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Über den Hof der Räucherei schallt die laute Stimme des Danzigers. Wenn Rode Harms nicht in der Nähe ist, tritt er als Herr auf, kommandiert und gibt seine Weisheiten zum besten. Wenn es nach ihm ginge, hätte man schon längst die Räucherei um das Zehnfache vergrößert, und ihr einen großzügigen Namen gegeben, zum Beispiel »Börshoopia Edelräucherei« oder »Ro-Ha Versandgesellschaft«. Darauf fallen die Leute herein. Sie glauben, was man ihnen vorredet, man muß nur Reklame machen. Was man mundgerecht serviert, wird leicht geschluckt.

»Du sollst mal sehn«, sagt er zu Per Stieven, der die Kisten zunagelt, »wie die Bauern früher meine Sachen gekauft haben. Das gibts bloß bei Kog, hab ich gesagt, das ist Qualitätsware. Solche Haarnadeln gibts im ganzen Reich nicht mehr, die kommen direkt aus England. Zehnfach geglüht und mit der Hand gezogen. Und diese Emaille hier, da kann ein Pferd drauf tanzen! Prima Hüttenarbeit. Sowas glauben die Leute. – Ich will dir was sagen, Stieven, Rode Harms ist ein tüchtiger Kerl, und er hat schon was vor sich gebracht, das muß man ihm lassen, aber er ist zu ehrlich. Ein Geschäft wie das hier müßte schon bis Amerika reichen. Was sagst du dazu?«

Per Stieven schlägt einen Nagel nach dem anderen gelassen ins Holz.

»Wenn ich euch so ansehe«, sagt Kog, »ihr seid alle aus einem Stück. Es ist gerade, als hätte euch der Himmel aus einem Baumstamm geschnitten. Erst den Kerl und dann das Boot, und aus dem Übriggebliebenen hat er euer Börshoop gemacht. Rode Harms in Ehren und seinen Verstand, aber im Grunde hängt es ihm auch an. Das will ich dir sagen, der einzig Vive hier im Dorf ist Stim Kaat. Mit dem könnte man Pferde stehlen.«

Kog sieht Stieven herausfordernd an, dann, als der schweigend weiter arbeitet, zuckt er die Achseln und will gehen, aber er bleibt neugierig stehn, denn Vrena kommt über den Hof.

»Ist Herr Harms da?« fragt sie.

»Jawohl, Fräulein Sterenbrink, er ist in unserem Kontor. Ich werde gleich mal nachfragen.«

Er geht geschäftig voraus und Vrena folgt langsam.

»Sie möchten reinkommen«, ruft Kog, aber da steht Rode Harms schon in der Tür.

»Das ist eine Überraschung, Fräulein Sterenbrink, bitte.«

Er führt sie in seinen Arbeitsraum. Ein Schreibtisch steht darin, ein paar Stühle, ein Schrank, das ist schon alles. An der Wand hängt ein Lutherbild und zwischen den Fenstern ein Kalender.

Vrena macht keine großen Umschweife. Sie ist gekommen, um seinen Rat zu haben. Er hat von der Flucht des Pächters schon gehört, aber er weiß nicht, wie sich dieses Geschehnis im Hause Sterenbrink ausgewirkt hat. Es muß doch irgend etwas geschehen. Mit Karla ist nicht zu reden und Syrrha weint den ganzen Tag in ihrem Zimmer. Auf dem Gut wissen sie nicht, was sie machen sollen. Der Oberschweizer ist ja ein vernünftiger Mensch, aber das geht natürlich nicht auf die Dauer. »Wenn nun alles verloren geht? Was soll aus uns werden? Können Sie nicht helfen, Herr Harms?«

Wie ein ängstlich verflatterter Vogel ist auf einmal ein fremdes Leben um ihn. Er weiß wohl dies und das von den Sterenbrinks. Sie haben miteinander geredet, wie man bei Tisch spricht, oder beim Kaffee oder abends bei einem Glas Wein im Hause des Konsuls. Es sind Gespräche gewesen, inhaltlos und vergessen in der nächsten Stunde schon, die Wichtigeres erforderte als eine Plauderei.

