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Bei Drüsel in Bögerlant tanzt man und trinkt. Ostern ist, Frühling kommt, der Fisch ist da und das Meer.

»Platz!« ruft Drüsel. Er steigt auf einen Stuhl und zündet die große Lampe aus Messing an. Nun hängt sie wie ein warmer Mond über den Paaren. Die Musik darf kaum Atem holen, immer ist einer mitten im Saal, der sie anfeuert.

»Hast wohl den Baß beiseite gestellt, damit der Wurm was zu fressen hat«, lacht einer. Und der Mann mit der Baßgeige zwinkert und trinkt und wischt sich den Mund, und nimmt den Bogen. Er streicht über die dicken Saiten, als ob tausend Fliegen auf einmal summten. Vom Holz hallt es wider. Die Trompete reitet dazwischen und das verstimmte Klavier klingelt und klimpert.

Ostern ist, Frühling kommt, und das Meer ist da und der Fisch.

Ein junger Mensch stürzt in den Saal. Er stößt die Paare auseinander, er steht mitten dazwischen, er sagt atemlos:

»Zwei sind ertrunken!«

Ertrunken, klingt es zurück.

Zwei sind ertrunken.

Die Musik hört auf, der Tanz ist zu Ende. Es ist kein Ostern mehr, kein Frühling, kein Fisch ist da, nur das Meer.

Alle Fragen sind auf einmal. Aber der Junge weiß nichts. Er sagt nur: »Zwei.«

Irgendwer sagt Gülke, und ein anderer sagt Holwe, und einer nennt den, und ein anderer den.

Jetzt sind die Namen fort. Fenner ist da. Er ruft: »Stirn Kaat!« Aber Stim Kaat ist nicht da. Er hat eben noch getanzt. Mit Hede Lorm, wir habens gesehen!

»Stim Kaat«, rufen sie, doch da ist keine Antwort.

Und nun hört man Genaues. Peter Deep ist ertrunken. Jan Mürk ist ertrunken. Mole Deep schreit auf der Düne: Stim Kaat! Fenner hat es gehört; hat sich davongemacht und ist gelaufen und gelaufen. Er hat Stim Kaat gesehen, als der zum Tanz ging. Nun will er ihn holen, damit Mole Deep ihre Ruhe kriegt. Man weiß nicht, wie man ihr helfen soll. Sie wimmert und winselt, sie hört keinen Zuspruch. Stim Kaat soll ihr helfen.

Der Saal wird leer, die Jungen laufen nach Börshoop, Fischer und Mädchen und die Burschen aus Bögerlant. Viele laufen, alle.

Fenner steht allein vor Drüsel.

»Nur ein Ruder haben sie bis jetzt«, zittert es noch in seiner Stimme.

Dunkel sind die Wege zwischen den Uferweiden am See. Das Waldstück vor Bögerlant fängt den Sturm, der vom Meer kommt. Er zerrt wohl noch in den Ästen, rüttelt und stöhnt, aber er muß sich zufrieden geben. Die Höfe von Bögerlant bekommen selten den Sturm von der See. Weiterhin hört man kaum noch das Rauschen.

»Komm«, sagt Stim Kaat, »hier sieht man uns nicht.« Hede Lorm bittet:

»Wir wollen umkehren. Man vermißt uns und es gibt bloß Gerede.«

Stim Kaat drängt: »Laß sie schwatzen.«

Er nimmt ihren Arm. Er zieht sie weiter. Sie will sich ihm wehren. Sie wagt es nicht. Sie weiß, es war eine Feindschaft auf ewig.

Und ihr Blut ist ihm gut und es will sich nicht wehren.

Es klopft in den Pulsen, es drängt ihm entgegen.

Nun ist nur noch Atem. Sie fallt zu ihm hin.

Sie stürzen zusammen. Sie trinken sich leer.

Der Weg ist schmal. Sie gehn ihn zurück wie uralt Bekannte. Sie sprechen vom Fischfang, sie sprechen vom Meer.

Sie gehen durch den Garten, der Saal ist leer. Sie sehen sich an, betroffen. Stim Kaat scherzt verlegen: »Es ist doch noch heute?«

Sie stehen am Fenster und sehen hinein. Sie gehen nicht weiter. Sie sehen die Lampe trübe und blakend. Die Geige verstorben, vergähnt das Klavier.

