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Um Börshoop war ein Nebel geflochten tagelang. Zwischen den Häusern kroch er und stieg dünnmaschig auf vor Düne und Schilf. Das Meer war fort und der See war fort, nur das Stück Weg war noch da, das man ging, zwei Fuß vor einem und zwei Fuß zurück. Es waren Schritte in einem grauen riesigen Zelt, dessen flattriges Nebeltuch einem die Schulter rührte.

Was machen wir nun, Nachbar?

Wir schlafen, was sollen wir tun.

Es sind Fische im Meer, aber wir können sie nicht fangen. Es sind Schiffe draußen, irre Segelwanderer, aber wir können ihnen nicht helfen.

Wenn früher ein Schiff an den Strand geworfen wurde, gehörte es dem, der es fand und zuerst den Fuß daraufsetzte. So war das Recht und man lebte davon, denn das Meer ist hart und das Leben ist hart, und es hat keinen Sinn, weich zu sein und sich fressen zu lassen. Wenn die Not groß war, hatte man auch falsche Feuer angebracht und das Glück ein bißchen verbessert. Aber jetzt hat man Hochachtung vor dem Gesetz. Man steht vor der Tür, die Hände in den Taschen, was soll man tun? Der Nebel ist faustdick und man wartet, daß es hell wird. Doch wenn der Nebel weg ist, peitscht der Sturm. Man hört die Wellen am Strand poltern. Ehemals fand man nach solchem Sturmnächten Bernstein, Stücke groß wie die Faust und noch größer, für die man fünf Taler bekam und mehr. Aber jetzt war das Meer nur noch grau und weinte keine gelben Tränen mehr.

Kein Schiff auf Strand, kein Fisch und kein Bernstein, nur Nebel und Sturm. Nachbar, was soll man tun? Schlafen! Den Abend lang, eine Nacht, und bis in den Tag hinein. Schlaf ist gut gegen Hunger. Wer lange schläft, kommt gut über den knappen Tisch. Manchmal wird man unruhig im Schlaf: ein Lachs gefangen. Drei Mann müssen ihn tragen. Wann hat man je solchen Lachs gesehen? Wenn man zupacken will, greift man ins Federbett. Wo sind die Lachse geblieben, der Lengfisch und die großen Störe, deren Fleisch man früher fortwarf, weil man es im Überfluß hatte und keiner was dafür zahlen wollte. Man war ärgerlich, wenn ein Stör in das Netz ging, weil es fast zerriß unter seiner Wucht. Aber jetzt, wo es für den Stör Geld geben würde, weil man den Rogen braucht, jetzt ist kein Stör da. Das Meer hat die großen Fische verschluckt, so scheint es. Bloß die kleinen kommen noch neugierig an die Küste.

Aber das ist noch nicht alles. Auch der See wird leer. Kiek Möns hats gesagt. Die großen Aale sind gestorben und die kleinen wandern ab. Bei Dranshop geht eine Papiermühle, da werden Lumpen zerkocht und Knochen. Eine trübe Lache fließt ab. Das ist Gift, und das Gift geht in den Bach, und der Bach in den See, und im See zerfrißt es die zierlichen Pflanzen, die kleinen Wurzeln, das Wassergewächs. Die Schlupfwinkel zerstört es, die die Fische sich bauten, das Hochzeitsnest, das Bett für die Brut. Nun wandern sie ab, Kiek Möns hats gesagt, unterirdisch durch Quell-Labyrinthe, die Feldbäche entlang, den Wiesenlauf zum Elshoefter See, der weiter im Land liegt.

Das große Aalsterben war schon gekommen, das ist der Anfang.

In diesen langsamen Tagen hatte Kiek Möns ein Gesicht. Sie war mit einer Wanne voll Wäsche an den See gegangen und saß in einem der Boote, über dessen Rand gebeugt sie die Wäsche im Wasser spülte.

Das Wasser war aufgewühlt und wenig klar, so als wäre der See vom Grund her umgerührt. Sie wunderte sich darüber, denn sie hatte eine Stunde für ihre Arbeit ausgewählt, in der die Luft still war. So zog sie die Wäsche wieder ins Boot, um zu warten, bis sich das Wasser beruhigte. Aber die Unruhe nahm zu, das Boot schaukelte sogar.

