Willy Seidel
Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
Willy Seidel

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Herr Brecht hat Grund, sich zu wundern

»Das genügt«, hatte der eingebildete Bursche gesagt.

Der saß nun im Rauchzimmer, das er gepachtet, in einem Stuhl, den er gepachtet, und blies seinen Rauch gegen die Stuckdecke.

Ein Herrenbenehmen, kann man wohl sagen, eine verdammt selbständige Art . . .

Herrn Zinkeisens Gemütserleichterung hatte nicht den gewünschten Erfolg. Seine Brust unter dem tadellos gestärkten Hemdeinsatz atmete beklommen. Eine Faust preßte sein Herz langsam zusammen wie bittersüße Qual. Diese Pulsbeschleunigung dauerte an; er spürte sie in den Fingerspitzen. Die Unlustgefühle ob des ergebnislosen Interviews wuchsen sprunghaft. Er hielt sich noch ein Stündchen im Saal auf, stellte die »Fassade« und »wirkte«. – Dann aber, fühlte er, könne er den inneren Zusammenbruch nicht länger vertuschen und empfahl sich vom Schauplatz in unantastbarer Haltung.

Er ging zum Büro und fand den jovialen Herrn Brecht damit beschäftigt, Geldkursberechnungen aufzustellen. Breit, wie ein gesättigtes Amphibium, beide Ellenbogen aufgestützt und den Bauch mit der seidenen Weste gegen die Kante des Tisches gepreßt, lag dieser Herr über den Papieren, und in seinen slawischen, leicht tränenden Schlitzaugen war ein glückverlorenes Lächeln entstanden.

Ohne aufzusehen, winkte er mit dem Bleistift. – »Kleinen Moment«, murmelte er. – »Ich bin gleich fertig.«

Der Aufseher ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen, so schwer, abschließend und gelockert, daß der Buchhalter flüchtig aufblickte.

»Müde, was?« grunzte er. – »Kleinen Moment bitte.«

Schnaufend saß Herr Zinkeisen da und blickte stier auf jene fette rötliche Hand, die eine zierliche Kritzelschrift am Rand des Papiers entstehen ließ. Ein großer Brillant warf im Schein der Tischlampe scharfe Lichthiebe in das Dunkel.

Wie hypnotisiert folgten seine Augen den spärlichen Bewegungen, und ohne daß er's verhindern konnte, hatte sich aus dem Tröpflein Galle lawinenartig eine anschwellende Wut entwickelt, die ihm den ganzen Menschen zu sprengen drohte.

Diese Wut richtete sich nur teilweise auf Herrn Brecht. Dieser war ja eigentlich nur ein Statist, wenn auch ein in den Vordergrund geschobener. Erfüllte die ganze Umgebung den Aufseher schon mit Abwehr und Schmutzempfindung, so gab es ein Loch, in das alle diese Leiden hineingesogen wurden. Das war das runde, satte und gleichgültige »No« des Mannes im Klubsessel draußen im Rauchzimmer; jenes Mannes, der auf dem kranken Leib Europas mit der Reitgerte hockte und Rauchringe dazu blies.

Man ist ja nicht von seinem Schlag, das gibt man ja zu . . . dachte Herr Zinkeisen dumpf. – Aber ein bißchen sehr plötzlich wird man auf die eingeseifte Rutschbahn gesetzt und landet weiß Gott wo. Verdient habe ich das nicht. Das ist mehr als Eitelkeit; mehr als Selbstgefälligkeit; das ist verdammte Provokation. Als ob er nicht gleich mir über den Scherbenberg hätte hinüberklettern müssen! Er hat es leichter gehabt mit endlosen Konserven und Güterzügen voll guten Tabaks hinter sich. Ich habe ihn den ganzen Krieg über ehrlich beschossen, und er hat mir sein ehrliches Dynamit zurückgeworfen; allerhand explodiert ist zwischen uns. Nun aber ist das Match ganz und gar vorbei. Was berechtigt diesen Burschen, mir ungebeten die Würmer aus der Nase zu ziehen?

»Kleinen Moment, bitte«, grunzte Herr Brecht und zog Schlußstriche unter seine Zahlenkolonnen.

›Ich bin ein Mensch,‹ ging Herrn Zinkeisens trübe Überlegung weiter, ›der was auf sich hält. Keiner, und mag er herkommen wo er will, hat die Berechtigung, mir krumm an den Wagen zu fahren. Tue ich nicht meine Pflicht? Man ist doch solid, man hat doch zu dem ganzen Unfug nichts beigetragen! Im Gegenteil, geglättet hat man, wo man konnte, Sprachen gelernt, mitgemacht . . . Gibt wohl wenige wie mich, und nun auf einmal kommt einer von denen da‹ – Herr Zinkeisen machte eine Daumendrehung nach dem Westen – ›und will mir erzählen, wer er ist . . . Reibt mir unter die Nase, was ich in seinen Augen bin, als sei es eine Schnupfprise, und verabschiedet mich wie einen kleinen Laufjungen . . . Das hätte mir damals passieren sollen! Das hätte mir nur passieren sollen!‹

Er war aus seiner Lethargie erwacht; er sprach die letzten Worte laut in das kleine Büro hinein. Herr Brecht, der sie als Anrede mißverstand, zuckte zusammen und verrechnete sich um einige Dezimalstellen.

»Wie, bitte?« fragte er halb abwesend.

Herr Zinkeisen war genau so erschrocken. – »Nichts«, stotterte er. »Man plaudert ein wenig mit sich selbst, während andere verdienen . . .«

»Ja!« schrie der Buchhalter jetzt fröhlich und klappte sein Hauptbuch zu. »Dann ist man ja auch in ehrlicher Gesellschaft. Die einzige Ansprache, bei der man auf seine Kosten kommt! – Aber, Zinkeisen, Sie machen mir einen versonnenen Eindruck. Was ist denn mit Ihnen los, alter Knabe, seit vorgestern? Erzählt man mir nicht, daß Sie anfangen mit dem Alkohol zu äugeln? Klopfen Sie dem Liftjungen einmal kräftig auf den Arsch, er verdient es, das Rotzmaul . . . Und nun, wie steht's sonst? Wollen Sie auch ein kleines Geschäftchen machen? Ich kann mir ja denken, wie schwer es ein ehrlicher Mensch haben muß . . .«

Eine merkwürdige Wandlung ging in Herrn Zinkeisen vor. Unter anderen Umständen wären ihm die weindunstenden Worte, die zwischen den Goldplomben dieses satten Mundes hervorquollen, als Herausforderung erschienen. Heute jedoch nahm er alles auf die leichte Achsel. Er fand sich erschreckend leicht in den Ton hinein.