»Bleib hier«, sagt Stim Kaat. Er geht in den Flur.

Drüsel fährt auf: »Fenner! Fenner!«

Der kommt von der Straße, er wollte schon fort.

»Hier ist er!« schreit Drüsel.

»Was ist los?« fragt Stim Kaat.

Er hört es von Fenner. Der Wirt stöhnt dazwischen. Stim Kaat schreit: »Ertrunken!« Er stürzt davon.

Hede Lorm läuft ihm nach. Die zwei laufen, stolpern, jagen die Straße entlang nach Börshoop. Sie denken nur eins: ›helfen!‹ Alles andere ist fort. Sie wollen nur eins: ›da sein, helfen, ins Boot.‹ – Hede Lorm wie Stim Kaat, das Geschlecht ist vergessen. Sie sind nur noch eins: Ein Wille. »Wir kommen!«

Den Steinweg, den Holzsteg. Der Sand. Der Strand!

»Zu spät!« ruft der Garnsherr. Er steht mit Per Stieven, mit Gülke und Holwe. Die anderen sind fort schon. Mole Deep liegt zu Hause. Andrees holt Hilke. Jöken Mürk sitzt am Ofen, er streichelt das Kissen. Er ruft manchmal: »Jan!«

Stim Kaat springt zum Boot. Hede Lorm löst das Tau. Sie wollen es schieben. Schon faßt es die See. Stim Kaat will hinein. Die vier packen die Planke, sie klammern sich fest, sie halten das Boot.

»Nimm Vernunft an, Stim Kaat«, schreit Holwe. Per Stieven faßt ihn am Arm. Stim Kaat reißt sich los. Er hat schon das Ruder. Gülke wills greifen, es stößt ihn zurück.

»Du bleibst hier«, befiehlt Tharden, »die See ist noch laut und die sind längst hin.« Er nimmt das Ruder, Stim Kaat gibt es zögernd, er hört auf den Garnsherrn.

Langsam steigt er aus dem Boot. Er geht mit Per Stieven nach Haus.

Hede Lorm steht allein.

»Ist es dir leid um Jan?« fragt Holwe freundlich. Sie antwortet nicht.

Sie findet zu Hause Kiek Möns bei Mute.

»Ich habs zu Bett gebracht«, sagt die Alte, »es war so unruhig, das kommt wohl von dem Unglück.« Hede Lorm nickt nur. Kiek Möns will aufstehen, aber plötzlich wirft sich Hede Lorm nieder, drückt ihren Kopf in den Schoß der Alten und weint.

Bei Mole Deep hat Hilke auf Stim Kaat gewartet. In alle Trostworte, die sie der Mutter nur haltlos stammeln konnte, betteln ihre Gedanken nach Stim Kaat. Dieser Name ist wie ein Ring in dem Haus. Mole Deep jammert:

»Wenn er zur Hand gewesen wäre, würde Peter noch leben. Er hätte ihn zurückgeholt.«

»Wenn Peter mit ihm rausgefahren war, würde es nicht passiert sein, er ist stark«, sagt Andrees.

›Warum kommt er nicht?‹ denkt Hilke, ›das wäre ein Trost. Wir müssen doch auch sprechen, wies weitergehen soll.‹

Spät noch will sie zu ihm. Sie steht vor Per Stievens Haus, wo Stim Kaat wohnt. In der Stube ist noch Licht. Aber der Laden ist angelehnt. Sie öffnet die Tür. In der Diele ist ein unaufhörliches Schluchzen. Alma weint. Hilke zieht die Tür wieder zu. Sie suchte Trost und findet wieder Tränen. Sie wartet im Dunkeln.

Der Laden wird für einen Augenblick aufgeschoben. Am Fenster steht groß und hager und mit steinernem Gesicht Per Stieven. Er starrt hinaus, er sieht Hilke nicht, doch sie kann in die Stube hineinblicken. Stim Kaat liegt über das Bett geworfen, den Kopf im Kissen vergraben.

Da öffnet sie zum zweiten Male die Türe. Sie geht an Almas Weinen vorbei in die Stube, sie setzt sich zu dem Mann, den ein tränenloser Schmerz gepackt hält. Sie streichelt seine geballte Hand, sie nennt ihn leise bei Namen.

 

Am dritten Tage gab das Meer Jan Mürk zurück.

