Willy Seidel
Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
Willy Seidel

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Zehntes Bild

Larven oder die Beichte eines Sonderlings

Die Klausnerei

Verwunderlicherweise lebe ich noch.

Dies muß in Erstaunen setzen, wenn man hört, daß ich mehrere Male durch einen Zustand hindurchgegangen bin, der nichts anderes (ich prahle nicht!) als Tod bedeutet . . . mit all' dem dazugehörigen Zähnegeklapper, mit ankriechendem Frost, mit dem Schwebegefühl und der zerrinnenden Umgebung . . . Und dann dies Außer-sich-sein! – Hören Sie mir gut zu, meine Herren; es ist ein erstaunliches Erlebnis; es wird ein fürchterliches Fragezeichen durch die Tatsache, daß ich trotzdem noch »lebe« . . .

Hätte ich dies Fragezeichen siegreich am Schwanz packen können und zur Auflösung zwingen – ja, dann wäre alles gewonnen und wir wüßten, wüßten . . . Wenn nur die Katastrophe nicht erfolgt wäre, daß ich einen Blick durch das verbotene Fenster warf!!

Die »andere Ebene«! – Man kann das nur mit Flüsterworten sagen; hsch – hsch . . . Es ist zunächst ja nur ein Gedanke . . . Doch dann wird es real. Aus dem Zuschauerraum, aus unserer dummen dunklen Existenzform klettert man auf die Bühne, hinein in andersartiges Licht. Von dort blickt man zurück und hat den unerträglichen Anblick des leeren Kokons unten im Dunkel, der eignen gesprengten Hülle . . . Vielleicht ist dies falsch ausgedrückt, doch wer von uns, meine Herren, vermißt sich, ohne weiteres den passenden Ausdruck für solchen Zustand zu finden! – Kurzum: es ist eine Trennung da; und diese nennt man gemeinhin »Tod«.

Welchen Abgrund von Höllenpein durchkostet der Astralleib, wenn ein magischer Zwang in seine Ebene greift; wenn er den Befehlsschrei hört, den feindlich-fremden: »Lazare, komm hervor!!« – Dann muß er, fertiger Falter, zurückkriechen in die zersetzte Hülle, ins dumpfe zerfallende Haus, das schon alle Beschlagnahmesiegel der Verwesung trägt. Hat doch dieser Schock, meine Herren, mich selbst fast zersplittert, wenn ich in meine halb erloschene Puppe zurückkehrte, zu der sich nur noch hauchfeines Spinnenweb hinüberspann . . . Ich weiß jetzt, wie man es macht.

Ich werde hinausspazieren, wann es mir paßt, – dann aber auch draußen bleiben. Es tut halb so weh, dem Leib mit sardonischer Höflichkeit endgültig Adieu zu bieten, als zurückkriechen in den verhaßten Hampelmann. Das Wegbleiben ist ein Vergnügen im Vergleich zur tobenden Angst hinter den drosselnden Gitterstäben der Körperlichkeit. Darum sage ich Ihnen: ich bin bis jetzt im Leib geblieben, um Ihnen und der Menschheit einen Gefallen zu tun. Nämlich: seit unvordenklichen Zeiten ist man immer ungeheuer erpicht darauf gewesen, Positives über das »Fortleben« zu erfahren. Ich bin in der Lage, Ihnen einiges Endgültiges mitzuteilen; ich kenne das Drum und Dran . . . Nette Theorien hat man ja; wie die Pilze sind Spekulationen und religiöse Kartenhäuser seit jeher aufgeschossen auf dem ewigen Dünger dieser Neugier. Allerlei Mystagogen haben sich längst denselben Spaziergang geleistet. Sie erzählten davon in ihren Worten; doch die Zeit entwertet Worte! Selbst feste Begriffe – werden sie nicht dem Ohr der Jahrhunderte zur Mode? Immerhin – das Verständnis der Gegenwart ist besser geschult. Aufnahmebereiter, hellhöriger – nicht mehr blinder Magie ausgeliefert . . . Vielleicht bleibt also etwas hängen, etwas Nachprüfbares; und wenn Sie ein Resultat haben, meine Herren, dann sperren Sie's in Gottes Namen in Ihren terminologischen Stall . . .

Also: es ist kein Wunder, daß ich Marlies so liebte. Sie war in jeder Bewegung, jeder Miene, jedem Wort ein absolutes Ebenbild meiner verstorbenen Frau. Meine Frau starb – ob Sie sich dessen noch entsinnen? neunzehnjährig an der Geburt dieser Tochter. Sie fühlte ihren Tod im voraus, denn sie sagte mir: »Weine nicht, Mark. Du hast ja Marlies. Nach einer Weile ist sie groß und du bist nicht mehr einsam.«

Ich habe meine ganze freie Zeit, die mir die Bank ließ, dem Kind gewidmet. Nur dem Kind. Nur in den ersten Jahren, solange Marlies noch unmündig war, nahm ich einen Dienstboten. Ich wußte von nichts und dachte an nichts; nur das Kind war da . . . Man hat mich für einen ungeselligen, langweiligen Patron gehalten; mit Recht. Ich habe das Kind allein auferzogen. Sie saß in einem gläsernen Haus, und ich patrouillierte knurrend davor auf und ab wie ein Tempelhund.

Ein begabtes Mädchen, diese Marlies. Sie steckte voller Humor . . . Schon mit sechs Jahren tat sie Äußerungen, die verblüfften. Mit zehn konnte sie so weise Dinge von sich geben, daß man innerlich in die Knie sank. Streng und gerecht, das war sie; und in den letzten Jahren, bis zum großen Ereignis, herrschte ein so inniger Kontakt zwischen unseren Gedanken, daß jeder von uns im anderen las, wie in einem aufgeschlagenen Buch.

Sie nannte mich Mark. So hatte mich auch meine Frau genannt. Das Wort Vater fiel nie. Ich habe auch geistig keinen Augenblick einen Vollbart gestrählt oder einen Bakel geschwungen. Ich war wie ein Bruder; lächerlich eifersüchtig auf fremde Einflüsse . . .

Ich erwirkte die Erlaubnis zum Hausunterricht, dicke ärztliche Atteste – wiewohl dem Mädchen nichts fehlte als zwanzig Prozent Blut; ein wenig zart war sie, na ja – übrigens ergibt sich dies bei schnellem Wachstum. Der Hausunterricht schloß sie von der Schule aus.