Später wußte Kiek Möns nicht, wie lange sie in dem Boot gesessen hatte, und ob das, was sie gesehen zu haben glaubte, Traum oder Wahrheit gewesen war. Durch das aufgewühlte Wasser waren in langem Zuge die Fische des Sees gezogen, der weiße Schlei, das Rotauge, der messinggelbe Barsch, der hochrückige Blei, der Zander mit dem bezahnten Maul und die geringen, die nicht länger als eine Hand sind, und von denen man ein Dutzend in der Pfanne braten kann. Dicht aneinander schwammen diese Fische und zwischen ihnen, ohne Raublust, so als wären sie von jeher Freund, der graue Karpfen und der Hecht, der grimme Marschall des Sees. Es war ein Zug, der kein Ende nehmen wollte, eine Straße von Fischen war es, die quer durch den See ging, deren Steine die schimmernden Rücken und deren Staub Millionen Luftbläschen waren.

Die Fische verlassen den See, fiel es Kiek Möns ein und sie schrak hoch. Das Boot lag still, das Wasser war unbewegt, klar und durchsichtig und sie konnte gut die Wäsche darin spülen. Erst als sie diese Arbeit beendet hatte, dachte sie wieder an ihre Wahrnehmung, und sie erschrak von neuem. In ihrem Herzen hing plötzlich eine dunkle Furcht über Zukünftiges.

Sie hatte von dem Unheil, das die Abwässer des Mühlbachs angerichtet hatten, gehört, aber jetzt ahnte sie plötzlich, welches Ausmaß im Laufe der Zeit diese Gefahr nehmen könnte. Es wird ein toter See für die Fischer werden, dachte sie. Das wird viel Not und Elend geben, wenn man dem Drohenden nicht rechtzeitig begegnet. Vielleicht wissen die Fischer noch gar nicht, daß der See stirbt. Vielleicht denken sie nur, es sind ein paar Fische gewesen, aber es werden viel Fische geboren werden und man würde schon weiter kommen. Man muß mit den Verständigen sprechen, mit Pudmar und Rode Harms. Aber zu Rode Harms wollte Kiek Möns nicht gehen. So erzählte sie ihr Gesicht der Hede Lorm.

»Du mußt es gleich Rode Harms berichten, oder wenn du das nicht willst, sag es dem Danziger, damit der mit Rode Harms spricht. Zu Pudmar werde ich selber gehen. Ich tus nicht gern, aber ich gehe für alle. Sie sollen nicht lässig sein. Sie sollen es gleich verfolgen. Sie müssen nach Dranshop fahren und dort vorstellig werden, ehe es zu spät ist. Solche Wege dauern oft lange.«

So hatte es sich in Börshoop herumgesprochen, was Kiek Möns über das Unheil dachte. Die Frauen ängstigten sich und wenn auch die Männer taten, als gäben sie nichts auf solche Rede, so waren sie doch besorgter als je. Man sah plötzlich etwas sich heranwälzen, von dem man noch nicht wußte, ob man es rechtzeitig genug in eine gute Bahn lenken könnte. Auch Pudmar verkannte die Gefahr nicht. Er hatte Kiek Möns freundlich aufgenommen und lange mit ihr darüber gesprochen. Er war mit ihr allein im Zimmer, und als sie gehen wollte, nahm er sie beiseite und fragte wie nebenbei:

»Du verstehst dich ja auf Heilkunde, Kiek Möns, was macht man wohl dagegen, wenn es einem hin und wieder bei der Arbeit das Herz schnürt? Ich will kein Gewese drum machen, so schlimm ist es nicht, und du weißt, man hat keine Zeit zum Kranksein, aber wenn du einen Tee wüßtest oder ein Kraut dafür, das würde wohl gut sein.«

Kiek Möns versprach ihm eine Arznei zu bringen. Sie kochte sie selbst zusammen und man hatte schon manche günstige Wirkung damit erzielt. Auch Minna Völz nahm sie öfter. Der Arzt durfte es nicht wissen, aber Frau Völz hielt doch etwas davon.

»Es ist gut«, sagte Pudmar, »ich werde vorbeikommen und es mir holen. Martha brauchst du nichts zu sagen. Nun, ihr sprecht ja sowieso nicht miteinander. Du mußt nicht denken, daß ich krank bin, so weit ists nicht. Man will nur vorbeugen, denn es gibt ja noch viel zu schaffen.«

»Du kannst gleich mitkommen«, antwortete Kiek Möns, »ich hab die Arznei immer fertig in Beutelchen, die hängen am Herd, denn die Blätter müssen gut trocken sein.«

So gingen sie zusammen durch den müden Novemberabend. Der Mond war sichtbar.