Jakob Tharden fand ihn früh am Morgen. Jan lag mit dem Kopf zum Meer und mit den Füßen nach seinem Heimatdorf, so als hätte er noch einmal nach Hause gehen wollen.

Jakob Tharden zog seine Jacke aus und legte sie Jan über das Gesicht. Er beschwerte sie auch, damit der Wind sie nicht fortrisse, mit Steinen, wie sie die Fischer als Ballast mit ins Boot nehmen. Dann ging er langsam zu Jöken Mürk. Er klopfte an das Fenster und rief:

»Jan ist da!«

Jöken Mürk öffnete leise die Tür, damit Wine nicht im Schlaf gestört würde, denn sie hatte die Nächte vorher wach gelegen und war erst jetzt gegen Morgen eingeschlafen.

Jakob Tharden berichtete, daß er Jan gefunden hätte, und daß die Leiche am Strande läge, mit dem Kopf zum Meer und mit den Füßen nach Hause.

Jöken Mürk schritt wortlos neben dem Garnsherrn. Wenn er sonst neben Jakob Tharden ging, war er gut einen Kopf kleiner, weil ihn das Alter schon gebückt gemacht hatte, aber nun war er im Schmerz gewachsen, denn er wollte sich nicht unterkriegen lassen und hielt den Kopf hoch und war fast so groß wie der Garnsherr.

Sie gingen zu Per Stieven und klopften ihn und Stim Kaat heraus. Sie nahmen auch eine Trage mit, auf der sie sonst die Fische vom Strande holten. Nun legten sie Jan Mürk darauf. Sie betrachteten die Leiche ein Weilchen, barhäuptig und in starrer Andacht. Dann nahmen Per Stieven und Stim Kaat die Trage auf. Jakob Tharden ging rechts von dem Toten und Jöken Mürk an der Herzseite.

So gingen sie nach dem kleinen Haus der Mürks. Der Alte öffnete weit die Türe. Darüber war Wine aufgewacht, saß halbhoch im Bett und schrie. Sie stellten die Trage in die Mitte der Diele.

Jakob Tharden nahm ein Licht, das in einem blechernen Leuchter am Herd stand. Das stellte er auf einen Stuhl zu Häupten des Toten.

Jöken Mürk hatte die Glut im Herde angefacht und er brachte Wasser zum Sieden. In einer Büchse war noch etwas grüner Tee. Hede Lorm hatte ihn einmal aus Dranshop mitgebracht. Es sollte echter Tee aus Asien sein, und Jöken Mürk hatte darauf geachtet, daß man sparsam damit umging, und daß nur an Tagen davon genommen wurde, wo es nottat, sich einmal an Leib und Seele zu erneuern.

Jetzt nahm Jöken Mürk ein paar Fingerspitzen voll von diesem Tee, warf sie in das kochende Wasser, tat Zucker hinzu und etwas Branntwein. So ließ er es einige Minuten stehen. Dann füllte er bedachtsam vier Tassen und gab jedem zu trinken.

»Man soll über den Tod nicht das Leben vergessen«, sagte er.

Die vier Männer standen schweigend um den Herd. Sie tranken den Tee und sie brachen das Brot, das Jöken ihnen reichte.

Wine war aber wie ein Kind über ihrem Weinen wieder eingeschlafen.

Am nächsten Tage wurde Jan Mürk begraben. Auf dem kleinen Kirchhof standen die Fischer aus Börshoop und die Bauern aus Bögerlant. Sie waren mit ihren Frauen gekommen, schwarz und grau, und mit Kränzen in den Händen. Die Gülkes und Holwes, die Brattkes und Fenners, die Pröhls und die Holms, Drüsel, der Wirt, und Kog, der Danziger, der schwerhörige Kars und die kranke Frau Völz. Kiek Möns trug einen Kranz aus Buchsbaum, den sie mit trockenen Rosmarinzweigen gebunden hatte. Frems stand weiter zurück, denn er wußte nicht, zu wem er sich halten sollte. Schließlich gesellte er sich zu Hede Lorm. Da sie fürchtete, daß ihre Freundschaft zu Jan Mürk doch ruchbar geworden wäre, und daß man sie darum mit Blicken streifen könnte, hielt sie die Augen gesenkt, aber es achtete niemand auf sie.