»Ganz treffend, was Sie da äußern«, sagte er mit seiner schneidenden Hamburger Stimme. »Sie haben es erfaßt. Das ist mir gestern schon klar geworden. Ich habe mir allerlei überlegt in der jüngsten Zeit. Schwerwiegendes, meine werte Person betreffend. Sie haben recht, daß Sie Devisen hamstern. Ich bin ein Esel, daß ich's nicht selbst getan habe.«

»Das ist doch wohl zuviel gesagt«, beruhigte Herr Brecht. Er reichte eine große Zigarre hinüber, und in seinen schiefen Augen glomm Erwartung.

»Nein, nein, keine Beschönigung. Es wird einem nichts geschenkt. Aber es wird Sie weiter nicht erstaunen, wenn ich den Kram nunmehr über die Schulter werfe.«

»Wie bitte? – Über die Schulter werfe . . .?«

»Ich baue ab, damit Sie mich richtig verstehen. Ich kündige. Nicht heute und nicht Ihnen; aber es muß sein, daß ich's Ihnen sage; morgen komme ich hier herein und kündige, und damit Gott befohlen.«

Herr Brecht war so verblüfft, daß ihm die Zigarre langsam aus den Lippen glitt und mit dem glühenden Ende voran auf dem Tisch landete, Asche verspritzend. Er säuberte seine Umgebung mit Gepuste und Gewische. Dabei dachte er angestrengt nach. Ein toller Fall war dies, eine psychologische Angelegenheit. Wenn ein Seelöwe plötzlich, Flossen voran, durch die aufkrachende Tür ins Büro gefallen wäre, er wäre kaum verblüffter gewesen. Aber er war ein Mann der praktischen Vernunft und brauchte nicht lange, um sich zu fassen.

»Das kommt mir überraschend«, sagte er endlich. »Sie wissen, man wird Sie sehr entbehren, und wie gedenken Sie . . .«

»Ich gedenke vorläufig einfach abzubauen, durchzubrennen, wegzureisen . . . Über die Grenze . . .«

»Aha! Also doch Amerika!«

»Nein. – Vermutlich Indien. Zunächst einmal als Obersteward. Muß mich eindecken, und dann bliebe ich unten. Verhungern wird man nicht.«

»Hm – hm«, meinte Herr Brecht nach einer Pause. »Die Idee ist gut. Haben Sie Beziehungen? Glauben Sie . . .?«

»Es wird schon gehen«, sagte Herr Zinkeisen streng. »Man weiß doch, wer man ist und an wen man sich wendet.«

»Schön, daß Sie das alles schon wissen. Ich wollte, mir ginge es ähnlich. Na, und Ihre Frau Gemahlin?«

»Das ist noch ein anderer Punkt«, sagte Herr Zinkeisen und schluckte mehrmals hinunter. »Ich bin geneigt, meine Frau einige Zeit sich selbst zu überlassen. Hier ist eine Gelegenheit für Sie, zu einer einwandfreien Buchhalterin zu kommen. Das wird Sie entlasten, Herr Brecht. Meine Frau beherrscht die Routine, sie stenographiert, sie tippt wie ein Sturmwind, sie erledigt Ihre Korrespondenz und Sie haben dann mehr Zeit für sich selbst?«

Herr Brecht glotzte ihn an. Dies war die zweite Überraschung, und was für eine!

»Und Ihre Frau würde hier . . .«

»Ganz richtig«, sagte Herr Zinkeisen. – »Hier im Büro würde sie sein. Sie wären ihr Vorgesetzter. Die Festsetzung des Gehaltes wäre« – und er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte – »Ihnen überlassen.«

»Sie wissen,« sprach der Machthaber, »ich war immer Ihr Freund, Zinkeisen.«

»Ich weiß ein Vertrauen zu schätzen. Wir reden nicht weiter darüber«, äußerte der andere im selben schwebenden Schulmeisterton. »Wir reden kein Wörtchen darüber. Sie werden sie gut behandeln, und ich verdufte auf einige Zeit. – Ich brauche Seeluft und Leute von Welt.«

»Originell . . .«, bemerkte nun, völlig erholt, Herr Brecht und schlug sich auf den von gestreifter Hose prall umsponnenen Schenkel. »Ich bin ganz erstaunt, Zinkeisen, daß Sie so praktisch denken! Natürlich machen Sie das! Was sollten Sie auch sonst machen! Das Naheliegendste!« Er drückte auf eine Klingel, die unter der Tischplatte eingelassen war. Dem hereintretenden Kellner gab er den Auftrag, eine Flasche Sekt mit zwei Gläsern zu bringen.. Munter geschwellt, erhob er sich von dem drehbaren Sessel und schritt an der Wand hinter dem Tisch hin und her. In leichtem Plauderton warf er des weiteren hin: »Dachte ja immer schon, Sie müßten einmal Vernunft annehmen. Gerade Ihnen, so dachte ich, müßte der ganze Betrieb einmal aus dem Hals herauswachsen. Grundvernünftige Kalkulation das Ihrerseits Zinkeisen. Sehen Sie, und dann kommen Sie einmal zurück, wenn wir stabilisiert sind, und dann sind Sie vielleicht derjenige, der uns alle in die Tasche steckt . . .«

Herrn Zinkeisen entging diese gute Laune nicht. – Aber es war ihm fabelhaft gleichgültig.

»Sie haben mir«, sagte er, »gestern so dringend nahegelegt, Devisen zu kaufen. Gestern hatte ich das Gefühl, es sei noch nicht nötig, da ja am selben Tag herausfliegt, was der Tag bringt. Doch heute sieht das Thema anders aus, und wir werden uns verständigen. Ich habe natürlich Spesen, bis ich eine neue Position finde, und dann ist es angemessen, mich wertsicher einzudecken.«

Der Kellner erschien mit der Flasche Sekt. Herr Brecht schenkte die Gläser voll. Dann erhob er das seine anstoßenderweise und sagte schallend: »Na, prost. – Wieviel brauchen Sie denn?«

»Sie kennen mich. – Ich glaube, daß man mir Kredit einräumen kann.«

»Selbstverständlich. – Sie sind die Seele der Korrektheit . . . Die einzige noch nicht geborstne Säule, die von verschwundner Pracht zeugt . . .«

»Sagen wir – fünfzig Dollar.«

Herr Brecht verschluckte sich ein wenig, hustete und schloß die Augen. Er sah aus wie ein meditierender tibetanischer Mönch.

»Eine unerhörte Summe«, flüsterte er.