»Er verscheint das Wetter«, sagte Kiek Möns, »es wird sich bald bessern, dann können sie wieder herausfahren.«

In ihrer Stube warf Pudmar sich in einen Stuhl. Er hustete. Die Feuchte der Luft lag auf seiner Stirn.

»Wenn man erst davon spricht, hats einen gleich«, sagte er, »ich hätte dich gar nicht um die Arznei angehen sollen. Es wirft einen schon nicht so leicht um. Ich habe diesen Herbst zuviel gearbeitet, das ist es. Wenn man jetzt ein bißchen Ruhe hat, gibt es sich von alleine.«

Kiek Möns sah ihn an. Sie dachte, es sitzt ihm nicht in den Kleidern, das sitzt ihm schon im Leib, und sie sagte vorsichtig zu ihm:

»Du bist krank, Pudmar, du solltest dich schonen.«

Er faßte in die Tasche und legte ein Geldstück für die Arznei auf den Tisch. Sie sah ihm nach. Er ging aufrechter als sonst.

Der Mond war blasser geworden. Er hing wie eine trübe Lampe über den Dächern, der man das öl vergaß.

Noch blieb das Wetter so. Der Nebel blieb, der Regen, der laute Wind. Was machen wir nun, Nachbar?

Wir schlafen, was sollen wir tun?

Früher gab es Kobolde auf den Landstraßen, die einem Geld in die Tasche hexten, wenn man arm und guten Herzens war. Hatte man ein schlechtes Gewissen, war es gut, auf der Mitte der Wege zwischen den Wagenspuren zu gehen. Zwischen den Spuren in Wegesmitte waren die Wesen nicht. Es hat gute Geister gegeben zwischen Börshoop und Bögerlant. Wenn man sie jetzt suchen würde, wäre es vergebens. Es kommt wohl wer die Straße entlang, aber es ist nur ein Landstreicher, dem die Bartstoppeln wie Disteln im Gesicht stehen. Er hat graues borstiges Haar und große rote Hände. Da ist alle Kälte hineingefroren seit langen Jahren, so daß auch die Sommersonne sie nicht mehr herausbekam. Was will ein Landstreicher auf Gottes Erde? Nicht viel. Eine Handvoll Essen, ein paar Pfennige zum Trinken. Das muß sein. Für den Schlaf ist die Wiese da, das Stroh und der Stall. Aber in einer Novembernacht sind die Ställe verrammelt. Der Sturm heult wie Wölfe davor. Wo geht der Landstreicher hin in solcher Novembernacht? Wo die Türe nur angelehnt ist und wo die Verlassenheit sagt: tritt ein.

In Bögerlant war eine Tür nur angelehnt. Es war die Tür zu einem Schuppen, der abseits lag. Das Haus selbst stand fest und sicher an der Straße und die Türen waren gut verschlossen. Dunkel sind die Fenster, und als der Landstreicher sein Ohr hinhält, glaubt er, den Schlaf aus den warmen Betten schnarchen zu hören. Es werden breite Betten sein, dicht an einander gestellt. Es ließe sich ein Leben lang gut darin leben. Die Wand ist dicker roter Stein und das schräge Dach darüber liegt schwer und tief. Da beißt jeder Sturm sich die Zähne aus. Einmal in so einem Haus sein, das war was!

Aber das Tor gibt nicht nach. Da sitzt innen ein eiserner Riegel davor. Bloß die Tür zu dem Schuppen ist angelehnt. Man hat vergessen, sie zu verschließen. Der Himmel belohne solche Vergeßlichkeit.

Der Landstreicher tappt in den Schuppen hinein. Wir wollen kein Streichholz anzünden, damit uns der Schein nicht verrät. Wir finden uns schon im Dunkeln zurecht. So hell sind die Augen immer noch. Auch sind die Ohren noch da, wach jedes Geräusch, zuverlässig, erprobt in langen Jahren. Spürhunde sind sie, Spione und Wächter.

An der Türe liegt eine Schütte Stroh. Man wirft sich darauf, man reckt sich, man streckt sich. Gott segne den Schlaf in dem Erbsenstroh.

In der Ecke des Schuppens ist plötzlich ein Laut. Ein kleines Wort, ganz dünn. Ein Wort, das man kennt, ein Wort, das einem oft auf der Zunge brennt: Durst! – Der Landstreicher nickt aus dem Schlaf empor. Er richtet sich auf.

In dem Schuppen stirbt ein alter Mann.

