, sagte er nachdenkend.

»Ja, der ist noch von deiner Mutter. Sie hat ihn immer apart gehalten. Das stimmt schon.«

In der Kammer nahm sie einen Schlüssel von der Wand. Sie gab ihn Rode Harms. »Der ist für die Truhe da. Die kennst du wohl auch noch?«

Es war eine rotpolierte wurmstichige Truhe. Sie stand neben dem Ofen und eine Decke war darüber gebreitet.

»Damit sie keinen Schaden nimmt«, sagte Kiek Möns, »und du sie so vorfindest, wie deine Mutter sie hinterließ. Ich habe sie nicht geöffnet. Das ist deine Truhe. Sie hat es so gewollt. Schlaf nun gut, Rode Harms, wo du wieder hier bist.«

Sie deckte das Bett auf und strich die Kissen glatt. Die Lampe hatte sie auf den Tisch gestellt. »Die kannst du hier behalten. Ich finde mich schon so zurecht, man geht ja lange genug durch das Haus.«

Sie sah noch nach, ob genug Öl auf der Lampe wäre. Dann ließ sie ihn allein.

Kiek Möns geht in ihre Stube zurück. Sie setzt sich auf den Stuhl, dem Sessel gegenüber, darauf Rode Harms gesessen hat. Sie hält die Hände unter ihrem schwarzen Tuch aufeinander gelegt. Sie sitzt still da. Dann nach einem Weilchen bewegen sich ihre Lippen. Sie sagt zu dem leeren Sessel hin:

»Du willst nun in Börshoop bleiben, Rode Harms. Möchte es dir nicht zu eng werden. Du bist einmal hinausgegangen aus dem Kleinen, aber es ist nichts größer geworden. Auch sagst du noch, das ist recht und das ist unrecht, und das Recht ist bei mir. Sowas mußt du nicht sagen, Rode Harms. Einer, der heimkehrt, soll die Türe segnen, die sich ihm auftut, er könnte sonst fremder werden, als er jemals war. Deine Mutter hat viel geweint um dich, Rode Harms, und deinem Vater ist es schwer angekommen. Er hat ein langes Sterben gehabt, weil da eine Dunkelheit war, durch die er sich nicht aus dem Leben finden konnte. Du hast nichts getan, ihm das leichter zu machen, Rode Harms. Das wollte ich dir noch sagen, damit du darüber nachdenkst der ewigen Seligkeit wegen und der Zeit, wo dein Fuß noch in dieser Irdischkeit wandelt. Du hast mir nicht die Hand geboten, als du kamst, Rode Harms, so hat es dich gezogen einzutreten. Aber willst du mir die Hand nicht bieten nun, damit dich nichts wieder hinauszieht. Ich bin alt und habe die Füße schon in der Erde. Das ist ein guter Anker vor Unrast.«

Während Kiek Möns so vor sich hin ins Leere hineinsprach, klopfte der alte Jöken Mürk an das Fenster, dahinter Licht war. Da aber niemand öffnete, kam er mit Gepolter in das Haus und stieß in der Dunkelheit gegen Kiek Möns, die erschrocken aufgefahren war.

»Du hast Besuch«, sagte Jöken Mürk verlegen, denn die Alte war ihm ärgerlich gekommen.

»Rode Harms ist da«, antwortete sie kurz.

»Stimmt. Also doch«, sagte er. »Dachte es schon. Ging da einer vorbei. Das ist doch Rode Harms, denke ich, wenn meine alten Augen mich nicht im Stich lassen. Ich hätte früher nachgefragt, aber wir mußten erst die Netze leermachen. Jan sitzt noch dabei und Wine. Viel Arbeit und nichts drin. War ein schlechter Fang, Kiek Möns. Schlimme Zeiten. Also der Rode Harms ist wieder da.«

Kiek Möns forderte ihn nicht auf, näherzutreten. Sie schwieg überhaupt.

Da bat er: »Hätte ihn gern gesehen. Hab ihn doch immer auf den Knien gehabt, als er kaum übers Boot kucken konnte.«

»Er schläft schon«, sagte Kiek Möns. – – – »Wo?« – – – »Drüben.« – – –

»Nein, da ist noch Licht. Darum habe ich ja geklopft. Dachte schon, daß noch wer im Hause auf ist. Nein nein, er schläft noch nicht.«

Die Alte antwortete nicht.