Auch Karl Hingsten war da und Rode Harms mit Vrena Sterenbrink. Jürgen Pudmar stand dicht neben Mole Deep und stützte sie.

Als er am Ostertage von Christof Hingsten zurückkam und unterwegs schon von dem Unglück hörte, war er sofort zu Mole Deep gegangen. Er hatte sich mit Peter Deep nie ein gutes Wort gegeben, aber auf einmal schien es ihm, als wäre da etwas von seiner Seite weggerissen worden. Er würde es nicht gefühlt haben, wenn Peter ein kleines ängstliches Sterben gehabt hätte, aber dieser Tod war jäh hereingebrochen wie Flut und Verheerung, und so wie sich Menschen vor den Naturgewalten zu einander finden, hatte er an jenem Abend zu Marthas Mutter gefunden und in ihrer Klage hatte er noch einmal jede schmerzliche Stunde um Marie Hingsten erlebt.

Als er sich jetzt auf dem Friedhof an Mole Deeps Seite stellte, war Andrees, der die Zitternde bisher gestützt hatte, zurückgetreten, und Tränen stiegen ihm in die Augen, als er sah, wie behutsam Pudmar mit Mole Deep umging. ›Auch um den Tod wäre etwas Gutes, wenn er die Lebenden versöhnen würde‹, sagte es in seinen Gedanken, und er legte die harten Finger auf einander und betete darum.

Martha und Hilke standen hinter Mole Deep, eng beisammen.

Per Stieven hatte Alma dicht an sich gezogen, denn das Mädchen schrie und wollte sich nicht beruhigen. Wine hatte ihre Augen leergeweint und stand mit bleichem Gesicht neben Jöken Mürk, der sich aufrecht hielt und nur ab und zu mit den Händen in die Luft griff. Dann legte ihm jedesmal Jakob Tharden die Hand auf die Schulter.

Als die zehn jungen Fischer kamen, die Unverheirateten aus Börshoop, die Gleichaltrigen, die Freunde des ertrunkenen Jan, schluchzten die Frauen laut auf. Zu zweit gingen sie hintereinander. Sie hatten ihre blauen Anzüge an und ihre blauen Schirmmützen auf. Als erste gingen Stim Kaat und Hannes Lietz. Weil sie den großen Kranz trugen, hatten sie schwarze Handschuhe angezogen. Sie hielten den Kranz vorsichtig, damit die weißen Wachsblumen sich nicht verbögen. Hinter Stim Kaat und Hannes Lietz folgten die anderen. Es ging Willi Pröhl neben Ocke Holm, Martin Kars neben Jochen Völz, Willi Völz neben Oskar Lietz, und Holwes Bruder neben Gülkes Schwager.

Die zehn Freunde schritten voran in die Halle und die anderen folgten. Sie stellten sich um den Sarg, fünf zur Rechten und fünf zur Linken, daß es wie ein Kreuz aussah. Sie hoben auch später den Sarg auf und trugen ihn in die Gruft.

Als der Orgelklang, der aus der weitgeöffneten Kirchentüre herüberbrauste, verhallt war, trat der Pastor aus Bögerlant an den Sarg.

»Und um Trost ist uns bange«, sagte der Pastor. Er war schmal gewachsen und nicht sehr groß, und man wunderte sich oft, wie eine so mächtige Stimme in einer so schmächtigen Brust wohnen könnte.

»Und um Trost ist uns bange«, sagte er, und er sprach von der Armut der Fischer und wie schwer es wäre, ein neues Netz zu beschaffen, wenn das alte verloren ginge, und daß diese beiden jungen Menschen, der dort, der vor ihnen läge und jener andere, den das Meer noch nicht zurückbrachte, diese Sorge von sich und von ihren Vätern her gekannt hätten. Um ein einziges Netz mußten diese beiden in den Tod gehen. Der eine rief und der andere folgte diesem Ruf, denn sie sind Kameraden gewesen von Herzen aus. Sie sind Freunde gewesen, und es ist kein Wort darüber zwischen ihnen gewechselt worden. Sie haben gehandelt so wie ihre Freundschaft ihnen befahl, selbstverständlich und ohne große Gebärde. Denn der wahre Mensch macht keine Worte und das Herz redet allein durch die Tat.