Als sein Atem leiser wurde, seine Augen zu waren und man glaubte, daß er nichts mehr sehen und hören könnte, hatte man ihn beiseite getragen. Nun lag er auf hartem Lager, neben sich auf wackligem Tisch ein Glas mit schalem Wasser. Unter dem Tisch standen seine Schuhe. Als vor dem Schlafengehen die Tochter noch einmal nach ihm sah, hatte sie ihm die Schuhe ausgezogen, weil die Füße schon zu schwellen begannen.

Nun reichte der Landstreicher dem Sterbenden von dem schalen Wasser.

»Trink, Alter«, sagte er dazu und wischte ihm den Mund mit dem Rockärmel ab.

Der Alte trank gierig, schluckte noch einmal und lag still. Da beugte sich der Landstreicher zu ihm, legte ihm den Kopf niedriger und drückte ihm die Augen zu.

Er glaubte, daß man für den Toten beten müßte, und so sagte er laut:

»Amen.«

Dann sah sich der Landstreicher in dem Schuppen um. Ackergerätschaften standen darin, ein Pflug und ein Trog für das Vieh. Der Landstreicher sah auch die Schuhe unter dem Tisch und nahm sie an sich. Es waren derbe Schuhe und erst einmal geflickt. Das Schicksal gibt einem nichts, man muß es sich schon selber nehmen. Das wußte der Landstreicher. Auch würde es ihm der Himmel für die Guttat, die er dem Toten in der letzten Stunde erwiesen hatte, nicht anrechnen. So viel Vertrauen hatte der Landstreicher schon. Er knüpfte die Schuhe mit den Bändern zusammen und hängte sie sich über die Schulter. Die Stalllaterne, die er angezündet hatte, ließ er brennen, als er ging. Es tat ihm leid, daß er so schnell von dem Erbsenstroh wieder herunter mußte, aber es ist nicht gut, neben dem Tod zu schlafen.

Er zog die Türe des Schuppens, worin der alte Brattke nun tot lag, leise hinter sich zu.

Alle Wege gehen zu Gott zurück, da ist die Entscheidung.

Das fällt einem alten Landstreicher ein, nach vielen Jahren fällt es ihm ein, als er nun in der Nacht die Landstraße geht. Novembersturm geht neben ihm her. Der hat einen schnellen Schritt, und wenn man zu langsam die Beine rührt, dann reißt er sie einem mit. Wer abseits liegt, wer im Schuppen stirbt, wer im Graben liegt, wer am Wege stirbt, der hab einen leichten Tod. Einen Schluck noch schnell, einen Herzschlag noch, dann sei vorbei die Not.

Wer tot ist, braucht keine Schuhe mehr, wer tot ist, braucht keinen Rock. Der Himmel ist allen Toten nah und wem die Erde dunkel war, dem wird der Himmel hell ...

Man ist nicht gut, man ist nicht schlecht, man weiß nicht, wie es geschieht, daß aus einem Auge das Himmelslicht, aus dem andern der Teufel sieht. Das Leben ist bitter, das Leben ist leicht, kein anderer fragt, wie mans packt. Man hofft, daß Gottes Sterne stehn über der letzten Nacht.

Das fiel einem alten Landstreicher ein, als er vor dem Tod wegging, der im Schuppen zwischen den Sensen lag, zwischen Trog und Pflug ganz friedlich lag. Doch drängt man sich nicht gern auf.

Der Sturm war laut und das Meer war laut. In dieser Nacht war ein unbändiges Rollen von der See her, so als lägen Gewitter schwer auf dem Grunde und wollten das Wasser zersprengen. Es stieg haushoch und stürzte über sich zusammen, warf seine Massen vor und zurück und schlug wieder vor, tollwütig und maßlos in geifernden Wellen. Dazwischen sprang das Aufheulen des Sturmes wie ein greller Blitz über Dach und Baum. Es war, als ritte das Meer auf dem Sturm durch die Luft, denn man wußte nicht, ob das, was über einem hinjagte, Wolken waren oder Wogen, die hereinbrechen wollten.

Der Landstreicher, der von einem friedlichen Sterben kam, fürchtete sich vor dieser Nacht. Er war schon durch unzählige Nächte gewandert, die grimm und unwirtlich einem Menschen hatten zu schaffen machen können, aber diese Nacht war ärger als alle. Man mußte vor ihr auf der Hut sein. Was da durch die Luft raste, schien einen fressen zu wollen. Man duckt sich hier und man duckt sich da. Man läuft ein paar Schritte weiter. Die Tür ist zu und die Tür ist zu. Man läuft ein paar Schritte weiter. Kein Fenster auf, kein Schuppen auf, man duckt sich dort und hier. Die Kuh hat es gut, der Hund hat es gut. Man läuft ein paar Schritte weiter.