»Bin ich Ihnen nicht gut für fünfzig Dollar?« fragte Herr Zinkeisen eindringlich mit aufgerissenen blauen Augen.

»Eine tolle Summe.«

»Können Sie denn die Schublade überhaupt noch aufkriegen, so voll gepfropft haben Sie sie bereits . . .?«

»Danke!« sagte Herr Brecht jetzt geschäftsmäßig und blickte nach der Schublade wie nach einem verdächtigen Gegenstand – »danke, mit einiger Mühe, ja.« Zögernd faßte er nach den Schlüsseln in der Hosentasche, und während er wie selbstvergessen noch damit klimperte, blickte er plötzlich auf.

»Wann übrigens – wird Ihre Frau den Posten antreten?«

»Übermorgen.«

»Ganz recht. – – Natürlich steht Ihnen das Geld zur Verfügung. – Wollen Sie bitte eine kleine Quittung unterschreiben und mir auch die Namen von Leuten angeben, – – sollten Sie unerreichbar oder unabkömmlich sein . . .«

»Gewiß.« – Herr Zinkeisen schrieb eine vorbildliche Quittung, die der Buchhalter leger in seine Tasche versenkte. Hierauf zählte er ein Bündel von fettigen grünen Scheinen ab und überreichte sie ihm.

»Mein heutiges Gehalt von zweieinhalb Dollar gleich zehn Millionen wird gleich abgezogen. – So sind es nur noch siebenundvierzig Dollar und fünfzig Cent«, sagte Herr Zinkeisen langsam und korrekt. »Im Notfall setzen Sie sich vielleicht mit meiner Frau auseinander, wie meine übrigen Werte zu verflüssigen wären . . .«

»Nanu, Werte?«

»Sagen wir einige erstklassige Möbel, ein Wohnrecht, manches andere . . .«

»So, erstklassige Möbel?«

»Schöne Bilder«, fügte Herr Zinkeisen schnell ein. »Reizend gehäkelte Decken . . . Die Möbel sind gut gefedert . . . Das Bett, zum Beispiel, Herr Brecht! – ist beste Messingware . . .«

»Hmm. – Das ist ja schön. Aber Sie sind mir gut für drei Jahre mindestens.«

»Bestimmtestens«, versetzte Herr Zinkeisen. »Auf alle Fälle werden Sie entschädigt.« Er stand auf, trank sein Glas mit einem Schluck leer, gab Herrn Brecht einen biederen Händedruck, verbeugte sich kurz in der Tür und ging ab.

Der Buchhalter saß bewegungslos da und blickte mit zusammengezogenen Lidern auf den breiten Rücken, der sich entfernte. Die Zigarre, von seiner Zunge gewälzt, rollte langsam von einem Mundwinkel zum andern.

Noch einmal der Musterkoffer

Herr Zinkeisen ging diesmal nicht zu Fuß nach Hause, sondern erkletterte das Dach eines Omnibusses. Er verabscheute, seiner Dollars wegen, die schlecht beleuchtete Straße. In seine Wohnung hinaufgelangt, spürte er zunächst das Bedürfnis, scharf nachzudenken.

Er kannte sich selbst kaum wieder. Er gab sich aber auch durchaus keine Mühe, die eigene Bekanntschaft zu erneuern.

Im schwarzen Rahmen der Schlafzimmertür schwebte ein blasser Fleck, und dieser, das wußte er ohne hinzusehen, war das Gesicht seiner Frau. Er tat so, als sei er allein. Er rumorte umher, pfiff vor sich hin, hängte seinen Frack umständlich in den Wandschrank und entnahm diesem seinen hellgrauen Tagesanzug, den er über eine Stuhllehne breitete. Dann kramte er irgendwoher einen großen Handkoffer hervor, legte ihn in die Mitte des Zimmers und öffnete ihn.

Während er den Koffer anrührte, sah er die Hotelmarken, die er wie Heiligtümer geschont hatte. Bunte Hotelmarken aus aller Welt, rund oder eckig. »Luxor« stand darauf, »Khartum«, »Colombo«, »Singapore« . . . Alles hübsch nebeneinander, chronologisch sozusagen und maßlos verführerisch.

Er kannte diesen Koffer wie einen alten Freund. Sorgen und Hoffnungen hatte er in ihn hineingestopft, alles erdenkbare Gemütsgepäck, und das war gut verschlossen gewesen in der treuen Gruft aus Kalbleder. Irgendwelche Gerüche spukten darin. Die kamen nicht nur von der Gerberlohe; das war der Äquator.

Die Zeit träufelte siedendes Öl in sein Herz.

»Warum gehst du nicht schlafen?« kam auf einmal eine träge Stimme aus der Schwärze hervor, und mit der Stimme trat ein Geschöpf in den Lichtkreis der grünen Lampe; mit aufgelösten Haaren und in fußlangem Hemd. Er hörte das leise Knarren der Dielen unter nackten Sohlen. – Spreizbeinig stand er da und sagte etwas heiser, und ohne sie anzusehen: »Ich packe.«

Sie trat schnell herzu und faßte ihn am Ärmel.

»Du packst . . .?« stammelte sie. »Mach keine Witze!«

Das schweißfeuchte Haar hing ihr wirr ins Gesicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Er tat ihre Hand vom Ärmel und sagte: »Ich war nie weniger zu Witzen aufgelegt, Mathilde.« Wie ein menschlicher Automat ging er in die Küche, trug die halbgeleerte Flasche, doch diesmal mit zwei Gläsern, herzu und machte es sich in dem schönsten, mit Quasten garnierten Fauteuil bequem. Sie beobachtete sein Gehaben mit offenem Mund wie ein Naturereignis. Dann, als er saß, schob sie ihren nackten Arm um seine Schulter. – – Auch diesmal befreite er sich, fast unwirsch. Sie stand mit zitternden Knien.

»Herr du meiner Seele, was ist denn eigentlich mit dir los, Edmund? Du schmeißt das Geld im Zimmer herum . . . du trinkst; . . . was ist passiert?«

»Passiert ist noch nichts. Aber es wird was passieren«, murmelte er und begann wie ein Automat allerhand Gegenstände herbeizuschleppen. Um dem riesigen Fragezeichen endlich gerecht zu werden, das er verursacht hatte, fuhr er abgerissen fort: »Ich gehe eine Weile ins Ausland . . . ich habe dies Leben sterbenssatt . . .«

»Ins Ausland??« Sie ging im Zimmer umher, gedankenlos geschäftig, als ob es am hellichten Tage sei. Sie zupfte an Tischdecke und Stuhlkissen, sie »räumte auf«, wie sie es viele einsame Stunden hindurch ununterbrochen tat, während derer sie »raffte«, richtig stellte und gerade rückte, was nie schief gestanden war . . . Das machte das öde, unerfüllte Alleinsein. Er kannte das. Es war grotesk. Sie wollte es nicht wahr haben, was sie gehört; es war gar nichts gesprochen worden. Sie wollte es ihm gemütlicher machen. Haßte er nicht alle Unordnung?