Nun sitzt Vrena vor ihm und schüttet ihr Leben und das der Schwestern vor ihm aus. Sie tut es in ihrer Angst mit vielen Worten, und aus jedem sieht ein blasses Gesicht mit zitternden Augen, in denen nur eines ist: die Furcht vor dem Armsein.

Rode Harms ertappt sich, daß er plötzlich gar nicht mehr zuhört, sondern ganz unvermittelt an einen Tag zurückdenkt, an dem er mit seinem Vater hinausgefahren war, um die Netze hereinzuholen. In dem breitesten Netz hing nur ein einziger Fisch. Ein größerer, vielleicht ein Stör, hatte das Garn zerrissen und so waren wohl die Fische hindurchgezogen und nur dieser eine hing zappelnd in einer Masche. Es war eine Steinflunder, dunkel und schwarz gefleckt, so wie sie sich auf steinigem Grund zwischen Muscheln färben. Sie war größer und schwerer als diese Fischart für gewöhnlich ist und der Vater staunte darüber. Rode Harms hätte dem Fisch damals gern die Freiheit wiedergegeben. Er war fünfzehnjährig und wohl ein wilder Bursche, aber die Not und Todesangst dieses einzelnen Wesens hatten ihn gerührt. Vielleicht würde ihm der Vater auch den Gefallen getan und den Fisch in das nasse Element zurückgeworfen haben, aber Rode Harms schämte sich seiner Weichheit, und als sein Vater am Abend der Mutter den Fisch in den Topf warf, lachte er und schnalzte mit der Zunge, aber in seinen Mundwinkeln war ein Zucken, das nicht von Freude kam.

An diesen Fisch mußte er in diesem Augenblick denken, und er sah Vrena an und sagte: »Ich will Ihnen helfen, Fräulein Sterenbrink!«

Vrena ist auf einmal wie ein Kind, das in einen warmen Mantel genommen wird. Ihr Blick, der während des Sprechens sich kaum vom Tisch gehoben hat, blüht zaghaft auf und legt sich dann voll in den des Mannes. Sie hat in dieser Sekunde nur den Wunsch, seine breite Hand, die ungeschickt auf dem Tisch liegt, zu berühren. Und sie schiebt ihre schmalen Finger ein wenig hastig zu ihm hin, dann aber, verhaltend, zieht sie ihre Hand zurück und antwortet nur leise: »Ich wußte es.«

Rode Harms ist aufgestanden. Er geht in dem Zimmer auf und ab, er ist jetzt der Mann, der überlegt. Vrena weiß, daß sie einen Menschen gefunden hat, der alles tun wird, um sein Wort zu halten. Er wird nun für sie und ihre Schwestern denken und man kann sich ihm überlassen.

Ihre Augen mustern jetzt neugierig den Raum, prüfen die Möbel und schätzen die Aussicht, die man vom Fenster aus hat.

Rode Harms sagt: »Geschäftlich kann ich Ihnen natürlich jederzeit zur Seite stehen, aber was machen wir mit der Landwirtschaft? Und daran liegt Ihnen doch wohl am meisten. Sie wollen selbstverständlich einen Rat wegen des Gutes haben. Davon verstehe ich ja nun leider zu wenig, um das Beste vorschlagen zu können.«

Vrena erschrickt. Sie sieht sich plötzlich hilflos weitertreiben. Sie hat den Kopf jäh zu ihm gewendet:

»Was Sie sagen, wird schon richtig sein. Bitte, verlassen Sie uns nicht. Zu wem soll ich gehen? Karla ist auf Konsul Behnke wütend. Sie gibt ihm Schuld wegen des Pächters. Er hatte ihn doch empfohlen.«

Rode Harms beruhigt sie:

»Ich werde mit Pudmar sprechen. Er ist einer der tüchtigsten Landwirte hier in der Umgegend. Und er ist auch ein Mann, der zu disponieren versteht, denn er hat ja außer seinen großen Äckern auch noch den umfangreichen Fischereibetrieb. Wir sind alte Freunde, und wenn ich es ihm sage, wird er uns bestimmt nützlich sein. Wenn Sie wollen, können wir gleich einmal zu ihm gehen.«

Vrena willigt sofort ein, und sie gehen zusammen den Weg am See entlang. Es liegt ein grauer Regen über dem Wasser. Eine dunkle Wolke fiel über das Land in den See. Ein einsames Boot zieht dicht am Ufer entlang. Der Mann darin legt mit den Rudern aus. Das Wasser runkt unter dem Boot.