Ich hatte sie so in der Gewalt, daß sie die Berührung mit anderen Kindern nie vermißte und ein hoffärtiges und unzugängliches Frauenzimmer wurde. Ich war der einzige Mensch, den sie längerer Ansprachen würdigte; den sie mit kameradschaftlicher Duldung um sich vertrug.

»Du amüsierst mich, Mark,« – war sie imstande zu sagen; – »du bist der einzige Mensch, der mich nicht langweilt.« – So ein Ausspruch klingt nach allerhand, wie? aus dem Mund eines vierzehnjährigen Backfisches, besonders wenn sie den eigenen Erzeuger meint . . . Es ist mir aber vollkommen gleichgültig, was ›man dazu sagen‹ mag. Selbst Ihre Meinung, meine Herren, spielt nicht die geringste Rolle. Übrigens war das Amüsement ganz gegenseitig; so ein schuldloser Zeitvertreib wie das Spiel mit hochtrabenden Worten wuchs üppig bei uns. Auch quälte sie mich gern. Sie wußte, daß ich ihr verfallen war. Aus einem verschmitzten Wissen heraus tat sie seltsame Dinge. Einmal erwischte ich sie, als sie sich eine kurze Pagenfrisur schnitt und neben den Spiegel das Bild meiner Frau gelehnt hatte.

»Was ist das wieder für ein Unsinn?« fragte ich.

»Nun,« sagte sie und handhabte die Schere mit mörderischer Zielbewußtheit – »einen ganz kleinen Unterschied muß es doch geben zwischen mir und ihr!«

Dabei zeigte sie auf das Bild. Meine Frau hatte ihr Haar in faustdicken Wickelflechten um den Kopf getragen.

Der Mensch ist ein ausgesprochenes Herdentier, meine Herren. Es tut nie gut, wenn er der Welt die Tür ins Gesicht schlägt. Selbstisolierung hat viel Autosuggestives; sie erzeugt falschen Hochmut. Außerdem wird man Zufällen gegenüber viel verletzlicher. Denn diese verdammten Zufälle – sie kriechen überall hinein, durch jede Ritze, und stellen uns ein Bein – es braucht nicht einmal ein organisierter Angriff von denen da draußen zu sein. Ein kaltes Lüftchen kann es sein, ein vagierender Giftkeim, ein böser Wunsch vielleicht nur wie eine Zufallsfledermaus beim Lampenschein . . . Dumm von mir, was, mich vierzehn Jahre lang abzuschließen?!

Da kannte ich die Herren von der Bank, nette, freundliche Kollegen. Es ist schauerlich, was ich bei ihnen verabsäumt habe. Beruflich konnten sie mich nie tadeln. Zum Prokuristen hat man mich avancieren lassen. Ich habe meine Stelle vertreten als saubere, gutgeölte Maschine, und der Chef sagte darum auch in schwierigen Fällen: ›Reisen Sie, Stirum; Sie sind unbeteiligt . . .‹ Alles prallte von mir ab. Der Löffel fand sich nicht, über den man mich balbierte. Und die Menschen, mit denen ich über große Summen verhandelte, wie Puppen kamen sie mir vor, denen Spruchbänder aus dem Munde hingen. Durchschaubar, riechbar war mir ihr Charakter. Ich betrieb eine Art von Hellseherei. Niemand konnte mir etwas vormachen, und daher stammte auch die hübsche Glosse des Chefs von meiner ›uninteressierten Unbestechlichkeit . . .‹

Mein Gott (werden Sie sagen) – ist das auch noch ein Mensch! Kann man denn der Gesellschaft so in die Zähne hineinleben! Ja, Sie haben recht; das Gesetz des Sozialen läßt nicht mit sich spaßen. So ein ehernes Menschheitsgesetz ist wie eine Walze; – sie schleift einen mit oder sie vernichtet einen. Da kannst du dich stemmen; vielleicht gelingt dir das sogar jahrelang, denn, von der Perspektive des winzigen Individuums aus, hat diese Walze ein Schneckentempo. So bildet man sich schließlich ein, daß man sich wirklich eine Klausnerei geschaffen hat inmitten der brodelnden Zivilisation. Aber auf einmal, unvermutet, werden die eigenen Füße doch unwiderstehlich unter einem fortgerissen.

Ich bin ja überzeugt, meine Herren, daß die große »soziale Bestie«, die von mir vergeblich ihren faulen Kompromiß verlangte, letzten Endes an dem verdammten Zufall, der »verschleppten Grippe«, schuld ist. Sie rächte sich: haßte ich doch ihren Biertischsumpf, ihre Kegelbegeisterung. ihre menschenunwürdigen politischen Debatten, ihre klebrige Stellenjagd und konventionelle Verlogenheit. Denn dies alles war ja nur Betäubung; man wollte die Wahrheit vernebeln. Seit meinem ersten großen Erlebnis, dem Tod meiner Frau, als mich der Feueratem jener letzten Endgültigkeit streifte, für die alles andere nur Maskerade ist – seit diesem Erlebnis des Eigentlichen haßte ich all den hirnlosen Herdenschmock. Es war die wüste Ehrlichkeit von Drüben, gegen die ich damals rannte, doch seitdem empfinde ich es als Gnade. Man braucht kein Pharisäer zu sein, um zu sprechen: »Ich danke dir, daß ich nicht bin wie diese.«

Der »Röntgenblick«

Meine Frau war schon drei Wochen lang krank gewesen; Sepsis; sprunghaft steigendes Fieber; das Kind war im Nebenzimmer untergebracht. Das Mädchen war auf Besorgung ausgegangen. Ich kam heim; es war ein dunkler Novemberabend.

Ich suchte nach Streichhölzern, um die Lampe in der Küche anzustecken und ins Krankenzimmer hinüberzutragen. Das Kind schlief; es war still im Haus; die Türen standen offen. Leise fluchend durchstöberte ich die Küche und den Rest der Wohnung nach Streichhölzern; ich fand sie nicht. Während ich nun einhielt und nachdachte, hörte ich, wie der singende Atem sich beschleunigte; er füllte die ganze Wohnung. Auf einmal traf mich wie ein Peitschenhieb der Gedanke: »Mach' Licht, sonst ist alles verloren. Mach' Licht!! . . .« Verzweifelt suchte ich weiter. Die Finsternis wuchs immer mächtiger, immer drohender. Und bevor es mir gelang, Licht zu machen, da war es, als ob eine Schattenfaust sich um ein Uhrenpendel schlösse: der singende Atem war plötzlich nicht mehr da.