Und doch, nicht wegzuzaubern, mitten in diese Ordnungszelle hineingeschleudert lag das Symbol des Zigeunertums, der große offene Kalblederkoffer, klaffend wie ein schnappendes Maul mit Messingzähnen . . . Sie strählte sich mit den Fingern die Haare von der Stirn und schielte verkniffen nach den Hotelmarken. Wie Aushängeschilder der Unterwelt leuchteten sie bunt zu ihr hinauf.

Sie fiel in die Knie, quer über den Koffer, und ihre Hände öffneten sich mit kratzender Bewegung, als wolle sie diese marktschreierisch orangefarbenen und karminroten Papierchen, diese fremden, gefährlichen, unverständlichen Amulette herunterreißen, die der liebe Gott nicht bloß auf den Koffer, sondern auch auf Herrn Zinkeisens inneren Menschen als Pfandzettel geklebt . . . Doch die »Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten« – die hätte sie nie und nimmer wegkratzen können.

»Jetzt nimm dich zusammen«, sagte er schmetternd. – Sie wischte sich mit dem nackten Oberarm mehrmals über Mund und Nase; Tränen und Speichel glitzerten auf der Haut. Sie stand auf, stolperte einmal über den Hemdzipfel, auf den sie trat, und wankte nach dem Sofa. Fortwährend stieg ihr trockenes Schluchzen in die Kehle. »Du fährst einfach weg?! Und mich läßt du hier in der Luft hängen?!«

»Ich denke, ich habe mich deutlich ausgedrückt. – Übrigens mache ich wahrscheinlich nur Saisonkontrakte . . .«

»Ja, und was wird mit mir?«

»Stenographieren sollst du. Briefe schreiben im Hotelbüro. Kündigen können sie dir nicht. Brecht wird schon entsprechend mit dir abschließen.« Er nahm einen Schluck, schlug die Beine übereinander und räusperte sich scharf. – In seiner Seele fuhr es fort, sanft zu rumoren. Unerhörte Aussichten schlängelten sich durch seine Phantasie wie fernlockende Höhenzüge, und auf diesem Traumpanorama machte sich das graue Schicksal dieser Kreatur völlig unbedeutend. Sie kannte ja nichts als ihren eigenen Horizont. Im Grunde genommen wurde sie jetzt von einem Tümpel zum anderen verfrachtet. Sache von Angewöhnung . . . Ganz großer Herr, trommelte er mit den Fingern auf der Tischkante. Ja, er trällerte sogar ein wenig.

»Was willst du eigentlich«, fuhr er flüssig fort. »Zehn Dollar lasse ich dir hier, ein Vermögen . . . Anständig behandelt wirst du dort . . . Schließlich hast du doch auch deine Verwandten, was? Du mußt doch einsehen, daß du einem unternehmungslustigen Mann – – nicht in die Speichen fallen darfst.« – Dieser letzte Satz war sehr schön und schüchterte sie gänzlich ein.

»Aber ich will dir ja gar nicht in die Speichen fallen!« rief sie eifrig, als ob sie sich dabei ertappt fühle. »Nimm mich doch mit!«

»Absolut ausgeschlossen, Mathilde. Das siehst du doch ein.« Er legte sein strenges Gesicht plötzlich in die gewohnten biederen Falten.

Sie wühlte mit den Blicken in seinen Zügen . . . Sie suchte . . .; dann sah sie hinter die Maske und schrie auf.

Sie warf sich aufs Sofa zurück auf den Bauch und verschränkte mit aufgestemmten Ellenbogen die Hände im Nacken, der sich wie ein Uhrwerk bewegte.

»Du lügst ja!« wimmerte sie, dumpf in das Kissen hinein. »Du hast ja gar nicht vor, zurückzukommen!«

Seine Biederkeit verflog. – »Rede keinen Unsinn«, sagte er ehern.

»Edmund, ich kenne dich. Diesmal lügst du mich an! Du willst mich los sein! Womit habe ich das verdient! Es ist dir hier nicht großartig genug! Das Hotel ist dir in den Kopf gestiegen! Du verachtest mich! Wenn du deinen Frack anziehst, bist du schon verändert . . . Aber heute wird mir's klar: Es ist nicht bloß der Frack . . .«

»Ru–uhe!!!« dröhnte das metallne Organ.

»Nein, ich schweige nicht!« Sie stieß mit beiden Beinen nach hinten. »Ich schweige nicht! Jetzt, wo du mich über Bord wirfst, habe ich auch ein Recht, den Mund aufzutun! So geschliffen ist man, so artig, so sauber! Ich puste dir was! Du bist noch immer der alte Zigeuner! Charakterlos bist du!« Sie schleuderte bei jedem Wort das Gesicht zurück, in seine Richtung; sie dehnte die Schultern, daß das Hemd zu bersten drohte. Sie war so unheimlich lebendig, wie Herr Zinkeisen sie nie gesehen; doch sah er ihrem Toben mit steinernem Gesicht zu.

»Mir scheint, du brauchst einen Kübel Wasser über den Kopf«, konstatierte er endlich monoton. Er trank wieder einen kräftigen Schluck. Er leckte sich die Lippen und rührte sich nicht. Er legte die Hände auf die Knie, und seine Augen wurden zu blauen Steinen.

Sie erschlaffte plötzlich. – Ein vollkommen fremder Mensch, der zuvor Herrn Zinkeisen beklemmend ähnlich sah, aber nichts mit ihm zu tun hatte, saß mit breiten Schultern dort im Stuhl . . . Saß dort wie eine treuherzige Kopie seiner selbst aus Wachs; und diese machte gewohnte Gebärden und glotzte mit runden, schlehenblauen Steinaugen zu ihr hinüber . . . Sie glitt plötzlich in die Ecke des Sofas und spannte die Arme um die heraufgezogenen Knie. Grübelnd betrachtete sie ihn. In das Zimmer sank eine Stille wie in einen Keller. Auf dem Teppich gähnte das klaffende Maul des Koffers. Die Uhr vom Schlafzimmer tickte herüber, sonst füllten die schweren Atemzüge der Frau alles aus. Unendliche Fremdheit hatte hier hineingegriffen. Alle vertrauten Gegenstände blinkten tot und feindlich. Sie begriff es kaum. Sie hatte ein Bedürfnis nach Wärme, doch sie konnte sich nicht an Holz anschmiegen oder an Tapeten.