Der Landstreicher war nicht der einzige, der in dieser Nacht durch Börshoop lief. Die tobende See hatte ein Boot an den Strand geworfen. Stundenlang war es umhergetrieben. Zwei Männer sprangen heraus, ehe es zerschellte. Zwei heulende Männer. Auf der See schon hatten sie mit dem Sturm um die Wette gebrüllt. Schreien, schreien! So lange man schreit, lebt man noch. Die Kälte wegschreien, die schon nach dem Herzen greift, die Furcht wegschreien, die nach den Gliedern packt. Schreien, schreien! Der Kampf schreit. Der Sieg schreit. Sie haben in den Wogen geschrien, sie schreien noch immer. Aber der Sturm ist zu laut und man hört ihr Geschrei nicht. Nur der Landstreicher hört es, der am Zaun hockt. Er springt auf. Er läuft mit. Er weiß nicht weshalb. Aus Schreck, aus Entsetzen. Er läuft hinterher, er schreit mit ihnen, er brüllt wie sie. Gegen die Nacht, gegen den Sturm, gegen das Meer.

Die beiden vor ihm triefen von Wasser. Wenn sie die Arme werfen, sprüht es auf ihn. Aus der See kommen sie, aus der Finsternis, aus den Wolken vielleicht, aus dem Sturm.

Sie schlagen gegen das erste Haus, sie schlagen gegen das zweite Haus. Sie warten kaum, sie laufen weiter. Sie fallen mehr, als sie laufen. Kaum aufrecht noch. Sie taumeln schon. Sie schlagen gegen das dritte Haus. Sie haben sich in die Pfosten gekrallt. Der Landstreicher sieht es. Zwei Seeleute sind es, die Kleider in Fetzen, die Hände zerrissen.

Der Landstreicher klinkt die Türe auf.

»So muß man es machen«, sagt er verwundert. Man drückt auf den Griff bloß, die Türe ist auf. Es ist so einfach, daß man sich wundert.

In dieser Sturmnacht schliefen Stim Kaat und Hilke ganz fest. Sie hörten nichts von dem Wetter. Auch Andrees lag in tiefem Schlaf auf der Bettstatt, die er sich abends in der Küche aufschlug. Nur Mole Deep war unruhig. Die kleine Stube, in der sie jetzt wohnte, hatte die Türe zur Diele hin. Wenn Mole Deep nachts nicht schlafen konnte, stand sie oft auf und setzte sich im Dunkeln neben den Herd. Da saß sie dann und sah in die geringe Glut, die durch die Spalten der Herdtüre matt leuchtete.

Mole Deep hatte nicht viele Gedanken mehr. Was sie dachte, ging in die Vergangenheit, und was sie wünschte, war, daß das Meer ihren toten Sohn zurückgeben möchte, damit er in der Erde zur Ruhe käme. Sie hatte ihn durch Monate gesucht. Nun wußte sie, daß das Suchen vergebens war, daß sie warten müßte und sich gedulden, bis der Himmel es ihr gestatten würde, noch einmal über seinen Arm zu streichen.

In dieser Sturmnacht hatte Mole Deep sich an den Herd gesetzt. Wenn der Sturm sich im Rauch fing, jammerte sie auf, denn es war der Sturm, der Peter zerschlagen hatte. Wenn sie glaubte, das Donnern des Meeres zu vernehmen, schrie sie leise, denn es waren die Wellen, die Peter fortgerissen hatten.

Mole Deep saß im Dunkeln. Die letzte Glut des Herdes hatte der Sturm zerblasen.

Auf einmal wurde die Türe aufgemacht. Der Sturm sprang herein. Schritte warf er herein, knarrende, polternde, taumelnde Schritte. Die Feuchte des Wassers war plötzlich da.

Mole Deep fällt diesen Schritten entgegen. Sie greift in das Dunkel. Sie greift zwei Arme. Der Rock ist naß, naß von der See. Das Wasser klatscht. Sie tastet an diesen Armen empor. Ein Mensch ist es. Ein Mensch aus der See. Ein Mensch ist aus der See gekommen. Die See gab ihn wieder. Peter! Peter!

Mole Deep schreit durch das Haus. Sie schreit seinen Namen. Sie hält ihn umklammert. Sie sinkt an ihm nieder.