Seltsamerweise schrie das Kind im selben Moment auf, als mir die zusammenstürzende Stille zum Bewußtsein kam. Es war, als habe man den Säugling plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Er hatte gar keinen Grund aufzuschrecken; er lag satt in purpurner Stille. Aber eine jähe Erhellung mit jähem Erlöschen muß in das knospenhafte Hirn hineingefahren sein, und solange das Blitzbild nachglomm, schrie er auf.

– – – Nachdem man sie begraben hatte, feierte ich im Halbschlaf wahre Feste.

Fünf-, sechsmal kam sie zu mir. Ich fühlte, ich griff sie. Sie war in Anspruch genommen von anderen Dingen. Sehr bevorzugt kam sie sich vor; außerordentlich begehrenswert; sie zeigte eine Mischung von Keuschheit und Schadenfreude . . . Ich weiß, das klingt absurd, meine Herren; aber wenn jemand sich etwas darauf zugute tat, es unvorstellbar besser zu haben als unsereiner »im Fleische«, so war sie es, und sie machte auch kein Hehl daraus. Ihr Erscheinen war ein süßes Entsetzen und eine wachsende Beklemmung, die durchs Blut pulsierte wie Rauschgift. Sie lag über mir, – und was auf mich niedertropfte wie warmer Sommerregen, was ich einsog, war eine Ewigkeit von eindringlichem Geflüster. Ich nahm sie ganz in mich auf . . . Solch hochzeitlicher Halbschlaf, der mich weitoffnen Auges zurückließ, geschah gegen vier Uhr morgens, und ich sehe noch die schweren Flechten auf und niedertauchen vor dem Bleigrau der Frühe in den Fenstern. Es war ein körperlicher Schatten, denn er schluckte das Licht, wo er sich regte . . . Ich sah – verstehen Sie – gleichzeitig mit dem inneren und äußeren Blick, und das ist eine grundvertrackte, kaum definierbare Angelegenheit.

Kennen Sie diesen »Röntgenblick«? – Alles wird gläsern, und die vertrautesten Möbel stehen auf einmal da wie unzureichende Kulissen vor verfemter Versenkung. Aus solcher letzten, gefährlichsten Wollust rang ich mich widerwillig hindurch an die Oberfläche der Dinge, ins normale Sein. Nur dieser Übergang war's, den ich so scheußlich empfand; ich wurde wach mit einem tauben Gefühl in den Gliedern, gehetztem Puls, schweißbedeckt und hastig atmend. Als die Besuche sich aber mehrten, gewann ich das Vermögen, meine große Unlust zu überlisten. Ich bat sie, sich ganz allmählich zu lösen, bevor sie scheide, und den Einbruch in meiner Seele gewissermaßen auszupolstern. So lullte mich fortan der Summton unserer Unterhaltung, plätschernder Akkord der Tiefe, in traumlosen Schlaf. Morgens erwachte ich dann – mit seltsamen Bildern im Kopf, mit seelischer Nachempfindung ungeheurer Selbstvergeudung . . .

Sie müssen sich nicht vorstellen, daß ich eine Adeptenhöhle aus meiner Wohnung machte; so einfach war das nicht. Als es mir seltener gelang, die Jenseitige kirre zu machen, hinterließ sie mir blassere Eindrücke; doch ihre öfters wiederholte Mahnung war: »Du brauchst mich nicht mehr; ich bin dem Kind auch nicht gewachsen; von nun ab will dich das Kind . . .« Lassen Sie sich nicht irreführen durch den Ausdruck Unterhaltung. Es war ein gemeinsames Träumen; ineinandergesenkter Austausch von Bildern. Was sie zischelte, waren wohl auch keine Worte, sondern ich pflückte einen Sinn von ihrem Lippenrühren. Der Nachhall sinnloser Silben, in meiner eigenen Stimme gesprochen, schwang noch, wenn ich erwachte, in der Luft. Ich wußte aber genau, daß diese Silben auf anderem Plan voll tiefen Sinnes gewesen. Als sie nun immer scheuer wurde und ihr Kopf das bleigraue Fensterquadrat kaum mehr verdunkelte, sondern ich auch durch sie hindurchsah wie durch Nebel, linderte sich sanft die Wunde, die das Leid in meiner Brust gefressen wie ein Loch. Sie ward verschüttet. Das Loch füllte sich, schon während das wirre Schilpen frühwacher Spatzen hereinschwoll, mit einer neuen täglich wachsenden Liebe: mit Marlies. Es war, als wechsele die Mutter nur den Körper; neuer Wert und neue Hoffnung erblühten. Und das war auch der Grund, warum ich sie nicht festzuhalten suchte – als sie sich »zurückzog«. Die Nächte voll Vernichtungsgefühl und abstrakter Wollust blieben aus.

»Mein lieber Stirum,« wollen Sie jetzt sagen (denn ich kenne Ihre schlichten Gedankengänge) – »binden Sie uns keinen Bären auf, der nach Spiritismus schmeckt. Bleiben Sie bei der Stange. Sagen Sie: ich habe geträumt; aber faseln Sie nicht von Geistern.« Es wäre ja auch gar nicht verwunderlich, wenn's so gewesen wäre. Ich bin jetzt noch bereit, mich als damaliges Opfer wiederholter Halluzination zu bezeichnen. Gut; ich habe lediglich plastisch geträumt; es gibt ja keine Zeugen. – Aber das eine kann ich Sie versichern: diese Träume waren immerhin nachhaltig genug, um sich neben der Wirklichkeit von vierzehn Jahren zu behaupten. Denken Sie also, was Sie wollen; aber wenn Sie mich unterbrechen, schweige ich . . . und Sie sind um einen wirklich interessanten Bericht gekommen . . . .

Ich soll weiterreden? Gut also. – Ich gehe ins Extrem; vielleicht ärgere ich Sie jetzt. Denn ich war seitdem sogar überzeugt, daß jene Erlebnisse die eigentliche Wirklichkeit sind und alles übrige nur trübes Treibholz unserer fragwürdigen »Erfahrung«. Ach, du lieber Himmel! Diese Erfahrung! Dies prachtvolle Kausalgebäude! Mit was für rohem Stückwerk arbeiten wir, um uns ein Bollwerk zu bauen gegen das Nichts, um uns in dumpfer Angst davor in einem sicheren Nest zu verschanzen, nur damit unser Ich nicht hinübertastet nach seiner eigentlichen Domäne! – – Vielleicht muß das so sein, denn wie wenige Menschen sind solchen Spaziergängen gewachsen! Stellen Sie sich die Panik der Bürger vor, wenn ihnen zum Zeitvertreib nur ein paar Stunden lang das innere Gesicht geschenkt würde!