Hinter den nackten Weidenstümpfen, die gebückt wie uralte Bettler an den Wegrändern stehen, hebt sich wie ein milchiges Gitter der Flug von Seevögeln und taucht verblassend, eine Kette, in den Regen hinein.

Rode Harms ist stehen geblieben und zeigt auf das Haus der Kiek Möns, das wie auf einer kleinen Landzunge sich als das äußerste in den See vorschiebt.

»Darin bin ich geboren«, sagt er und lächelt. Es ist keine müde Erinnerung in seiner Stimme, sondern es klingt wie der fröhliche Ausruf einer Entdeckung.

»Wie warm das aussieht«, fährt er fort, »sehen Sie, der Schornstein raucht! Kiek Möns wird sich was kochen. Ich bin erst einmal bei ihr gewesen in all der Zeit. Ich muß sie doch mal wieder besuchen.«

Vrena ist stehen geblieben und betrachtet aufmerksam das Haus:

»Es sieht von hier wie ein Spielzeug aus. Man möchte es am liebsten mitnehmen.«

Rode Harms freut sich darüber. Er sagt zu Vrena: »Das kommt einem sonst gar nicht so zu Bewußtsein. Man hat seine Arbeit und seine Gedanken, und wenn man mal mit einem Menschen spricht, sind es ja immer andere Dinge.«

»An unserem Feldweg nach Dranshop steht auch ein altes, strohgedecktes Haus. Es gehört keinem. Die Fensterscheiben sind schon lange entzwei und die Türen sind ausgehängt. Es ist ein richtiges Räuberhaus. Nachts soll es darin poltern. Der alte Frems erzählte uns einmal, als wir noch Kinder waren, daß man vergessen hatte, dem letzten Bauer, der dort wohnte, nach seinem Tode einen Kreuzdornstock mit in den Sarg zu legen, damit er den Teufel abwehren kann. In der Silvesternacht, wenn die toten Angehörigen ins Haus kommen, um sich zu wärmen, war auch er gekommen, um den Kreuzdorn zu holen. Aber die Kinder hatten vergessen, den Ofen zu heizen. Sie lagen betrunken zwischen den Stühlen. Nun soll der tote Bauer immer noch in dem Haus den Kreuzdornstock suchen und eine warme Ofenbank.«

Das erzählt Vrena. An ihr vorbei sagt Rode Harms: »Es ist traurig, wenn man keinen warmen Herd hat. Ich weiß nicht, ob Sie einmal in einem dieser kleinen Fischerhäuser waren. Aber ich glaube, es gibt nichts Schöneres, als dort in der Diele am Herd zu sitzen, wenn die trockenen Holzscheite in der Glut knallen und draußen das Wetter tobt. Der Rauch zieht an den Balken entlang. Das ist auch wie eine warme Wolke über einem. Bei uns gab es nämlich noch keinen Schornstein. Da war nur das Eulenloch. Die Fische wurden zum Räuchern einfach in das Gebälk gehängt. So schlicht machte man es sich, und es ging auch.« Vrena lächelt etwas:

»Jetzt sprechen Sie beinah so wie Syrrha manchmal.« Sie verstummt. Sie denkt an ihre Schwestern. Das Leben steht wieder da, unerbittlich zu einem Entschluß drängend. Rode Harms sieht sie an und sagt freundlich: »Lassen Sie nur. Es wird schon alles gut werden.«

 

Als sie zu Jürgen Pudmar kommen, sitzt man dort gerade um den Kaffeetisch. Jürgen ist aufgestanden und sieht verlegen über die Tassen hin. Martha streift ihn mit einem verwunderten Blick. Sie hat schon zwei Stühle herbeigeholt und ohne lange zu überlegen, bittet sie Vrena und Rode Harms Platz zu nehmen. Sie hat auch zwei Tassen aus dem Schrank genommen.