Stim Kaat kommt in die Diele. Er kommt hastig. Hilke kommt, Andrees noch ganz voll Schlaf.

Man hat Licht angezündet. Man hat Mole Deep in das Bett gebracht. Andrees wacht bei ihr. Sie schläft wie ein Kind, sie lächelt im Schlaf.

Im Herd brennt das Feuer, das Wasser kocht. Die beiden Schiffbrüchigen hatten die Kleider vom Leibe gerissen. Nun kauern sie neben dem Herd, in Stim Kaats Jacke und Andrees' altem Rock. Decken haben sie noch umgeschlagen.

Sie stoßen einzelne Worte hervor. Worte in einer fremden Sprache, gurgelnde Laute. Sie schlürfen den heißen Branntwein. Sie verschlingen ein ganzes Brot. Sie haben es auseinandergerissen. Sie essen voll Hast, sie trinken voll Hast. Nur ein paar Minuten, dann Schlaf.

Sie haben sich auf die Dielen geworfen, die Arme von sich, die Beine weit aus. Der Sturm heult noch immer.

Stim Kaat liegt wieder im Bett. Haben Glück gehabt, die beiden. Von dem Boot wird wohl nichts übrig sein. Gnade denen, die noch draußen sind in solcher Nacht.

Hilke war leise zu Mole Deep gegangen. Sie setzte sich zu ihr. Sie sprach leise mit Andrees.

Niemand hatte den Landstreicher gesehen, der hinter der Türe stand. Ganz still war er dort stehen geblieben. Er hatte den Hut abgenommen und die Füße auf einem Sack abgetreten, der an der Türe lag. Jetzt kam er langsam in die Diele. Die beiden Seeleute schliefen in dem Lichtkreis der dämmrigen Lampe. Er betrachtete sie lange. Er stellte auch den Stuhl beiseite, damit sie sich nicht daran stoßen, wenn sie sich im Schlaf bewegten. Dann sah der Landstreicher in den Topf, der auf dem Herd stand. Es war noch Branntwein darin und er goß ihn bedächtig herunter. Es lag auch noch etwas Brot da. Das steckte er in die Tasche. Dann legte er sich auf die Bettstatt, die Andrees gehörte. Bloß eine Stunde Schlaf, hämmerte er sich ein. Er schlief lautlos. Er war auch im Schlaf vorsichtig. Nach einer Stunde erhob er sich. Die beiden Seeleute lagen noch reglos.

Der Landstreicher ging leise hinaus. Er zog die Türe sanft ins Schloß. Der Sturm hatte nachgelassen. Es war ein übermütiger Herbstwind geworden, den man wohl ertragen konnte. Aber es war noch dunkel, doch war es eine Dunkelheit, die einem nichts tat, und durch die man furchtlos gehen konnte.

Der Landstreicher ging voll Vertrauen in sie hinein. Ein Paar Schuhe, einen warmen Branntwein, eine Stunde Schlaf im Bett. Es war doch eine gute Nacht.

Als Hilke in dieser Nacht an Mole Deeps Bett saß, bewegte sich zum ersten Male das Kind unter ihrem Herzen. Sie legte zärtlich die Hand darauf. Wenn sie mit Stim Kaat von dem Kinde, das sie erwarteten, sprach, nannten sie es »Öllerke«. Sie hatten diesen Namen von Andrees, der behauptete, daß ein guter Herdgeist in Börshoop so geheißen hätte. Das war schon manches Jahr her, als der noch den Fischern die Näpfe putzte.

»Unser Junge wird das auch können und noch mehr«, hatte Stim Kaat gelacht. So kam es, daß sie immer von Öllerke sprachen.

Mole Deep schlief zwei Nächte und einen Tag. Als sie aufwachte, waren die beiden Seeleute schon fort. Man hatte sie nach Dranshop gebracht. Sie fragte auch nicht nach ihnen. Es war still in ihr geworden. Sie verließ von jener Nacht an nur ungern das Bett. Wenn Hilke sie dazu bekam, aufzustehen und sich Bewegung zu machen, tat sie nur wenige ungelenke Schritte und setzte sich bald wieder auf den Stuhl, der neben ihrem Bett stand. Dort saß sie ohne Regung. Es war wohl so, daß sie auf den Tod wartete, damit er sie zu ihrem Sohn brächte, der in der Sturmnacht gekommen war, um sie zu mahnen. So glaubte sie es und es schien, daß sie fürchtete, den Tod zu verpassen, wenn er an ihr Bett träte.

 


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