Ich will nicht gerade behaupten, daß ich mit dem Bereich auf einmal grenzenlos intim wurde. Immerhin gelangen mir kleine Vorstöße; je mehr meine Neugier wuchs, desto mehr schrumpfte natürlich mein Interesse an »Alltags Lust und Leid«; desto maschinenmäßiger verlief meine leibliche Existenz.

Hohe Genugtuung ist es mir noch, daß ich der »Welt« dauernd ein Schnippchen schlug. Denn der bedächtigste Spion erriet nicht, daß ich ein vollkommenes Doppelleben führte. »Zum Sonderling ist er geworden durch den plötzlichen Tod der jungen Frau«, hieß es allgemein. Diese Version hatte ich in Umlauf gesetzt. Sie hatte das Gute, daß man sie nicht widerlegen konnte, und gab mir die Möglichkeit, mein Benehmen zu »strecken« über die offizielle Trauerzeit. Als die Teilnahme dann doch aggressiv wurde, hatte ich Gott sei Dank das Kind und schob es in die Bresche. »Pflege des einzigen Kindes«, war das nächste Aushängeschild. Auch dies war fast wahr.

Und so war ich dann, in mitleidigem Respekt so genannt, ein treuherzig-eigenbrödlerischer Narr, den man halb seufzend und halb sarkastisch in Ruhe ließ. Denn sie wußten nichts mit mir anzufangen. Schließlich hatten sie keine Lust mehr, mich mit Teilnahme zu belagern.

Marlies und die »Ofenzwerge«

Sie kennen das Haus, in dem ich wohne? – Nicht genau? – Nun: es liegt im alten Stadtviertel inmitten eines schmiedeeisern umfriedeten Gartens. Vier Zimmer habe ich da im ersten Stock einer Backsteinfestung einstigen Familienstolzes. Vor unserem gemeinsamen Schlafzimmer hinter einer Fenstertür finden Sie den Balkon . . . Das gebauchte Gitter hängt schwarz, nur von blutroten Weinblättern gesprenkelt, in der regenschweren Novemberluft. Ein Frühling kommt nicht mehr.

Von dort aus blickt man auf Rondelle verwilderter Stechpalmen. Unten im Haus, wo es stets feucht ist, habe ich die absterbenden Überbleibsel der früheren Besitzer installiert: eine verrostete Greisin mit unverheirateter Tochter, deren Lebensjahre zusammengezählt hundertsechzig Jahre ergeben. Die Mutter ist nie sichtbar; die Tochter aber, ganz in morschem Lila, geistert noch im Spätherbst mit rostiger Gießkanne über die Wege und nimmt zerrupfte Astern in ihre Pflege. Kurz: es sind grabesruhige Mieter. Als Bedienung haben sie eine taube Spitalkandidatin, und so hört man nur etwas von ihnen, wenn diese in die Stadt geschickt wird. Marlies, die nie vor zehn aufstand, erzählte, man höre dann schrilles Quäken in ein taubes Ohr, es gemahne an die Laute landfremder Nagetiere. Zuweilen auch rührte sich drunten das Klimpern eines uralten Spinetts, so zimperlich und scheu, daß die Melodie an sich selber einging oder vom Regen überhaupt erstickt wurde. Als Schutz gab es einen gichtgeplagten Hausmeister mit einer großen Dogge, einem Bernhardiner, in dem scheinbar die Motten gehaust.

Sie sehen aus all diesen Details, daß es nicht übermäßig munter um mein Haus bestellt ist. Vor allem ist es still – so erloschen, so philosophisch. Dieselbe alte Dame, die dort drunten noch atmet, hat vor siebzig Jahren auf meinem Balkon gesessen mit einem Cul de Paris. Das Stühlchen ist sicher ganz verschlungen worden von ihrem wolkig abgesteppten Schleppkleid und sie hat mit derselben Stimme, die heute klingt wie erdrosseltes Gezirp, mit Herren in Backenbärten geschäkert.

Ich glaube, das Haus hatte es auf Marlies abgesehen. Kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag war's – wir hatten beide einen kleinen Exzeß in Punsch hinter uns – da kam diese »verschleppte Grippe« (wie Ihr Kollege Doktor Pinswang meinte) und sie mußte ins Bett. – »Kein Gedanke an Aufstehen.« – Ob er die Sache übertrieb und gerade das erzwungen Passive für das lebhafte Frauenzimmer schädlich wurde, sei nicht untersucht. Ihr Betätigungskreis war eingeengt und sie wurde. wenn ich in der Bank war, die Beute überflüssiger Grübeleien. Sonst hatte ihr mein Fernbleiben nie etwas ausgemacht. Sie hatte die Zimmer geheizt, aufgeräumt, gesäubert, zu Mittag eingeholt, gekocht; und nachmittags hatte sie ihre Lektionen gelernt oder geträumt, bis ich um sechs Uhr wiederkam. Ein bißchen blutarm, na ja . . . Sonst aber gesund. Für ihr Alter kräftig, gut entwickelt, groß; im Sommer immer im Garten . . . Stubenfarbe nur im Winter. Toll, wie? So plötzlich kann man sich hinlegen . . .

Wir hatten einen Kater als dritten im Bunde, der bei uns aufgewachsen war. Er hieß Moloch, ein Siamese: gelblich silbergrau; Pfoten und Kopf wie in Teer gestippt; lächerlich kurzschwänzig. Ein teures Tier. Auf seinem schwarzen Antlitz besaß er ein paar intensiver, ein wenig unbehaglicher Augen. Und vor diesem Kater, ihrem sechsjährigen Spielkameraden, begann Marlies sich auf einmal zu fürchten. Gewöhnlich saß sie, wenn ich seit Beginn ihrer Krankheit mit dem Abendbrot nach Hause kam, im purpurnen Spielwinkel ihres leichten, doch zähen Fiebers, wie ein Kaninchen im Bau: in Kissen eingepackt, die Beine gekreuzt und mit geographischen Ausflügen auf ihrem Plumeau beschäftigt. Eines Abends – es war um sechs Uhr schon völlig dunkel – lag sie bei meiner Rückkunft reglos und starrte nach dem Dauerbrandofen hinüber, dessen Glut durch das halb offene Türchen drang und einen Schimmer auf den Teppich legte. Dort saß Moloch, ebenso reglos, und warf in kurzen Abständen voll gläsern starrer Raubtierverträumtheit Blicke zu Marlies hinüber. Seine Augäpfel glichen Juwelen.