Die Augen nicht von der Gestalt im Stuhl gelöst, glitt sie vom Sofa und verschwand im Schlafzimmer. Was mochte sie vorhaben?

Die Schwärze drüben wurde matt aufgehellt durch ihr Nachttischlämpchen; er hörte, daß sie es vor den Spiegel trug. Dort war sie eine Weile beschäftigt; dann ging das Licht wieder aus. – Währenddessen wuchs sein trunkenes Träumen ins Grenzenlose. – Doch auf einmal, kopfüber auf der Erde landend, erkannte er die Bedeutung der Geräusche und empfand Verdacht und Widerstand.

Denn sie trat wieder in den Lichtkreis. Als einzige Bekleidung trug sie einen japanischen Kimono, auf dem noch die schäbigen Reste ehemaliger farbiger Stickerei schimmerten . . . Der Obi fehlte; der trieb sich wohl als Putzlumpen irgendwo herum. – Er hatte ihr den Kimono zur Hochzeit geschenkt, und Wochen für Wochen hatte sie ihn allabendlich darin begrüßt. Heute trug sie ihn der Länge nach offen; zerschlissen sah er aus; wie ein Stieglitz in der Mauser; die Watte des Futters war geplatzt und hing strähnig aus den Schmetterlingsärmeln. Und als sie sich nun mit halb schüchternem, halb herausforderndem Lächeln am Platze drehte und die Ärmel hob mit verbissenem Willenskrampf, mit letztem täppischem Aufgebot halbzerstörter Gefallsucht –, wuchs statt der ehemaligen Berauschung nur die Entfernung des Widerstandes; nur der Ekel am Kontrast . . .

Schnellen Schrittes, mit kleinem, fragendem Aufschrei, lief sie plötzlich auf ihn zu und versuchte, sich an ihn zu schmiegen . . .

Sie fühlte sich zurückgedrängt. Und diese Abwehrgeste war so unnachgiebig, daß sie in denselben Schritten nach rückwärts tappte und zu Boden glitt. Durch einen Schleier sah sie, daß der Automat im Stuhl langsam sich erhob und auf sie zukam . . .

Dann wurde es schwarz um sie. –

Herr Zinkeisen brachte sie zu Bett. –

»Gott sei Dank,« dachte er dabei, »das wäre nun überstanden.«

Er brennt durch

Mit einem leichten Schreck fuhr er empor. Bleigraues Licht war in der Wohnung. Hastig drehte er sich nach der Uhr. Es war neun. Er hatte vorgehabt, um sechs Uhr aufzustehen. Aber vielleicht konnte noch verhindert werden, daß sie mit zur Bahn kam.

Er betrachtete sie vorsichtig, noch war sie in bleiernem Schlaf. Sie war ihm gleichgültig. Nichtssagend war sie und gewöhnlich; und dazu dies bleigraue Licht.

Schier lautlos schob er sich aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer hinüber, die Tür schließend. Ab und zu gespannt auflauschend, stapelte er Wäsche und Anzüge in dem Koffer an. Den Frack, das Symbol seiner Würde, ließ er im Wandschrank hängen. Er wußte, wie man sich in den Tropen kleiden mußte.

Allerhand warf er noch in den Koffer, was ihm zufällig zwischen die Finger geriet, mit konfusen, hastigen Bewegungen. Dann machte er eine Pause.

Der Paß, jawohl, das Visum mußte in Hamburg besorgt werden. Das braucht nicht hier zu geschehen. Er zählte zehn Dollar ab und legte sie auf den Tisch.

Mit schnellen Griffen zog er sich an – (was wenig Zeit kostete, da er anläßlich der gestrigen ungewohnten Gemütsorgie noch halbbekleidet ins Bett geraten war) – versäumte nicht, die kleine Bürste auf der Oberlippe und die Frisur schnell mit ein paar Tropfen Orangewasser zu behandeln, ergriff dann den Koffer und schlich sich ins Treppenhaus. Eine Beklemmung saß ihm ums Herz, wie er sie stets empfunden, wenn er sich bei Sonnenaufgang auf die Reise begab und große Pläne aus grauer Frühe keimten . . . Es war ein halbes Gefühl der Unsicherheit, ein Tappen . . . so ist es immer, wenn man sich von Altgewohntem losreißt, und sei es auch nur für Monate. Mit so unendlich vielen Widerhaken ist die Seele an Gewohntem verankert.

Schier versonnen gelangte er auf die Straße, warf sich in ein zufällig vorbeikommendes Auto und fuhr zum Hotel. Wenn nichts dazwischen kam, so würde ihr bleierner Schlaf dort droben noch eine gute Stunde währen. Er sah sie vor sich, gelöst, hilfsbedürftig und zerzaust, aber er schob das Bild zu den anderen nach hinten, ganz von sich weg.

Im Hotel angelangt, ließ er den Handkoffer im Auto und ging zwischen Scheuerfrauen hindurch, die den ungewohnten Zeitpunkt seines Erscheinens tuschelnd hinter ihm besprachen, zum Zimmer des Hoteldirektors, der, wie er wußte, relativ früh auf dem Posten war. Der Direktor war ein Mann mit einem gepflegten Vollbart, der soeben sein Frühstücksei verzehrte. Verblüfft blickte er auf.

»Nanu, Herr Zinkeisen, was ist denn passiert?«

»Es ist nichts passiert, Herr Direktor, aber ich sehe mich veranlaßt, zu kündigen.«

Der Direktor stand auf und blickte ihn mit braunen Augen prüfend an. »Darf ich fragen?«

»Ach, Herr Direktor, es hängt eigentlich mit keiner greifbaren Ursache zusammen. Ich fühle, daß ich mir ein wenig Bewegung machen muß. Ich bin sehr zufrieden mit dieser Stellung hier; aber ich brauche eine andere Betätigung.«

Der Direktor strich sich den Vollbart und ging sinnend auf und ab. »Bedaure ich sehr, Herr Zinkeisen. Sie waren einer der wirklich soliden Angestellten hier, auf die man sich noch verlassen konnte. Es kommt mir ein bißchen plötzlich.«

»Ja, Herr Direktor, aber diese Zeit verlangt Plötzlichkeit. Ein paar Zeilen, wenn Sie so gut wären.«

»Haben Sie denn schon etwas in Aussicht?«

»Vielleicht. Jedenfalls wird mir eine Bestätigung von Ihnen dazu verhelfen.«

Kopfschüttelnd ging der Direktor an sein Stehpult und fertigte ihm die Abschiedsworte aus, die Herr Zinkeisen sorgfältig in seiner Brieftasche versenkte. Sie fühlten beiderseits, daß weitere Erklärungen überflüssig seien.