»Und um Trost ist uns bange«, sagte der Pastor, und er betete für den, der vor ihnen lag, und für den, der noch draußen war, und er betete für die Mutter und für den Alten, damit sie Trost fänden, und er betete für die Fischer, die hinaus mußten in Sturm und Gefahr, und für ihre Frauen, daß sie stark genug wären, das Leben solcher Männer zu teilen.

Die Orgel in der Kirche erklang von neuem, und mit ihren hölzernen und ungeschickten Stimmen sangen sie: »Die Herrlichkeit der Erden muß Staub und Asche werden; kein Fels, kein Erz kann stehn. Das, was uns kann ergetzen, was wir für ewig schätzen, wird als ein leichter Traum vergehn.«

Anfangs weinten die Frauen noch zu sehr und ihr Schluchzen wollte kein Gesang werden, aber das Lied tröstete sie mit einem Schicksal, das allen gemeinsam ist, und sie mischten ihre zittrigen Stimmen schüchtern hinein:

»Verlache Welt und Ehre, Furcht, Hoffen, Gunst und Lehre und geh den Herren an, der immer König bleibet, den keine Zeit vertreibet, der einzig selig machen kann.«

Als der Sarg in die Gruft gesenkt wurde, und die jungen Fischer drei Hand voll Erde daraufwarfen, mußte man Mole Deep zurückhalten. Klagend wollte sie sich über den Sarg stürzen.

Es war nicht ihr Kind, das darin schlief, doch vielleicht hoffte sie, daß der zur Erde Zurückgekehrte einer Mutter Kunde geben könnte von ihrem toten Sohn, der noch nicht zur Ruhe gekommen war und den das unerbittliche Meer noch irgendwo verborgen hielt.

Im Frühjahr trafen in Börshoop zwei Kutter ein. Sie waren doppelt so groß wie die Fischerboote und mit Motoren ausgerüstet, deren Ölgeruch aus engen Röhren puffte. Sie wurden an der steinernen Mole verankert, die man vor Jahren zum Schutz des Strandes errichtet hatte. Rode Harms beschloß, diese Mole später auszubauen, damit auch die anderen Kutter, die im Laufe des Sommers noch kommen sollten, einen guten Ankerplatz fänden.

Konsul Behnke hatte jetzt Geld mit in das Unternehmen gegeben. Rode Harms war es anfangs nicht recht gewesen, aber schließlich hatte er eingesehen, daß die Anschaffung dieser Kutter sich als notwendig erwies, um einen geregelten Gang im Betrieb der Räucherei und im Versand zu verbürgen.

Da er für die Kutter zuverlässige Leute brauchte, so hatte er sich auch an Per Stieven gewandt, damit der die Führung des einen Kutters übernehme. Stieven hatte sich schweren Herzens dazu entschlossen. Er mußte nun die Selbständigkeit im eigenen Boot aufgeben. Dafür bekam er von Rode Harms einen wöchentlichen Lohn und ab und zu Prämien auf besonders guten Fang. Aber es nagte oft an ihm, daß er in Abhängigkeit geraten war und nicht mehr als freier Fischer sein Leben einrichten konnte. Er fuhr zusammen mit Jochen und Willi Völz, die einen Teil ihres Wochenlohns für Arztkosten ausgeben mußten, denn ihre Mutter kränkelte in der letzten Zeit mehr denn je.

Auf dem anderen Kutter fuhren Gülkes Schwager, Willi Pröhl und Martin Kars. Es waren junge Fischer, die es satt hatten, mit kargem Geld von der Hand in den Mund zu leben und deren Wunsch es war, Sonntags bei Drüsel etwas springen zu lassen. Da sie vor den anderen renommierten, so ärgerten sich die Börshooper Fischer oft über sie und gaben ihnen den Spitznamen »Die Schwarzen«, weil sie von ihren Fahrten immer von Öl und Ruß beschmutzt zurückkamen. Dieser Spottname wurde bald allgemein auf Rode Harms' Leute angewendet, und es verdroß Per Stieven, daß er dazugehörte, doch hielt er Almas wegen aus. Er wünschte, daß sie einmal nach seinem Tode eine kleine Hinterlassenschaft hätte, durch die sie vor Not und Sorge bewahrt wäre.