»Mark«^ flüsterte Marlies. – »Ich kann nicht mehr allein sein. Ich habe mich sehr gefürchtet.«

»Nanu? – Vor Einbrechern?«

»Nein, Mark. – Vor Moloch. – Sieh ihn dir an, wie er heuchelt. Wenn es im Ofen kracht, schauspielert er und stellt sich nervös. Doch als ich vorhin schlief, sprang er mir auf die Brust, daß ich kaum Atem bekam; und als ich die Augen aufriß, hatte ich seinen Kopf dicht am Gesicht – nicht die nette schwarze Maske dort, sondern einen . . . gierigen Kopf; die weißen Bartgrannen zitterten, als ob er lächle. Dabei drückte er seine Krallen langsam in meine Brust und hatte einen seltsamen Ton in der Kehle . . . Kein Schnurren. Als ich ihn abschütteln wollte, fauchte er. Das hat er noch nie getan. Ich hatte Mühe, ihn loszuwerden. Ich spüre noch seine Krallen.«

Ich entfachte die Lampe und sie zeigte mir die Male: sechs kleine blutunterlaufene Punkte, wie von Nadelstichen, auf den kleinen Brüsten. »Nun, er wollte spielen«, beruhigte ich sie. »Aber weil du dich schon vor Moloch fürchtest, sehe ich, daß ich dich nicht mehr alleinlassen darf. Ich werde ein Mädchen engagieren.«

»Gut, Mark! Es tut wohl, Hilfe zu haben, wenn Moloch wieder spielen will. Aber alt darf dieses Mädchen nicht sein. Ich will eine Spielgefährtin . . .«

Nach längerem Suchen fand ich ein robustes Geschöpf von fünfundzwanzig Jahren, das gern die Arbeit übernahm und für uns kochte. Marlies fieberte dauernd. Der Zustand war ihr aber nicht unbehaglich. Ursula pflegte sich nach getaner Arbeit an ihr Bett zu setzen und mit ihr zu plaudern. Da ergriff Marlies eines Tages ihren nackten Arm und tastete ihr mit den Nägeln, die inzwischen spitz und lang geworden, bis zur Schulter hinauf. Plötzlich – so berichtete mir die Überraschte – habe sie ihre Nägel mit ungewöhnlicher Kraft ihr ins Fleisch gebohrt; Blutstropfen seien hervorgetreten, und Marlies habe geflüstert: »Tut's weh?! – Halt' aus!! – Weißt du, Ursula, daß du mir eine ganze Menge Blut schuldest??« – worauf sie es mit züngelndem Kuß von ihrer Haut gesogen habe . . . Dann habe sie ihren schmalen Körper an den kräftigen des Mädchens gepreßt und ihr mit einem Ausdruck ins Gesicht gespäht, der noch viel überrumpelnder gewirkt habe als der unerwartete Überfall. Ihr, Ursula, sei ganz schwach in den Knien geworden, wie wenn sie einem seltsamen Einfluß unterliege; schwer atmend sei sie aufs Bett gesunken, ganz dem Zugriff, den Delirien und den saugenden Blicken der Marlies ausgeliefert . . . Als ich meine Tochter zur Rede stellte, schien sie nichts mehr davon zu wissen. Später lächelte sie abwesend und meinte: »Tat ich das? So wollte ich ihr wohl zeigen, wie Moloch es mit mir machte . . .« Ursula jedoch war, wie es in der Jagdsprache heißt, vergrämt. Als sie ihren Dienst antrat, hatte sie viel geträllert und gesungen; nun wurde sie schweigsam.

»Es kommt vom Hause, Herr«, sagte sie. »Außerdem ist das Fräulein nicht zu bändigen. Wenn Sie nicht da sind, läuft sie im Hemde herum. Ich hatte schwere Mühe, sie ins Bett zu schaffen. Ich fürchte, ich schaffe es nicht mehr. Jede Gelegenheit paßt sie ab, um mir einen Streich zu spielen. Und ich trage dann die Verantwortung, wenn sie kränker wird.«

»Ist das Fieber denn gestiegen?«

»Es ist jetzt ständig über achtunddreißig. Schon morgens . . . Ob es nicht doch die Lunge ist?«

Wieder ließ ich Ihren Kollegen Pinswang kommen, und wieder fand er nichts und blieb bei seiner verschleppten Grippe. Blut und sonstige Befunde seien vollkommen befriedigend. Sie hüstelte nicht einmal.

– – Meine Herren . . . Ich hatte Höllenangst, das kann ich Ihnen sagen. Eines Tages setzte ich mich vor den Spiegel und sah mich an.

Dieser Mensch hier, zwang ich mich zu denken, ist Prokurist; Vertrauensperson einer Großbankfiliale. Während seiner sieben Schalterstunden übt er seine Routine mit lautloser Genauigkeit. Seine Anweisungen sind knapp und schnell; Präzision kennzeichnet seine Bilanzen, seine Telephongespräche, seine Diktate. All dies besorgt dieser Mensch da – diese ausgewachsene, dünnlippige, glattrasierte Marionette mit dem angegrauten Scheitel . . . Er ist eine wesentliche Schraube im Unternehmen. Bei seiner Papageiennase fällt die Schwäche des Kinns doppelt auf; das muß seinen Grund haben . . .

Ich wollte in noch weiteren melancholisch-selbstgefälligen Betrachtungen wühlen, da fühlte ich, wie mich das Blitzen meiner eigenen Brille blendete. Ich trage eine sehr starke Nummer. –

Diese Figur im Spiegel war also Marliesens Vater – ein erstrebenswert kompetenter bürgerlicher Papa. Das war's, was die Welt zu sehen bekam; sie kannte es, sie riß sich nicht darum; sie gähnte hinter der hohlen Hand. Nie noch gab es einen so tollen Kontrast zwischen außen und innen wie bei mir. Ich hatte bisher einen Kult mit dieser erloschenen Figur getrieben, denn auf ihr war meine Existenz gegründet. Als nun Ursula kündigte, fiel mir selbst auf, wie leichten Herzens ich »dringender Familien-Angelegenheiten halber« den Urlaub vom Chef ertrotzte, wiewohl damals eine zugespitzte Krise den Geldmarkt bedrohte und ich noch nie so nötig gewesen war wie gerade jetzt. Ich fühlte, daß die Krise, die mich selbst betraf, dringender rief und in jedem Sinne unvergleichlich wichtiger war . . . Ich beschloß, mich ganz mit aller Kraft der kleinen Jungfer zu widmen. Ich mußte ihr viel vom Leibe halten . . .