»Man könnte schon noch bei ihm vorsprechen, Kiek Möns. Ich hab ihn doch von Kindsbeinen gekannt. So klein war er damals. Aber nicht wegzukriegen von mir. Kannst es glauben. Den ganzen Tag ging das, Ohm Jöken hin, Ohm Jöken her. Ein Bengel war das! Mit fünf Jahren schon, wenn es hieß, ins Boot, dann er voran. Konnte kaum richtig auf den Beinen stehen und wollte schon mit den Reusen ins Wasser. Wenn ein Fisch zappelte, hättst es mal sehen sollen. Er hatte keine Angst. I bewahre. Der hätte sich vor keinem Hecht gefürchtet Und die Hunde, damit ging er um wie ein Großer. Sie parierten ihm aufs Wort. Der Harras damals, ein bissiger Köter, so ein Bulldogg, mir ist er mal an die Waden gefahren. Aber vor dem Knirps kuschte er. Bloß zu pfeifen brauchte Rode Harms. Und neugierig war er. Alles wollte er wissen. Man hatte das gar nicht alles im Kopf. – Wir sollten doch mal reingehen zu ihm, Kiek Möns. Er wird noch gern ein bißchen schwatzen. Paß mal auf, was er für Augen über mich macht. Was meinst du? Wollen wir oder nicht? Ich meine, wir machens. Das ist eine Überraschung für den Rode Harms. Da freut er sich. Sollst mal sehen. Ich müßte ihn doch nicht kennen.«

Ehe Kiek Möns noch groß was erwidern konnte, hatte Jöken Mürk die Tür zur Kammer aufgemacht und steckte den Kopf hinein.

»Liegst schon im Bett, Rode Harms? Rate mal, wer da noch kommt? Haha, das hättest du nicht gedacht, was? Der alte Ohm Jöken Mürk. Kaptän Mürk, wie der olle Andrees immer sagt. Da ist er, mein Junge.«

Er war mit diesen Worten in die Kammer getreten, aber Rode Harms war nicht da. Er lag auch nicht im Bett.

»Ja, wo ist er denn, Kiek Möns?«

Die Alte stand hinter Jöken. »Er war doch hier«, sagte sie betroffen und wandte sich nach allen Seiten. Die Truhe war zu, die Decke darüber gebreitet und der Schlüssel hing wieder an der Wand. Alles war so wie vorher. »Er war doch hier!« wiederholte sie noch einmal.

»Nun, er wird schon kommen. Wo soll er schon sein, wenn er hier war. Setz dich da hin, Kiek Möns.«

»Es hat ihn was aus dem Haus getrieben«, flüsterte Kiek Möns und stand ohne sich zu rühren.

Jöken Mürk hatte die Worte nicht gehört. Er saß breit auf dem Stuhl und schlug sich auf die Schenkel:

»Wenn er jetzt aber reinkommt, haha, kucken wird er. Das nenne ich Besuch, wos so spät ist.«

Kiek Möns setzte sich nun auch, aber sie sprach nicht. Jöken Mürk wurde immer gesprächiger. Alles was er von Rode Harms wußte, stellte er mit weitschweifigem Wort in die Stille der Stube. Allmählich jedoch wurden seine Worte schwerer und ungefüger. Bald konnte die Zunge sie nicht mehr tragen, schleppte daran und stolperte, denn die Müdigkeit saß dahinter, und das ist ein schlechter Kutscher.

Rode Harms kam nicht und die beiden Alten warteten und waren schon etwas in Schlaf und hatten schwer, ihre Köpfe grade zu halten, und ließen sie zur Seite fallen oder nach vorn, sie wie es sich grad schickte. Manchmal, zuerst, fuhren sie mit einem Ruck hoch, sahen sich an und nickten. Dann aber überließen sie sich dem Schlummer, gnurrten und bliesen den Atem, bis draußen plötzlich im Nachbarhause ein Hund anschlug, ziellos, so wie Hunde zuweilen aus der Nacht heraus bellen. Da schreckten sie hoch, starrten sich an und reckten sich schmerzhaft. Die Lampe brannte niedrig. Es ging auf Mitternacht.

Und Rode Harms war nicht gekommen.

»Da sind wir richtig eingeschlafen«, sagte Jöken Mürk verwundert und rieb sich die Knie. »Sollte mans glauben, ist sowas einem schon passiert?«

Sie erhoben sich schwerfällig. Der Schlaf saß in ihren alten Körpern und hatte ihre Gedanken so zugedeckt, daß es ihnen ganz aus dem Sinn war, weshalb sie mitternachts noch nicht in den Kissen lagen. »Sollte mans glauben?« brummelte Jöken Mürk noch immer und tastete sich durch die dunkle Diele. Er trat mit leisem Gestöhn ins Freie, denn seine Glieder waren noch nicht wieder wach. Der Schlaf hatte ihn ganz krumm werden lassen.

»Es ist kein Stern«, rief er Kiek Möns hinter der schon geschlossenen Türe zu. »Tatsächlich. Eine Finsternis ist das. Kein Stern.« Und er humpelte davon.

 


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