Vrena läßt sich nicht nötigen, auch Rode Harms greift zu. Jürgen hat sich als letzter wieder gesetzt. ›Wie geschickt benimmt sich Martha! Das hätte man gar nicht gedacht. Sie tut so, als wäre das gar kein Fräulein Sterenbrink, sondern ein Besuch, wie er von der Straße hereinkommt.' Und Vrena nimmt das ohne weiteres hin. Sie ist gar nicht großpurig, sie denkt wohl im Augenblick nicht daran, daß Marthas Schwester bei ihnen dient.‹

Nur langsam findet sich Pudmar in das Gespräch.

Als Rode Harms ihn später beiseite nimmt und ihm die Hilflosigkeit der Sterenbrinks schildert, ist er sofort bereit zu helfen. Er macht sich förmlich dick in seiner kurzen Winterjacke. Er kommt mit einer vollen Zigarrenkiste und bietet Rode Harms an. Er nimmt auch zwei Schnapsgläser vom Spind, stämmig sind sie und ausgebaucht, und der Kognak gluckert behaglich hinein.

»Trinken wir erstmal eins. Das will überlegt sein«, sagt Pudmar, und gießt den Inhalt des Glases langsam hinunter. Er zündet sich umständlich die Zigarre an, nachdem er sie bedächtig mit einem Messer abgeschnitten hat.

»Ich will dir was sagen, Harms«, beginnt er endlich, »das Beste wäre, wenn sie die Äcker und Wiesen, die nach Böger lant hin liegen, an die Bauern verpachten. Es ist guter Weizenboden dabei. Wenn sie aus mehreren Händen Pachtzins kriegen, können sie niemals ganz auf dem Trockenen sitzen. Die Bauern da haben Geld, und daß sie die Ländereien pachten, da könnt ihr euch drauf verlassen.«

»Das ist eine ganz gute Idee«, findet Rode Harms.

Pudmar sagt zögernd, denn man will nicht gleich so mit der Tür ins Haus fallen und der andere braucht nicht gleich zu wissen, daß man noch einen eigenen Wunsch im Hinterhalt hat:

»Offen gesagt, Harms, das Weizenstück würde ich gern selber nehmen. Es liegt mir bequem und du weißt ja, mit Weizenboden sind wir Kleineren aus Börshoop nicht so gesegnet. Aber nun kriege ich ja das Geld vom Alten für deine Wiese. Ich denke, da wirds gehen. Was meinst du? Wenn dus mir verschaffen könntest, das wäre eine gute Freundschaft.«

»Da können wir noch drüber reden, Pudmar«, sagt Harms, »aber was soll mit dem Gutshof werden und dem Rest?«

Jürgen schenkt wieder die Gläser voll.

»Das sollen sie bei guter Gelegenheit losschlagen. Ein kleineres Gut verkauft sich leichter. Das Geld ist heute knapp und wer hat wohl soviel, um solchen großen Besitz aufzukaufen.«

»Ja, wenn man gleich einen Käufer hätte«, meint Rode Harms.

»Nicht doch, Harms, Zeit lassen, sag ich. Die Fräuleins dürfen nicht auf einen Verkauf drängen. Wenn man das merkt, kriegen sie kaum ein Butterbrot für. Das war doch ein Jammer.«

»Ja, aber was schlägst du nun vor? Was soll bis zum Verkauf mit der ganzen Geschichte werden?« fragt Harms ungeduldig.