Ursula hatte mir noch, während sie kündigte, folgendes erzählt. Sie habe im Nebenzimmer geschlafen. Da sei sie plötzlich von einem Geräusch geweckt worden, als würden eine Anzahl Türen von weiter Ferne her und sich rapid nähernd aufgerissen und zugeschlagen. Plötzlich seien es die Türen im Hause selber gewesen, die gekracht hätten. Schlafblind sei sie aufgesprungen, um die anscheinend nachtwandelnde Marlies einzufangen – ein paar Schritte hätten sie ins Schlafzimmer gebracht – da aber sei alles friedlich und still gewesen. Mich selbst habe sie schnarchen hören. Marlies habe geschlafen wie eine »Tote«. In der Küche habe der dort eingesperrte Kater leise gesungen mit tiefer Kehlstimme. Alle Türen seien verschlossen gewesen wie immer. – – Wo aber komme es her, frage sie allen Ernstes, daß sie mit so fürchterlichem Herzklopfen aufgeschreckt sei? Daß die Rißwunden an der Schulter deutlich geschmerzt und eine davon sogar ohne ersichtlichen Grund wieder geblutet habe? – Nein, hier bleibe sie nicht; ich solle es ihr nicht verübeln.

»Mein Gott! Ein Scheit im Ofen hat gekracht! Das klingt zuweilen wie ein Schuß . . .«

»Ich weiß nicht, Herr. – Sie können recht haben. Aber am ersten November muß ich Sie verlassen.«

Bis dahin war es noch eine Woche. Marlies weinte viel und führte seltsame Reden. Ich saß oft bis Mitternacht an ihrem Bett. Als ich ihr meinen Entschluß ankündigte, nicht von ihrer Seite weichen zu wollen, bis sie gesund sei, war sie tief beruhigt. »Du hast keine Ahnung, Mark,« fügte sie bei, »wie lebhaft sie jetzt sind, wie sie sich Mühe geben! Aber du bist ihnen gewachsen.«

»Wem, mein Kind?« fragte ich.

»Nun – den kleinen Grauen doch!« flüsterte sie eindringlich.«

»Aha«, sagte ich. »Du meinst die Ofenzwerge!« (Das waren Geschöpfe. die wir gemeinsam ins Leben gerufen, als Marlies acht Jahre alt war; gute Gestalten, vertrauenerweckend, wenn auch etwas problematisch. Sie waren durchaus friedlich und nur auf sanfte Neckerei erpicht.)

»Natürlich! Die Ofenzwerge!« sagte sie befreit und glücklich. »Aber Mark – sie sind nicht mehr ganz so nett wie früher.«

»Marlies,« redete ich auf sie ein und trug sie dabei im Zimmer umher – »hier sind sie nicht und dort sind sie nicht; sie haben überhaupt wenig Platz. Sie machen vielleicht Radau und zanken sich, wenn sie sich unbelauscht vermuten. Aber für dich haben sie gar kein Interesse mehr – du bist ihnen zu groß geworden. Sieh dich mal selbst an, wie lang du geworden bist. Kannst du deine eigenen Füße noch sehen? Deshalb spielen sie auch nicht mit dir, sondern bilden sich ein, sie sind witzig, wenn sie dich erschrecken. Wenn du ihnen immer zuguckst, schweigen sie beschämt. Sie sind ja viel zu dumm, um was anzurichten; du kennst sie ja. Laß dich von den Kleinen ja nicht ins Bockshorn jagen.«

»Kann man sie nicht versöhnen? Ich fühle, sie wollen was von mir. Auch wenn ich sie nicht belausche.«

Ihr Fieber war hoch. Ich wiegte sie hin und her. Ihre hektischen Augen standen wie Sterne im blassen Gesicht und durchtasteten das ganze Zimmer. Die Lampe brodelte leise; das Öl sang. Die Rhythmen einer andrängenden monotonen Melodie schwangen dicht unter der hohen verräucherten Decke. Irgend etwas an ihren Worten hatte mir Vorstellungen erweckt, die ich hier lieber verschweige. Delirium, wie? Na ja . . . Waren das auch die – »Ofenzwerge« gewesen, die Ursula so roh aus dem Schlaf gezerrt?

Eins war nötig: der Geist des Kindes mußte konzentriert werden auf etwas Festes, das ihm stets neue gesunde Nahrung gab. Bücher konnte und durfte sie noch nicht lesen. So mußte man etwas herschaffen, was ihre Phantasie anregte und zugleich ihren Spieltrieb. In der Woche, die mir noch blieb, durchirrte ich die Stadt und grübelte dabei über einen Ausweg nach.

Das Tier

Ich will nicht entscheiden, ob die Intuition, die mich zur Entdeckung des Puppenhauses führte, aus mir selbst stammte. Man hatte mich phantastisch überfordert; jedenfalls hatte ich es plötzlich gekauft.

Der Händler Siegmund Trommelfell merkte meine Angst vor seiner Weigerung und nutzte sie aus. Sie kennen ihn ja – er ist der Direktor des kleinen stereoskopischen Panoptikums in der Wachsziehergasse: zehn Pfennig die rotierende Landschaftswalze mit Pyramiden und Staubstürmen, zwanzig Pfennig: Intimes für Erwachsene. Das Puppenhaus war seine Hauptattraktion, aber sie zog nicht genug für seinen Geschmack.

Es gehörten besinnliche Leute dazu mit Geduld und einem albernen Gemüt; die gibt es ja heutzutage in unserer amerikanisierten Welt nicht mehr.

Es waren Stoffpuppen mit Holzgliedern und Sprechmechanismen. Tiefer Humor hatte sie geschaffen. Da ihre Anatomie zerbrechlich war, so hatte Trommelfell das ganze Haus entrückt aufgestellt. Er konnte erschrocken zetern, wenn man es trotzdem zu befingern versuchte. Für die Vorstellung verlangte er eine halbe Mark. Die Puppen waren so abgestimmt, daß sie in gleichmäßigen Intervallen ihr Sprüchlein von sich gaben. Man zog sie auf; dann mußte man aber eilig die Vorderfront des Hauses zuklappen und durch die Fenster spähen. Eine Taschenbatterie, wie man sie zur Treppenbeleuchtung braucht, sorgte für Illumination.