Stim Kaat hatte sich jetzt mit Hannes Lietz zusammengetan, der die Rechte am Boot von Per Stieven übernahm. Lietz war ein ruhiger zuverlässiger Mensch, der, was er angriff, mit Verstand und Bedachtsamkeit tat. Seine freundliche Art wirkte sich auch beruhigend auf Stim Kaat aus, denn nach jenem Ostertage war er mürrisch und verbissen geworden und für ein gutes Gespräch nie zu haben. Hannes Lietz gelang es nach und nach, ihn wieder aufzumuntern. Er schob Stim Kaats verändertes Wesen auf den jähen Tod der beiden Freunde. Das allein war es jedoch nicht, sondern es fraß an ihm, daß er in den Augenblicken ihrer Todesnot getanzt und getrunken und Hilke, während sie nach ihrem Bruder jammerte, mit Hede Lorm betrogen hatte, zu der ihn nicht Liebe, sondern Wut und Begierde in jener Stunde trieb. Er sprach nun auch nicht mehr davon, daß Hilke ihren Dienst bei den Sterenbrinks aufgeben sollte. Er war zu ihr behutsam und nachgiebig und es schien ihm gut zu tun, wenn Hilke ihm mit freundlichen Worten zuredete. Doch wußte weder sie noch einer seiner Freunde, wie er sich die Zukunft vorstellte.

Er lieferte nach wie vor seine Fische bei Mole Deep ab und liebte es auch, bei Andrees vor dem Räucherofen oder abends bei ihm in der Küche zu sitzen. Wenn Hede Lorm einmal herüberkam, um nach Mole Deep zu sehen, behandelte er sie barsch und ungerecht. Sie würde sich von einem andern eine solche Art nicht gefallen lassen haben, aber sie ahnte wohl, wie es in Stim Kaat aussah und so trug sie ihm seine Willkür nicht nach. Auch hatte sie kein Verlangen mehr nach ihm und wünschte sich nichts weiter als eine gute Kameradschaft zu ihm und zu Hilke.

Das merkte Hilke sehr bald, und da sie selbst jetzt öfter eines Trostes bedurfte, schloß sie sich an Hede Lorm an. Sie war ihr auch dankbar für ihre Fürsorge zu Mole Deep, die seit jenem Unglück von einer schreckhaften Unruhe befallen war. Sie zeigte keine Teilnahme mehr für das, was im Hause vorging. Rastlos lief sie umher und war oft am Strand, den sie in seiner ganzen Ausdehnung mit fiebrigen Gebärden absuchte. Anfangs war man in Sorge um sie, denn man fürchtete, daß sie sich ein Leid antun könnte, aber dann erkannte man, daß sie am Strand, in den Dünen, und in allen Ecken und Winkeln des Hauses nur die Leiche ihres Sohnes suchte. Die Ruhelosigkeit des Toten, der noch immer im Meere umtrieb, war auf Mole Deep mit übergegangen.

Eines Nachts war sie verschwunden. Stim Kaat und Hannes Lietz waren gegen drei Uhr hinausgefahren und Andrees mußte ihnen dabei behilflich sein. Als er zurückkam, vermißte er Mole Deep. Er suchte sie im Haus und auf dem Hof, doch konnte er sie nicht finden. In seiner Angst ging er zu Hede Lorm und weckte sie. Sie suchten nun zu zweit und fanden Mole Deep schließlich am Strande hinter einem Boot kauernd. Der Schlaf hatte sie mitten in ihrer irren Hast überfallen. Als man sie anrührte, konnte sie sich kaum zurechtfinden, und sie war nur nach langer Zusprache zu bewegen, mit nach Hause zu kommen.

Am nächsten Tage waren Hilke und Stim Kaat da. Andrees klagte vor ihnen, wie schwer es für ihn als alten und hinfälligen Mann wäre, mit der kranken Mole Deep allein im Hause zu sein.

»Es ist zuviel für mich. Tagsüber die Räucherei und die Fische und nachts wagt man kein Auge zuzumachen aus Angst, daß ihr was zustößt. Zu den Bauern muß ich auch, wenn uns Simon Gülke mal den Verkauf nicht abnehmen kann. Hier müssen junge Menschen rein, sonst geht noch alles kaputt. Ihr wolltet zum Oktober heiraten, aber dann ist es zu spät.«

»So schnell nach Peters Tod kann man doch nicht heiraten«, sagte Hilke zögernd, »schon der Mutter wegen.«

»Andrees hat recht. Wozu wollen wir noch lange warten. Dadurch wird Peter auch nicht lebendig. Ich denke, wir heiraten zum Sommer«, schlug Stim Kaat vor.