Jürgen sagt: »Das will alles überlegt sein. Wir werden schon den richtigen Einfall haben. Sie dürfen natürlich nicht wieder reinfallen. Man müßte einen tüchtigen Verwalter so lange reinsetzen. Nicht so einen Windhund, sondern einen alten erfahrenen Mann, der alles von der Pike auf gelernt hat. Am besten einen, der selber Besitzer war. Was meinst du?«

Er sieht Rode Harms forschend an: »Ich denke eben, der alte Hingsten wäre nicht der Schlechteste dafür. Er ist noch rüstig und gut beiwege, und ich merke doch selber, was er für einen Verstand hat. Ich würde ihn, kannst glauben, nur ungern vom Hof lassen, aber wenn das mit den Sterenbrinks so liegt, und ich dir einen Gefallen damit tue, dann müßte ich natürlich eine Zeitlang hintenan stehen. Ich denke mir, so ein Jahr wird das schon dauern, ehe man das mit dem Verkauf in Gang hat.«

Rode Harms nickt zustimmend:

»Das scheint mir ein ganz guter Vorschlag, Jürgen. Das Kommandieren versteht ja Hingsten. So weit kenne ich ihn auch, in Zug halten wird er schon, aber glaubst du, daß der Alte das tun wird?«

»Man müßte mit ihm sprechen«, antwortet Pudmar vorsichtig, »ich stehe mich gut mit ihm, das kann ich wohl sagen, und wenn man ihm die Sache richtig klar macht, wird er schon darauf eingehen. Er hat ja manchmal seinen Kopf für sich, und wenn man es ungeschickt anfängt, könnte er sagen: Denkst du, ich will zu anderen in Lohn und Brot? Das habe ich nicht nötig. Du weißt ja, wie die Bauern von Bögerlant sind. Aber ich will dir was sagen. Ich werde heute abend mal mit ihm sprechen. Der Ärger mit Karl hat ihm schwer zugesetzt und er läuft rum wie ein Griesbart. Aber wie gesagt, wenn man ihm in einem guten Augenblick beikommen kann, dann läßt er schon mit sich reden.«

»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagt Rode Harms zufrieden, »sprich mit dem Alten. Vielleicht kannst du mir morgen schon Bescheid sagen. Ich muß ja auch hören, was die Fräulein dazu meinen. Aber ich glaube schon, daß sie keine Schwierigkeiten machen. Sie werden froh sein, wenn sie aus der ganzen Geschichte gut herauskommen.«

»Dann wären wir wohl jetzt fertig«, sagt Pudmar, und sie gehen wieder in die Stube zurück. Dort finden sie Martha und Vrena in lebhaftem Gespräch.

Martha hat em paar Teller und Kannen hervorgeholt, die schon seit den Urgroßeltern in Pudmarschem Besitz sind. Sie zeigt sie voll Stolz und Vrena bewundert die seltsame Form der Kannen.

»Das ist noch nicht alles«, mischt sich Pudmar in ihre Erklärung, »sehen Sie hier«, und er nimmt von dem Gesims über der Tür einen verbeulten Zinnkrug. »Daraus hat Hans Martin Pudmar schon getrunken. Das war zur Zeit, als die Schweden hier waren. Das andere ist alles in dem großen Krieg verloren gegangen. Ich hab Ihnen ja schon erzählt, wie lange die Pudmars hier im Land sind.«

Er stellt den Krug wieder zurück.

»Wir werden wohl jetzt öfter miteinander zu tun haben«, sagt er zu Vrena in der Tür, »Harms wird es Ihnen auseinandersetzen. Ich tue es gern, das ist man schon dem alten Herrn Sterenbrink schuldig. Mein Vater hat ja mit ihm zusammen im Kirchenrat gesessen.«

Martha sieht von einem zum andern. Rode Harms nickt ihr zu. Sie zieht Mariechen, das sich an ihren Rock gehängt hat, dicht an sich.

Dann gehen Vrena und Rode Harms. Unterwegs spricht er von Pudmars Vorschlag und Vrena stimmt erfreut zu. Als sie es zu Hause Karla erzählt, fahrt die Schwester auf:

»Ich verstehe nicht, wie du unsere Angelegenheiten bei den Leuten herum tragen kannst. Was geht es Rode Harms an? Und wie wird sich jetzt dieser Pudmar großtun. Frag doch lieber gleich unsere Dienstboten.«

Aber Vrena läßt sich dieses Mal nicht einschüchtern:

»Glaubst du, ich habe Lust, am Hungertuch zu nagen? Wenn du es besser verstehst, bitte, leite doch das Gut selbst. Du hast ja gesehen, wohin wir nach Mutters Tod gekommen sind! Ich habe kein Talent zur Gutsherrin. Natürlich wäre es würdiger gewesen, mit Konsul Behnke zu sprechen. Aber ich kann doch diesen Mann nicht deinen Zornesausbrüchen aussetzen. Du bist ungerecht gegen ihn. Also blieb mir doch schließlich nur der Weg zu Rode Harms. Einer von uns dreien muß doch wohl handeln.«

Vrena läßt ihre Schwester stehen. Zum ersten Mal lehnt sie Karlas Art ab, von hoher Warte herab Vorwürfe und Vorhaltungen zu machen, ohne selbst einen Fuß in den Alltag setzen zu wollen.

»Glaubst du, mir hat es Vergnügen bereitet, zu Rode Harms zu gehen und ihm unsere Lage zu schildern?« ruft Vrena über den Korridor ihrer Schwester noch zu.

Eine Stunde später kommt Karla zu ihr und sagt:

»Wenn du die Sache nun schon angefangen hast, bitte beende sie auch.«

»Dann bist du also einverstanden mit Pudmars Vorschlag?« fragt Vrena.

»Ich sage dir ja eben, tu was du willst. Laß dich aber nicht von den Bauern hineinlegen. Wo du schon Harms gefragt hast, besprich auch das mit ihm. Ich werde mich nicht darum kümmern.«

Syrrha kommt mit einem Buch herein. Noch an der Schwelle fragt sie aus einer Wolke von Wehmut und Geduld scheu heraus:

»Soll ich dir weiter vorlesen, Karla?«

»Ja«, ist die kurze Antwort, und sie gehen auf Karlas Zimmer.

Auf dem Ledersofa ausgestreckt, die Augen halb geschlossen, hört Karla zu. Syrrha hat die Lampe herangerückt. Auf dem Stuhl, tief über das Buch gebeugt, liest sie:

»So gab Amalie ihr eigenes Leben auf und diente im Hause. Sie vergaß mit der Zeit, daß auch sie ein Recht an Tisch und Herd besaß, wurde still in Demut und hielt sich zu dem Gesinde.«

»Nun wird Pudmar uns helfen, Hilkes Schwager! So weit ist es schon mit uns. Durch deine Schuld müssen wir nun zu allem ja sagen.«

Syrrha greift weinend nach der Hand der Schwester.

»Lies weiter«, sagt Karla und zieht ihre Hand zurück, und Syrrha liest. Über ihr Buch unter der Lampe huscht der Schatten eines grauen Schmetterlings.

Vrena ist zufrieden, daß Karla keine Schwierigkeiten macht und daß eine tagelange Auseinandersetzung, wie sie es von früher her gewöhnt war, vermieden wurde.

Auf einmal ist das Leben wieder glatt. Man fühlt sich geborgen. Das Vertrauen zu einem zuverlässigen Menschen ist wie eine sichere Bucht. Das Boot ist mit starkem Tau angelegt. Man hat einen Sturm nicht mehr zu fürchten. Dafür wird schon Rode Harms sorgen. Wie anders ist er als die Dranshoper Freunde, denkt Vrena, so als wäre ein Stück Erde lebendig geworden, ein Erntetag, von dem man weiß, daß er alles auf schwerem Wagen gut in die Scheunen bringen wird.

Vrena ruft Frems, der schlaftrunken aus seiner Stube heraustappt. Er soll noch mit einer Bestellung zu Rode Harms gehen. Es darf nichts auf die lange Bank geschoben werden. Wer weiß, was Karla morgen für Launen hat.

Frems ist verwundert, aber als Vrena ihm erklärt, daß es sich um das Gut handelt, kann er nicht schnell genug fortkommen.

Er stapft durch das schon schlafende Börshoop.

»Hoffentlich ist Rode Harms noch munter«, murmelt er besorgt vor sich hin, »unsere Uhr war schon neun.«

Aber bei Rode Harms ist noch Licht. Er hat Zeichnungen und Pläne auf seinem Tisch ausgebreitet. Den späten Besucher empfangt er freundlich, obgleich er im Augenblick seinen Kopf voll hat mit den bevorstehenden Arbeiten zur Vergrößerung seiner Räucherei.