Der Preis, den er bei mir erzielte, entsprach meinem Einkommen für drei Monate; ich feilschte jedoch keinen Moment, ich nahm es sogar selbst mit – stellen Sie sich das vor! in Packpapier eingewickelt: eine blamable Sache für einen Prokuristen . . . Der Weg war lang; aber ich hatte, was ich wollte. Ich lud mein Paket vorläufig in der Küche ab und dann ging ich noch einmal aus und holte Lebensmittel, die mir für lange Zeit reichen sollten. Auch einige Flaschen alten Kognaks (– um Ihnen entgegenzukommen, meine Herren Psychiater, und Ihnen eine Diagnose zu erleichtern! – Ich sehe Sie lächeln; doch weiß Gott, zuweilen hat man Kognak nötig beim inneren Frost solcher Dinge . . .).

Das Mädchen nahm Abschied am ersten November. – Ich entlohnte sie reichlichst. – Bis zum letzten Augenblick blieb sie verschlossen darüber, was sie eigentlich vertrieb. Ihr Hauptargument war: es sei ihr zu »ruhig« bei uns. Auf jeden Fall blieb es bei dem Eindruck: Flucht. – Nachdem der Rieselregen draußen sie verschlungen, sagte ich dem gichtgeplagten Hausmeister, ich wünsche während der nächsten Wochen von Besuchen nie gestört zu werden; er solle alle Nachrichten entgegennehmen und mich für verreist ausgeben. Dann gab ich ihm noch Geld für laufende Rechnungen und sperrte die Etage ab. – So – (dachte ich, und es war vielleicht ein irrer Gedankengang) – jetzt wollen wir einmal sehen, ob wir dich nicht gesund bekommen, du obstinate kleine Hexe. Ich war der felsenfesten Überzeugung, daß beim Versagen alles Empirisch-Verstandesmäßigen der bloße Wille das Wunder wirken könne. Freilich, völlig ungestört mußte man sein; ungestört . . . Das war das Geheimnis! Ausschalten jeden Einflusses von außen! Schauerlich zielstrebige Konzentration! Adeptenkampf gegen das aalglatt Unfaßliche!

Da lag sie, Marlies, dies weiße Wunder an knospender Körpergestaltung, versonnen und versenkt in die schlimme Geschäftigkeit ihres Pulses. Zuweilen schritt sie auch halb taumelnd, halb tanzend umher; – manchmal grübelte und weinte sie; – immer wieder spülte der dunkle Strom Fratzen heran: klaffende Münder ohne Geschrei; Augengruben ohne Pupillen.

Ängste dich nicht, Marlies! – Ich bin bei dir! – Flugs, nicht wahr, treten jetzt lächelnde Züge hinzu; schaukeln tropische Inseln; schwirren Vögel . . . Meine Stimme schuf Erlösung, selbst wenn mir die Kehle zugeschnürt war von der Faust unausdenkbaren Leides. Ich fühlte die bleiche Blüte ihres Leibes sich lösen und erschlaffen nach den Zuckungen und huschenden Wahnsinnsbildern. Ihr Zahnfleisch wurde blaß wie ihre Lippen; ihre Haut erhielt seltsam stumpfen Glanz und strahlte Hitze aus. Es war, als glimme sie und müsse plötzlich auflodern als funkelnder Phönix.

Schweißtreibende Mittel versagten. – Ohne Pause bohrte das Fieber sich durch den Schacht dieses jungen, trotzigen Leibes, der ihm noch Widerpart hielt . . . Wie lang noch? Und an diesem Abend, als das Puppenhaus in meinen Besitz übergegangen, schöpfte ich Hoffnung: sie durfte mir nicht verlorengehen. Ich hatte mein Bett herübergeschafft in die Nähe des Ofens.

Sie schlief. Ich ging leise hin und her; dann holte ich mir einen seidenen, sehr bunten Hausmantel, den die »andere« mir einst geschenkt und den ich nie seitdem getragen . . . So eine Mischung von Zauberonkel und Pascha, mit großen Quasten. Die kleine Jungfrau wird erwachen; sie wird auf einem Jahrmarkt sein und doch zu Hause . . . Dann ging ich in die Küche und machte Tee. Ich vergewisserte mich, daß in meiner Hausapotheke nichts fehlte. Alles baute ich neben ihrem Bett auf und als sie nicht erwachte, brachte ich mit unendlicher Vorsicht das ausgepackte Puppenhaus herzu. Ich beschlich sie, ich belauerte sie. Zuweilen durchlief sie ein Zittern, und ihre Beine zuckten. Die feingebogene Nase, im Mienenspiel wechselnder Traumbilder, zitterte an den Nüstern; sie pustete den Atem von sich wie ein kleiner Motor . . . Unendlich rührend klang dieser gehetzte Ton.

Du kannst mir nicht verlorengehen, dachte ich; ungeheure Willensanspannung steifte mich förmlich im Stuhl. Probier' es nur, mir zu entwischen! Ich bin schneller als du! – Die Stille sang und brodelte wie sonst. Kleines Geknatter, winziges Geschütz zerplatzte im Ofen. Auf einmal war mir, als rassele mein Ich um ein paar Stufen tiefer; ich sank mit dem Stuhl durch den Teppich . . . Denn während ich auf das blasse, junge Gesicht mit den seidigen Wimpern starrte, war mir, als läge dort eine bloße Form aus Gips, der Abguß einer edlen Form, vom Gesicht meiner Frau . . . Leblos; ein Abguß nur . . . Nein, nein, nein!! Das konnte doch noch nicht der Schattenfinger sein, der den Pendel jäh anhielt! Wissen Sie noch, was ich Ihnen zu Anfang erzählte? Wie ich sagte: »Der Atem war plötzlich nicht mehr da??« – Aber er war ja da, war da wie ein winziger Motor; die Fasern im Linnen schwankten; blase weiter, mein Engel! Gott segne den kleinen Muskel, der an deinem blassen Munde zuckt! Wie ein Ertrinkender schlürfte ich Tee. Auch Kognak tat ich hinein. Gut; ich war munter. Hatte ich die Streichhölzer? Ja, ja; in jeder Tasche eine Schachtel; nichts konnte passieren; gar nichts. Das Schlimme passierte ja damals auch nur, weil ich die Streichhölzer nicht gleich finden konnte. War genug Öl in der Lampe? – Alles in Ordnung.