Als er die Treppe wieder hinabstieg, bemerkte er den schwarzhaarigen Kellner, dem er den Dienst an dem bewußten Tischchen abgenommen hatte. Dies rief eine Gedankenverbindung in ihm hervor.

»Drechsler,« sagte er, »ich gehe jetzt, ich verabschiede mich, und überbringen Sie den anderen Kollegen meine Grüße. Sagen Sie ihnen, ich hätte ein wichtiges Geschäft zu machen, das keinen Aufschub duldet. – Übrigens«, setzte er mit einem leichten maliziösen Lächeln hinzu, »werde ich Sie von jetzt ab nicht mehr hindern, Trinkgelder einzunehmen. Sie wissen schon, an dem Ecktischchen dort drüben.«

»Herr Zinkeisen meinen die Engländer. Die wollen heute abend nach Wien weiterfahren.«

»Soso«, sagte Herr Zinkeisen. Er blieb eine Weile unschlüssig stehen und wiederholte dann schier mechanisch: »Nach Wien, sagten Sie.«

»Nun, derlei Herrschaften bindet ja nichts«, sagte Herr Drechsler scherzhaft. »Man ist einmal hier, einmal dort.«

»Sehr richtig bemerkt.« Herr Zinkeisen sah im flackernden Blick des Kellners einen haltlos umhergehetzten Neid.

»Sie haben es gut, Herr Zinkeisen, auch Sie bindet nichts. Sie gedenken außer Landes zu gehen.«

»Das kann wohl stimmen, Drechsler. Ich nehme meine Beschäftigung von früher wieder auf.«

»Ah, Indien«, murmelte der Kellner mit schlaffen Lippen. Die Serviette rutschte ihm unter dem Arm hervor und fiel zu Boden. Er merkte es nicht einmal. »Sie gehen nach Indien.«

Und während sich der Aufseher und nunmehrige Weltreisende von ihm fortbewegte, stand er noch ein paar Sekunden da und ließ etwas ganz Großes, Krauses in seinem Hirn entstehen. In einer oder zwei Stunden würde das ganze Hotel, dessen war Zinkeisen sicher, vom Liftboy bis zum letzten Küchenmädchen hinunter, sich an dem mystischen Worte »Indien« berauschen. Ein letzter Gang war noch zu Herrn Brecht.

Dieser war auch schon auf dem Posten, denn man mußte es ja. Man mußte die entschlüpfenden Werte von gestern noch am Schwanz erwischen, ehe sie schrumpften. Herr Brecht war verkatert, so schien es, oder war dies seine gewöhnliche Morgenstimmung? Seine slawischen Augen hatten sich hinter etwas verschwollenen Lider verkrochen. »Na«, sagte er, sich erhebend und schnell wieder zurückfallen lassend, »ich wünsche Ihnen alles Gute, Zinkeisen. Was abgemacht ist, bleibt abgemacht. Sie wissen schon. Und der Schreibtischstuhl dort«, er deutete mit dem Bleistift nach der Ecke, »ist schon für Frauchen vorgewärmt.« Der Humor dieser Bemerkung fand kein Echo.

»Ich habe meiner Frau Mitteilung gemacht«, sagte Herr Zinkeisen sachlich, »daß sie hier einen Vertrauensposten übernehmen soll.«

»Vertrauensposten? Ganz richtig!« pflichtete Herr Brecht bei, und ein leises Lächeln umspielte seine prallen Lippen. »Gutbezahlter Vertrauensposten. Übrigens, wann geht Ihr Zug? Wenn Sie eilen, erwischen Sie noch den zehn Uhr fünfzehn Hamburger.«

»Ja, ja, ja,« sagte Herr Zinkeisen, »dann ist es wahrhaft äußerst eilig. Leben Sie wohl.«

Er eilte nach einem nochmaligen Druck der weißen Reptilhand des Buchhalters durch die Halle hinaus zum wartenden Auto. Es war vier Minuten vor der Abgangszeit, als er am Bahnhof anlangte. Während er in der kleinen Kette von Menschen, die vor dem Schalter stand, fiebernd wartete, überkam ihn auf einmal die Angst vor der Möglichkeit, seiner Frau noch einmal zu begegnen. »Lächerlich,« sagte er dabei, »das ist ja gerade, als ob ich auf der Flucht wäre!« – Aber er spähte trotzdem ständig nach dem Eingang hin und war sehr erleichtert, als er das Billett in Händen hielt und im Laufschritt zum Zuge eilte.

Kaum hatte er einen Blick auf den Perron geworfen, da sah er sie. Ja, das mußte sie sein. Sie wandte ihm den Rücken zu. Es waren vierzig bis fünfzig Schritte Entfernung. Spähend die Hände in die Hüften gestemmt, in zugeknöpftem Regenmantel, der wohl ihre hastige Toilette verstecken sollte, ein gelöstes Schuhband am rechten Fuß, so ging sie anscheinend, zu allem entschlossen, die Wagenreihe hinunter.

Er erhaschte ihr Profil, und nun war es ihm zur Gewißheit. Hier hatte er das Billett, im nächsten Moment würde das Signal zur Abfahrt ertönen.

Hastig ergriff er den Koffer und trat den Rückzug an. Sein Gesicht war fleckig, seine Zähne setzten sich hart aufeinander. Er mußte einen anderen Zug benutzen. Er war der Begegnung auf einmal nicht mehr gewachsen. Er fühlte, daß er sich hinreißen lassen werde, daß er brutal sein müsse, und alles, was an Respekt vor Ordnung und Öffentlichkeit in ihm saß, wehrte sich dagegen. Sollte er, ein Herr von Welt, sich von einer zeternden, schlampigen, gewöhnlichen kleinen Person eine Szene machen lassen?

Der Wartesaal dritter Klasse war es, wo sie ihn wohl am allerwenigsten vermuten würde. Er ging in die hinterste Ecke und setzte sich mit dem Rücken gegen die Drehtür. Sie würde wohl kaum den Bahnhof durchstöbern, wenn der Zug abgefahren wäre, sondern ihn noch im Hotel vermuten. Jetzt hieß es, ruhig Blut zu behalten und auf gute Art wegzukommen.