Er schätzt den alten Frems, dessen biedere Art und Treue zu den Sterenbrinks er schon kennen gelernt hat.

»Du sollst gleich einen Schnaps haben, Frems, setz dich dahin, ich will nur noch diese Zeichnung durchsehen«, sagt er.

Der alte Kutscher will sich bescheiden in die Ecke setzen, aber Rode Harms ruft ihn heran.

»Sieh dir dies einmal an.« Er erklärt ihm mit einem Bleistift die Zeichnung. »Hier werden noch zwei hohe Räucherkammern gebaut. Sie sind nochmal so groß als die drüben. Und hier neben bringen wir den großen Versandraum hin. Wir liefern jetzt schon bis weit in das Reich. Ja ja, Frems, die Börshooper Fische fangen an berühmt zu werden. Jetzt ist nur noch meine Sorge, daß die Bauern aus Bögerlant den Landweg herrichten lassen, damit die Pferde es leichter haben nach der Bahnstation. Im Notfall müßte ich eine Summe zugeben. Die Hauptsache ist, daß die Zufahrtsstraße in Ordnung ist. So kommt eins zum andern.«

Frems hört aufmerksam zu. Er versucht sich durch die Striche und Linien des Planes hindurchzufinden. Er sagt:

»Als der alte Herr Sterenbrink die Schäferei hier baute, hatten wir auch solchen Plan. Wir sind damals jeden Tag auf den Bau gefahren, denn der alte Herr wollte immer mit dabei sein. Das sollte alles nach seinen Vorschlägen gemacht werden. Es ist aber auch vorbildlich geworden, und mancher Gutsherr hat sich unsere Schäferei später angesehen. Unsere Schafzucht war auch berühmt.«

»Nun ist aus der Schäferei eine Räucherei geworden«, sagt Rode Harms.

»Richtig«, antwortet Frems, »daran hab ich im Augenblick gar nicht gedacht. Das ist ja dasselbe Gebäude, das wir damals gebaut haben. Nun kuck ich mir wieder solchen Plan an. Es ist wirklich so, alles wiederholt sich im Lauf des Lebens.«

Er ist ganz glücklich darüber, daß er in dieser Stunde bei Rode Harms ist, und er will dieser Freude auch Ausdruck geben. Er sagt:

»Das hätte Ihr Vater noch erleben sollen. Ich hab ihn gut gekannt, wenn man auch damals bloß selten im Dorf war. Unser Haus auf der Düne wurde ja damals auch erst gebaut. Gott ja, was man alles erlebt hat.«

»Also die Fräulein sind mit Pudmars Vorschlag einverstanden«, unterbricht ihn Rode Harms. »Da werde ich gleich morgen zu Pudmar gehen. Hoffentlich klappt es mit dem alten Hingsten. Ich habe ja keine Befürchtung, er ist gar nicht so dickköpfig, wie man immer sagt. Mir hat er die Wiese auch sofort verkauft, sonst könnte ich mich jetzt gar nicht vergrößern.«

Rode Harms hat Tabak geholt und Frems muß sich eine Pfeife stopfen.

»Der Tabak riecht gut«, lobt der alte Kutscher, »der kommt wohl direkt aus Afrika, solchen raucht man selten.«

Auch Rode Harms hat sich eine Pfeife angezündet und Kognak eingegossen. Zum ersten Male seit seiner Rückkehr fühlte er sich in Börshoop zu Hause. Man ist über fremde Meere gefahren und hat in Hafenstädten gelebt, wo in allen Sprachen der Welt geredet wurde. Man hat fremdländische Küsten gesehen in reicher Schönheit unter kristallenem Himmel. Die Augen konnten gar nicht genug einheimsen, und die Ohren waren neugierig auf jeden Ton. Das ist alles gut und richtig gewesen, denn man soll sein Herz nicht verschließen vor allen Wundern auf Gottes weiter schöner Erde. Aber wenn man älter wird, ist man gern zu Haus und ordnet die Ernte aus jüngeren Jahren. Doch dazu gebraucht es der Wärme. Es ist nicht, daß man wieder über Heimat geht, sondern man muß die Heimat auch leben. Die Felder sind die gleichen in aller Welt und das Meer ist überall dasselbe, und Blatt ist Blatt und Scholle ist Scholle. Aber die Sprache, in der Mensch und Erde zu uns redet, ist überall eine andere. Und wenn wir unser Herz losgelöst haben von der Sprache unserer Heimat, dann wird uns trotz aller Heimfahrt keine Heimkehr sein.