Er war von dem Gedanken ganz angetan und man sah es ihm an, daß ihn dieser Entschluß froh machte.

Andrees aber blieb unzufrieden.

»Das ist noch viel zu lange«, sagte er, »willst du nicht deinen Dienst bei Sterenbrinks aufgeben, Hilke? Auf die paar Wochen kommt es doch nicht an. Was kannst du da schon sparen? Kaum 'ne Handvoll. Das würden wir hier auch reinholen.«

Stim Kaat nickte ihm zu.

»Ich wollte bloß nichts mehr sagen, Hilke, sonst heißts, ich hätte immer was gegen Rode Harms, aber Andrees hat recht. Du gehörst jetzt hierher, das mußt du den Fräuleins sagen.«

Hilke sah es endlich ein. Die Schwestern entließen sie ungern, denn sie wußten nicht, woher sie so schnell Ersatz bekommen sollten. Rode Harms schlug ihnen Wine Mürk vor. Er wußte, daß es bei Jöken Mürk jetzt recht traurig bestellt war. Mit Jan war ihnen der Ernährer genommen worden. Pudmar kümmerte sich zwar um sie und er beschäftigte auch Wine öfter auf dem Hof. Aber im Grunde waren es doch Bettelpfennige, mit denen man nur mühsam durchkam.

Wine war sehr erfreut, als sie an Hilkes Stelle bei den Schwestern Sterenbrink in Dienst trat, und Jöken Mürk saß jetzt oft bei dem alten Frems in der Kutscherstube. Bis zu Jans Begräbnis hatte er sich aufrecht gehalten, aber nun war er zusammengeklappt, ging zittrig am Stock und man sah ihm den Kaptän nicht mehr an. Er vermied es, Andrees aufzusuchen, mit dem er früher so gern ein Spielchen gemacht hatte. Es schien, als fürchtete er sich vor dem Hause der Deeps und als hätte er eine ängstliche Scheu vor dem Räucherofen in den Dünen. Scheinbar sah er hier die Schwelle, auf der Jan Mürks Tod geboren wurde.

Jürgen Pudmar war über Hilkes Entschluß froh. Als Martha ihm sagte, daß Hilke schon jetzt von den Sterenbrinks fortginge, gab er ihr Geld für Hilke. Martha war ganz erstaunt darüber. Er lachte:

»Gibs ihr nur. Sie soll keinen Schaden haben, weil sie nun früher von den Fräuleins weggeht. Du kannst auch mal sehen, daß sie mit allem zurechtkommt. Ich werde ihnen auch öfter mal Fische zukommen lassen. Das kannst du drüben schon sagen.«

Er selbst war nicht wieder zu Mole Deep gegangen und er vermied es auch, sie jetzt aufzusuchen.

Mit dem Gelde, das Pudmar geschickt hatte, wurden einige Verbesserungen am Hause durchgeführt. Man begann auch mit dem Bau des zweiten Räucherofens. Die Steine wurden aus dem Schuppen geholt und nach Andrees' Plan bauten Stim Kaat und Hannes Lietz den Rauchherd.

Als Hannes Lietz sich wunderte, woher die guten Steine kämen, lachte Stim Kaat verschmitzt. Er betatschte einen Mauerstein. »Der hält sein Maul!« rief er. Zum ersten Male war er wieder der alte.

Bald erhob sich neben dem ersten Räucherofen in den Dünen breiter und geräumiger der neue, dessen rote Steine frisch über dem gelben Sand leuchteten.

Im Mai hatten Rode Harms und Vrena geheiratet. »Der Mai ist ein schlechter Heiratsmond«, sagte Kiek Möns. »Da liegt Geburt und Tod zu dicht beieinander. Eine Nacht im Mai verdirbt oft mehr als der ganze Januar, sagt man. Was die Eisherrn nicht nehmen, nimmt die kalte Sophie!«

Man hatte in Börshoop von dieser Hochzeit nicht viel gesehen. Sie wurde in Dranshop gefeiert.