Er zog die Uhr. Der Zug mußte fort sein. Nach weiteren zwanzig Minuten konnte er wohl riskieren, sich nach einer anderen Möglichkeit umzutun, ohne ihr in die Arme zu laufen. Er ließ sich ein Kursbuch bringen. Das Billett verfiel ja nicht, und wenn er auf einer Strecke einen Personenzug benutzte, so bekam er vielleicht noch etwas herausbezahlt. Er stellte fest, daß in zwei Stunden ein passender anderer Zug gehen werde, und verließ den Bahnhof am hinteren Portal.

Hier befand sich eine kleine Parkanlage, etwa einen Morgen groß, von Fabrikbauten umgeben. Er betrat sie und landete bei einer Bank, auf die er sich niederließ. Ein ganz feiner Nebel herrschte, Dampfsirenen tönten, Hochbahnzüge rasselten in einiger Entfernung vorüber. Alles erschien ihm klebrig und feucht. Die Fabriken begannen, die letzten Nachzügler ihrer Arbeitskräfte aufzusaugen.

Es waren Stundenarbeiter, die kamen und gingen, wie man sie gerade brauchte. Sie fühlten sich, das sah man ihnen an, ausgenutzt mit der ständigen Möglichkeit, beim nächsten Termin auf der Straße zu liegen. Ihre Gesichter waren verhungert. Sie trugen einen zynischen Zug um den Mund, und bei keinem wohl fehlte die Schnapsflasche in der Rocktasche.

Auch Frauen und Mädchen in ähnlicher Verfassung kamen vorüber. Sie schenkten dem gutgekleideten bürgerlichen Herrn dort auf der Bank schiefe, hämische Blicke. Einige machten obszöne Bemerkungen oder streckten ihm die Zunge heraus. In ihren Augen war auch er ein Vampir, so treuherzig und wohlwollend er sie auch betrachtete. Aber, was unter anderen Umständen Herrn Zinkeisens hemmungsloses Mitleid erregt hätte, war ihm heute nur lästig. Unsauberkeit war das, Unordnung, und wert, zermahlen zu werden. Dieses gehässige Schimpfen und Plärren aus dem Proletarierhaufen heraus schlug wie eine schmutzige Welle herüber, vor der man ein wenig zurückwich. Sie konnten ihm nichts anhaben, sie wollten ihn zu sich herunterzerren, und sie würden es wohl auch fertigbringen; denn etwas wackelte bereits an seinem inneren Halt.

Aber noch hatte er das Billett in der Tasche, noch konnte er sich diesem entziehen und sich neu installieren mit Goldknöpfen auf einer weißen Stewardjacke, durch ein funkelndes Meer hindurchgondelnd, an dessen äußerstem Rande dieser Schlackenhaufen versinken sollte; und es packte ihn wieder diese Beklemmung um die Brust, so daß er tief aufatmen mußte. Es fröstelte ihn ein wenig . . .

Während er, wie vom Schwindel erfaßt, die Augen schloß, trat ihm das Gesicht des Engländers wieder vor das innere Auge.

Das war wo anders gewesen, ganz wo anders; und da blickten ihn die Augen grellblau aus dem tabakfarbenen Gesicht unter dem Helm eines Tropenhutes hervor wiederum an. Immer mehr gruppierte sich hinzu, bis Herr Zinkeisen auf einmal wie mit einer plötzlichen Erleuchtung eine Szene wiedererlebte.

Ja, er erlebte sie wieder. Er war wie in einer Trance.

Er saß hier in einem kalten, grauen, von blechernem Hämmern, Bahngerassel und Pfiffen durchsetzten deutschen Vormittag, vor sich den trostlosen Ziegelbau des Bahnhofs und weiter entfernt den Wald geschwärzter Fabrikschornsteine. Zwischen kümmerlichen, halbverdorrten Büschen saß er inmitten einer hungernden, schmutzigen Menschheit, die an ihm vorbeiflutete, und seine Seele war auf einer völlig anderen Ebene und sah mit anderen Augen ganz entschwundene, beklemmend fremdartige Dinge und feierte Wiedersehen mit ihnen . . . In dieser Verfassung fuhr er, nach einer Stunde, ab.

Die »Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten«

Ein deutscher Frachtdampfer führte, außer seiner Ladung und zwanzig Passagieren, noch einen schlecht bezahlten Speisesteward mit sich; namens Edmund Zinkeisen. Und dieser erbat sich unwirsch gewährten Urlaub vom Kapitän, um ein paar Stunden an Land zu gehen.

Man lag vor der Westwharf in Singapore; es war Mai 1923. Der englische Hafenbeamte hieb den Kontrollstempel in seinen Paß; er durfte also an Land bleiben »während des Aufenthaltes des Dampfers«. Das war das größte Entgegenkommen, zu dem sich das Britische Reich gerade noch verstieg; dieses war noch grimmig und an allen Weltenden von den Nervositäten der Nachkriegszeit durchzittert. – Vom Kapitän aus hatte Zinkeisen um Punkt acht Uhr abends wieder an Bord zu sein. Er hatte sich für diesen Ausflug umgezogen. Statt der verschwitzten Leinenjacke mit Messingknöpfen und Hosen aus blauem Tuch, seiner Schiffsuniform, trug er heute einen tadellos gebügelten Tropenanzug, in Port Said fertig erstanden und bislang streng geschont. Zu steifem, etwas zu hohem Kragen eine jauchzend grüne Binde; an den Füßen frischgeweißte Segeltuchschuhe; auf dem Kopf einen zerbeulten Korkhelm. – So angetan, gedachte er, wenn es sich irgendwie machen lasse, diese oder jene Geschäftsverbindung von 1914 tastend wieder aufzunehmen; er hatte in seinem Notizbuch die Adressen ansässiger Kunden zur Hand; er wollte forsch ins Zeug gehen und die paar Stunden ausschlachten; glückte ihm ein einziger Auftrag, so konnte er vielleicht bei Bolshagen, wo man ihn in der Revolution jämmerlich abgebaut, wieder unterschlüpfen und seinen Interims-Schiffskellner an den Nagel hängen . . .

Wenn auch noch ein Rest der alten Stämmigkeit in seinen Bewegungen ersichtlich war, so konnte doch nicht geheim bleiben, daß Zinkeisen an Format verloren hatte. Gut und gern dreißig Pfund. Sein Gesicht war jetzt glatt rasiert; seine Stimme leiser. Mit einer ausgiebigen Summe in U.-S.-Dollars in der Tasche (entnommen der sorgfältig geschonten Devisenanleihe bei Herrn Brecht) bestieg er einen der Sampans vom Fallreep aus und stieß ab, der Wharf zu.