In dieser Stunde, wo vor dem heimgekehrten Rode Harms ein alter einfacher Mann sitzt, der nichts von ihm will, der ihn nicht an die Hand zu nehmen verlangt, um ihn in eine entschwundene Kindheit zurückzuführen wie der geschwätzige Jöken Mürk, sondern der nichts weiter tut, als in einer Sprache spricht und Gedanken denkt, wie sie einmal zu Hause in dem kleinen Fischerhaus waren, so allzeit ewig in ihrer bescheidenen Umgrenzung, fühlt Rode Harms, wie sich sein Herz auftut.

Er hat sich dicht zu Frems gesetzt und er redet mit ihm, als wäre er dem Alten Rechenschaft schuldig.

»Sieh dir den Plan genau an, Frems, so hab ich mir das alles vorgestellt. Meinst du nicht, daß das richtig ist? Konsul Behnke hat mir neulich auch einen guten Vorschlag gemacht. Man müßte eigene Kutter haben. Seetüchtig und mit einer Maschine ausgerüstet, damit sie weit hinausfahren können. Durch die Hochseefischerei wird es ja hier an den Küsten immer weniger mit den Fischen. Ich habe mich noch nicht entschieden, aber ich glaube auch, daß es bald notwendig sein wird. Glaubst du nicht, daß das hier für Börshoop ein Vorteil sein würde? Per Stieven und die anderen Strandfischer, denen es schlecht geht, könnte ich doch dann in Lohn und Brot nehmen. Die ganzen letzten Jahre schon im Ausland hatte ich mir ausgemalt, wie ich hier in Börshoop arbeiten wollte. Ich hatte auch gedacht, daß ich hier manches anders antreffen würde.«

Er beugt sich tiefer über die Zeichnung und leiser sagt er darüber hin:

»Manchmal frage ich mich, wozu?«

Frems schüttelt den Kopf:

»So müssen Sie nicht reden, Herr Harms. Das hat alles seinen Grund. Ich denke mir, was wir tun, und was wir nicht tun, wird uns alles einmal angerechnet. Aber bloß deshalb ist es auch nicht. Wenn ich mir ein Wort erlauben dürfte, Sie sind doch im besten Mannesalter, da denkt man noch an Familie. Ich meine, bei Rode Harms war eine Frau schon gut aufgehoben. Das wird Ihnen schon einfallen, wenn Sie mit Ihren Plänen im Reinen sind. Man muß ja erst den Grund haben. Das will alles vorbereitet sein.«

»Manchmal habe ich schon daran gedacht«, sagt Harms vor sich hin.

Ein Weilchen sitzen sie schweigend nebeneinander. Jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt. Dann sagt Frems:

»Die Fräulein tun mir auch oft leid. Sie haben wirklich ein besseres Leben verdient. Wenn man so bedenkt, was der alte Herr alles geschaffen hat. Nun geht das so hin. Und sie sind keine Familie. Ich will gar nicht von Fräulein Karla reden, aber die Jüngeren würden schon ganz tüchtig sein, wenn sie in die rechten Hände kämen. Das ist so wie bei Pferden. Besonders Fräulein Vrena. Sie kümmert sich jetzt um alles.«

»Du kannst ihr sagen, daß sie morgen Bescheid bekommt wegen des Gutes.«

»Dann wäre ja alles ausgerichtet«, sagt Frems zufrieden. Er stellt den Stuhl an seinen alten Platz zurück, knöpft den langen Kutschermantel zu und geht mit umständlichem Dank.

 


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