Plötzlich fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, Moloch aus der Küche herauszulassen, und daß er dort über die Vorräte geraten würde. Ich schlich wieder hinüber. Bevor ich die Klinke niederdrückte, hörte ich selbst zum erstenmal seinen hohlen Gesang, die Miniaturform des Gebrülls seiner großen Verwandten. Es war wie leises Heulen des Windes im Kamin: kläglich und gierig. Dann kam ein Laut, wie wenn man mit einer Stahlbürste über ein Sieb fährt: das war sein Schnarchen der Befriedigung, seine neue Art von Schnurren. Ich öffnete leise die Tür: flugs hielt er inne und wandte mir die flüssigen Phosphorbälle seiner Augen zu. Auf seinem Gesicht stand in einer Gloriole von starren Bartgrannen das ekstatische Grinsen des Genießens. An seinem einen Raffzahn hing ein Fetzen langgezogenen Specks.

Ich vertrieb ihn; noch hatte er nicht viel Unheil angerichtet. Ich schnitt ihm das angefressene Stück reinlich herunter und ließ die Tür offen mit der stummen Einladung, uns Gesellschaft zu leisten. Ich hörte ihn noch zungenschlappend trinken; dann trat er im schwarzen Viereck der offenen Schlafzimmertür in Erscheinung und wandelte seinem gewohnten Platz am Ofen zu. Unterwegs machte er mehrfach versonnen Station, ganz unmotiviert, und blickte sich um. Einmal formte er sogar einen Buckel; doch hier kann ich mich täuschen.

Als er saß, blickte er zu uns hinüber. Plötzlich. ich wußte nicht warum (vielleicht gemahnten seine Augen mich daran), fiel mir die Sonettzeile ein:

»... a jewel, hung in ghastly night...«

Das ganze Sonett gebar sich aus meinem Gedächtnis, und ich betrachtete Marlies dabei. Ich kleidete sie in Gedanken in Hosen mit weinroten Knierosetten; ich zog ihr einen Kittel an . . . Alles aus zartgrauer Seide, in der Farbe der toten Frühe (wenn noch nicht einmal eine Ahnung des roten Lichtes besteht und die Sterne zu kalten Fremdkörpern werden). An den Hals legte ich ihr einen durchbrochenen Fallkragen; so bohrte ihr Kopf mit den kurzen Locken das schmale Kinn in den Ausschnitt, so daß ihr Gesicht ganz im Schatten verschwand.

»... makes black night beauteous and her old face new...«

Ich verweile bei diesem Wort: beauteous. Es war inniger als nur: beautiful. Es bedeutete: »sonderlich schön«. Dann war es wieder das kranke Mädchen, das mich brauchte. Ich tastete nach ihrem Haar: Gottlob, es war feucht. Ein schwacher Trost. Ihre Brüste leuchteten aus dem Hemd wie Silber.

Morgen früh, dachte ich noch, nach dem Frühstück, schenke ich dir das Puppenhaus. Dann wird alles gut. Ich zog den Hausmantel aus, hängte ihn so, daß die darauf gestickten Vögel in dem bunten östlichen Blumenprunk ihr sichtbar sein mußten, wenn sie erwache. Dann löschte ich die Lampe und legte mich nieder. Ich wollte einschlafen; ich wollte mich auf keinen Fall von jenen Stunden ertappen lassen, in denen so unkontrollierbare Lockerungen bestanden . . .

Es war totenstill. Die Phosphorlichter dort am Ofen öffneten und schlossen sich im Wechsel. Moloch zwinkerte gegen den Schlaf an. Ein dünnes, rotes Rieseln war irgendwo auf dem Teppich; es knackte zart. Von der anderen Seite aus dem Bett kam das leise schnelle Zischen den kranken Atems, wie wenn ein weicher Nachtfalter gegen ein Netz antobt: »sss . . . sss«. Ich schwamm in den Schlaf hinüber und hatte nur eine einzige Traumvorstellung: ein schnurgerader Weg war's durch eine graue Wiese, und ganz fern gab es einen schwarzen Streifen von Wald.

– – – Nach Wochen und Wochen Wanderns gelangte ich zu jenem Wald, in den der Weg sich hineinbohrte. Schon geraume Zeit schritt ich zwischen Mauern verfilzter Tannen und Kiefern dahin. Kein Vogel sang, keine Quelle rauschte. Ganz am Horizont erblickte ich ein Haus. Plötzlich wußte ich mit untrüglicher Sicherheit: in diesem Haus war Marlies, und es ging ihr schlecht.

Ich gelangte hin und befand mich in einem leeren Saal. Überall herrschte dies vermaledeite tote, schwefelgraue Licht. Und hinten in der Ecke. weiß schimmernd, hockte sie. Ungeheures Mitleid packte mich. Mit einem halb schluchzenden Freudenschrei rannte sie quer durch die Halle auf mich zu. Ich breitete die Arme aus. Da, als sie kurz vor mir stand, verwandelte sie sich in ein Tier. Und dies wollte mich anspringen. Wie ein Blitz streifte mich der Sinn des Wortes »Besessenheit«. Das Mitleid steigerte sich zum Grauen und würgte an mir. Ich fuhr empor.

Noch sah ich den flehenden Ausdruck des Gesichtes vor mir verdämmern. Dann wurde mir klar, daß ich ins halbhelle Zimmer blickte. Die tote Frühe, die ich vermeiden wollte, nistete bleigrau in den Fenstern. Langsam wanderten meine Augen zu dem weißschimmernden Bett hinüber. Da ging etwas vor sich, was war das? Da rührte sich etwas; doch es war nicht Marlies . . . Mir wurde kalt. Nun, nun, sagte ich mir dann; das ist ja Moloch! Es ist ja der schwarze Kopf! Es ist alles in Ordnung. Er hat sich anschmiegen wollen; natürlich geht er zu Marlies und macht es sich bei ihr bequem. Warum aber schläft er nicht? Er muß eben erst zum Bett gegangen sein und dreht sich nun noch zehnmal um sich selbst, wie es die Art verwöhnter Tiere ist . . .

Wiewohl ich mich so beruhigte, hielt ich's nicht aus. Ich ging hinüber und jagte ihn vom Bett. Es fiel mir auf, daß er leise fauchte. Ja, mein Bursche, da hilft nichts, Patienten müssen in Ruhe gelassen werden. – Sie lag, die Hände im Nacken gekreuzt, halb aufgedeckt und atmete stoßweise. Ich deckte sie zu; ich nahm ihr sanft die Arme herab und drehte ihren Leib nach der Tapete. Ihr Atem wurde müde und ruhig. Vor dem Fenster erwachte wirres Schilpen von Spatzen: der Tag war da.


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