Auch Hilkes Hochzeit, einen Monat später, sollte in aller Stille vor sich gehen. Doch kamen die Fischer am Abend mit ihren Frauen und man leerte eine Flasche Branntwein zusammen. Auch hatten es sich die Kinder am Tage zuvor nicht nehmen lassen, mit alten Töpfen und zerbrochenen Kannen vor Hilkes Tür zu poltern. Helmut Gülke war sogar mit einer ganzen Karre voll altem Blechzeug gekommen, das er lärmend vor dem Hause ausschüttete.

Mole Deep ließ sich an diesen beiden Tagen nicht sehen. Sie hatte sich in ihrer Stube eingeschlossen und öffnete nicht einmal, wenn Andrees mit Essen zu ihr wollte.

de Lorm war am Hochzeitsabend auf ein Stündchen herübergekommen. Das Geschenk, das sie mitbrachte, wurde von allen Frauen bewundert. Es war eine Schale aus hellblauem Glas, fächerartig gezogen, die auf einem silbernen Fuß stand, der von Rosetten und einem Blättergerank umwunden war.

»Es ist ein kostbares Stück«, sagte Hilke erfreut, »die Fräuleins haben ein ähnliches, nur daß es nicht so gut verziert ist.«

Sie war immer in Sorge, daß man gegen diese Schale stoßen könnte, und sie verbot Stim Kaat, als er das Geschenk präsentieren wollte, es anzurühren.

»Hilke hat recht«, sagte Frau Gülke, »Männer sind ungeschickt. Wenn ich das alles aufzählen wollte, was Gülke in unserer Ehe schon zerbrochen hat, morgen wär ich noch nicht fertig.«

»Aber er hat doch sonst solche geschickte Hand«, verteidigte ihn Frau Holwe, »das sieht man doch an dem Bett, das er hier für die jungen Leute gemacht hat. Wenn ich meinen Steppe dagegen bedenke, er kann sich freuen, daß ich nicht sein Vater gewesen bin!«

Sie lachten darüber und brachten ihre Scherze über das Bett an, das breit und bequem an der Wand stand.

»Da kann eine ganze Familie drin schlafen, sieben Köpfe und mehr«, lachte Steppe. Er blinzelte Stim Kaat zu und sagte ihm über die vorgehaltenen Hände hinweg ins Ohr, daß es alle hörten:

»Jetzt heißts fleißig sein, sonst holt Gülke das Bett wieder weg!«

Simon Gülke wollte sich gleich dabei machen, das Bett wieder auseinanderzunehmen, aber die Frauen zankten über diesen Scherz, denn er zerknüllte die schneeweiße Bettdecke. Hilke hatte von den Schwestern Sterenbrink Bettwäsche geschenkt bekommen, die auf einer Truhe neben dem Bett aufgestapelt lag. Auf dieser Truhe war auch das Kaffeeservice und die Schüsseln, Teller und Näpfe aufgestellt, die Pudmar geschickt hatte. Es war ein schönes klares Porzellan mit einem blauen Kornblumenmuster, und verlieh der Stube einen gewissen wohlhabenden Glanz.

»Ihr müßt das Spind in der Küche blau anstreichen«, schlug Hede Lorm vor, »wenn dann das Geschirr drin steht, sieht die Küche gleich ganz anders aus.«

Hilke gab ihr recht, und Stim Kaat sagte: »Sie hat einen guten Geschmack, der ist nicht in Börshoop gewachsen. Man merkt, daß sie in der Stadt war.«

Hede Lorm freute sich, daß Stim Kaat zugänglicher zu ihr wurde. Er behandelte sie wie einen alten Freund, dem man hin und wieder ein derbes Wort sagt oder freundschaftlich in die Seite stößt. In dieser Herzlichkeit ging er heute mit allen um, denn aus den gutgemeinten Glückwünschen, den kleinen Dingen und den ansehnlichen Geschenken war eine gute Laune aufgestiegen, die ihm den Beginn eines behaglichen Lebens zu verbürgen schien. Er hatte es heute gern, neben Martha Pudmar zu sitzen, der im Wohlstand lebenden Schwägerin, und wenn er seinen Gästen zu trinken eingoß, tat er es mit einer vertraulichen Sattheit.

Auch Andrees war zufrieden. »Nun wirds bei uns wieder vorangehen«, sagte er zu Per Stieven, »wenn Mole Deep erst ein bißchen mehr über den Schmerz weg ist, ich denke, dann wird man ganz leidlich leben.«

»Wollens hoffen«, sagte Per Stieven. Er sah müde und traurig aus.

 


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