Zunächst saß er, von dem Sonnefunkeln geblendet, das über dem bleichgrünen Wellengekräusel der »Brani-Shaols« wie ein Schleier lag. Er kniff die Augen zu; altbekannte Gerüche kamen heran im feuchten Wind. Das Hirn eingewiegt ins lässige Dämmerlicht des Lidblutes, atmete er tief, als sauge er dies Indien mit einem Zug in alle Poren zurück. Als sei es gestern gewesen, anstatt vor neun Jahren. – Dieselben Raubvögel, deren Flugspiralen sich überschnitten, tropften ihre hohen Geierschreie herab. Zerfetzte Blüten schaukelten im schillernden Abfall der Dampfer, und zuweilen schob sich der fahle Schatten eines Haies quer durch die Kiellinie des breiten, flachen Bootes. Zinkeisen blinzelte . . . Sein matter Blick traf die Lagerschuppen an den Werften, langsam wurden ihre Konturen plastisch, und grellweiße Regierungsbauten entstanden auf einem Hintergrund welligblauer, glutgebadeter Hügel . . . Alles war wie damals und rückte auf ihn zu mit weitgeschwungener, einraffender Geste. Indem sein Auge einen Ruhepunkt suchte, blieb es auf dem Rücken des Rudernden haften, der vor ihm saß.

Es war ein kräftiger Chinesenjunge. – Am Steuer hinter ihm hockte ein schwarzbraun gebrannter alter Malaie mit einem breitkrempigen, dunkelgrün lackierten Palmbasthut, in dessen Schatten sein Gesicht sich witternd und kauend regte wie das eines alten Bauernweibes.

Über die Schulter des Knaben hinweg erhaschte Zinkeisen den Blick des Alten; unverzüglich grinste dieser im Schatten des Topfhutes und sprach aus der Tiefe eines hohlgesungenen Brustkorbs, zwischen betelroten Zähnen hervor, einige offenbar speichelleckerische Worte. Affenschnelle Verzerrungen zerknitterten dabei sein Gesicht.

Der junge Ruderer drehte den Kopf und betrachtete ebenfalls höflich lächelnd den Fahrgast; er wiederholte die Worte des Alten mit heller Zwitscherstimme. Hätte Zinkeisen jetzt die alte biedere Maske, die frühere eiserne Miene aufgesetzt: flugs wäre das Gespräch eingeschlafen, und es wäre nichts mehr erfolgt. Er war aber diesmal so benommen und von Wiedersehensbeklemmung mit dem asiatischen Orient ergriffen, daß er zurücklächelte. Das war Wasser auf die Mühle der beiden.

Es ist zuviel gesagt, wenn man von Unterhaltung spricht . . . Es war ein sprunghaftes und stammelndes Sichverständigen in den paar malaiischen Ausdrücken, die er aus dem Gedächtnis grub, in ein paar Pidginbrocken, wie man sie die Malabarküste hinab gebraucht. Doch es genügte vollauf, um eine großzügige Heiterkeit im Boot wachzurufen. Der Herr scherzte; also hatte er Geld . . . Denn wer Geld hat, darf scherzen und kann sich alles kaufen . . . Während einer Pause, die durch das Vorbeistürmen eines graulackierten britischen Wasserwindhundes, eines Motorbootes der Zollbehörde, nötig wurde, schlief die Unterhaltung wieder ein, weil man aufpassen mußte, und Zinkeisens Blick verschleierte sich wieder und blieb in satter Gedankenlosigkeit auf dem Rücken des Knaben haften. Versonnen sah er unter der seidigen, elfenbeinweißen Haut die in mäßiges Fettpolster gebetteten Muskeln spielen . . . Dieser Rücken, elastisch bald gebogen, bald gestreckt mit den weich sich entfaltenden und zusammenrückenden Schulterblättern, befriedigte ihn dumpf. Unter dem zerfransten, schmutzigen Leinenhut quoll des Knaben schieferschwarzes, steifsträhniges Haar hervor; oberhalb des Gürtels, der die sackähnliche Hose hielt, feuchtete sich die Haut der Hüfte sanft von Schweiß . . . Das Motorboot war vorüber, und der Junge wandte wieder den Kopf. Nächtliche Pupillen schwammen im öligen Bernstein seiner Iris, in schiefen Augenkerben, seidig befransten, die wie hineingeschnitten saßen in die beingelbe Haut der vollen Wangen. Schlohweiße Zähne entblößten sich bis zum rosa Kieferfleisch. Mitten in Herrn Zinkeisens treuherzigen Hamburger Blick hinein lächelte das junge China. Das war irgendwie eine ungemütlich, schwer zu definierende und keineswegs alltägliche Sache . . .

Der Hafen trieb den süßlichen Duft des Dampferabfalls in seine Nase, und irgendwoher schwamm die Atembeklemmung gärender Stapelkopra, vermischt mit Teer.

Zinkeisen war es, als müsse er sich gleiten lassen. Er schwatzte darauflos; doch war ihm, als wolle man das Mark aus seinen Knochen saugen . . . Der nackte Leib vor ihm beschwor andere Bilder herauf, denen er sich nie hatte nähern dürfen, seiner Reputation halber, und an denen er damals mit unmutigem Stechschritt streng vorbeimarschiert . . . Er riß sich zusammen. Er setzte sich steif und bereitete sich auf die Landung vor. Man legte an der Wharf an.

Beide waren gleichzeitig eifrigst dabei, ihm aus dem Boot zu helfen. Der Junge stützte den Fahrgast beim Hinüberschreiten unter der Schulter. Dabei ließ er ihm ein kleines Stück Kartonpapier in die Außentasche der Jacke gleiten und lächelte ganz gewaltig, wie auf Vorschuß . . . Zinkeisen hatte den glatten Arm wohl bemerkt, der sich so flink an ihm zu schaffen machte, doch tat er so, als sei er blind . . .

Mit kühlem Paschablick entlohnte er den alten Fergen. Diesem half es nichts, daß er im Hinblick auf den Jungen etwas Krauses und eilig Eindringliches zu stammeln sich mühte. »Good boy«, hörte Zinkeisen heraus. »Good guide...« – Zinkeisen ließ beide stehen und trat auf die Straße. Die grellen Ansprüche des Lebens fegten die verschwommene Träumerei dieser Fahrt aus seinem Kopf.

Er holte sein Notizbuch hervor und gab dem Rikschakuli die erste der sechs Adressen, die er heute zu bearbeiten gedachte . . . Dann schwang er sich ins Gefährt und dirigierte, mit dem Rohrstock an die Schultern des Trabenden tippend, sein menschliches Zugtier.


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