Willy Seidel
Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
Willy Seidel

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Das Bild in der Zigarrenkiste

Magda, nun fünfzehnjährig, saß auf ihrem Zimmerbalkon, der in die Hinterhöfe wies, und hatte die Füße auf die Querleisten des Geländers gestemmt. Sie trug ein leichtes rotes Kleid aus Seidentrikot. Die Arme, nackt und merklich voller, hielt sie hinter dem Nacken gekreuzt. Es war ein heißer Sonntagnachmittag im September. In den Höfen spielten Kinder; ihr dünnes Geschrei drang herauf. Die mageren Büsche und vereinzelten Bäume zeigten verdorrtes Grün. Es hatte lange nicht geregnet, und das Himmelsviereck zwischen den Häusern hatte jene metallische Mischung von Trockenheit und Großstadtdunst, die dem Blau alle Leuchtkraft nimmt.

Zwischen Magdas bloßen, gespreizten Knien, deren weiße Haut seidig schimmerte, lag eine offene leere Zigarrenkiste – eine Importenkiste aus dem karg gewordenen Bestand ihres Vaters. Darin hatte sie alle Utensilien ihrer Stickerei, die in ersten Anfängen steckengeblieben war. Magda war heute wieder wie öfters in der Laune, sich der Zeit, die so wetterschwanger und aufreizend drohte, produktiv »zur Verfügung zu stellen . . .« – Wenn Magda nur im entferntesten ahnen würde, wie sie das machen sollte!

Max erschien. Sie streifte ihn mit einem Seitenblick, und er lehnte sich neben ihr ans Gitter. Und als sie den Ausdruck seiner dunklen Augen sah, erkannte sie in ihnen den Hunger. Dieser Ausdruck richtungslosen Hungers war nicht allzu häufig gewesen in den letzten Monaten, in denen er viel gelesen hatte und sich orientiert über sein neues Vaterland. Er blinzelte gegen die Sonne und besah sich dann langsam das triste Panorama eingekerkerter Menschheit. Plötzlich seufzte er tief; er nahm die Zigarrenkiste spielerisch aus ihrem Schoß und versenkte sich in das bunte Bild auf der Innenseite des Deckels.

Ein weißgekleideter Neger mit einem Topfhut aus Bastfasern und einer roten Schärpe lehnte an einer Kistenpyramide. Im Hintergrund, auf einem Strich Wassers, schmauchte ein Dampferchen. Auf der anderen Seite der Pyramide stand pfeifenrauchend ein besinnlicher Indianer in einer türkisblauen Federnkrone. Die beiden führten, jeder für sich, ein unbelästigtes und triebhaft zufriedenes Dasein. Ihre Interessengebiete durchschnitten sich nicht, das sah man; der Tabak vereinte sie auf ihrer kolorierten Basis. Sonst wuchsen noch viel große Blätterwedel vor einer grünen Hügelkette. Durch den Tropenhimmel hindurch zog sich eine Girlande von goldenen Medaillen: der »Grand Prix« von Paris, von Brüssel. Auf der einen prangte, als Cäsarengemme, Napoleon der Dritte in wehrhaftem Lorbeerschmuck. Diese Medaillen schwebten sonnig über einem Cuba, das einem Kinderträumchen glich.

Max starrte in das Bild hinein. Auf einmal war er der Dritte im Bunde . . . Ein Gefühl erfüllte ihn wie eine längst vergessene, ungeheuer vertraute Melodie. Seine Stirn krauste, – seine Lippen öffneten sich. Oh, wenn das Trübe doch wiche und das andere Drängende zur Form geränne! Die Musik begann zu pulsen . . . Doch dann war es, nach einer verzweifelten Aufwärtskurve, nur das Niedersinken und das Tasten an die verschlossene Tür. Seine Augen verschleierten sich durch eine Träne.

»Max!«

Er fuhr zusammen.

»Was fehlt dir?«

»Ich weiß nicht . . . Ich habe Heimweh.«

»Heimweh!« – Ungeheuer gespannt faßte sie seinen Ärmel. »Heimweh! – Wohin denn? – Wohin?«

»Wenn ich das wüßte, wär' es ja nicht so schlimm! – Dann könnte ich ja zurück . . .«

»Was hat dich denn plötzlich so traurig gemacht?« fragte sie eifrig und faßte seine Hand.

»Dies dumme Bild vielleicht«, sagte er wegwerfend. »Das ist Westindien. – Natürlich war es nie so . . .« Er grübelte. »Aber ich weiß, wie schön es ist. Dort irgendwo muß ich zu Hause sein.«

»Gut«, sagte Magda und runzelte die Brauen. »Aber einstweilen bist du hier. Außerdem weißt du ja gar nicht, wohin du durchbrennen sollst. Möglicherweise stammst du aus Afrika oder . . . Madagaskar . . .« Dies letztere, genießerisch ausgesprochen, war ein prächtiges Wort, mit dem sich allerhand ausdrücken ließ. – »Doch das hilft dir nichts, – denn ich halte dich.«

Sie schlang den Arm um seine Hüfte. Er lächelte leer.

»Wenn ich durchbrenne, nehme ich dich mit. Du bist anders als – deine Eltern.«

»Wie meinst du das?« – Sie packte ihn fester.

Er kaute am Stengel einer Kapuzinerkresse und betrachtete grübelnd ihre schlanken Beine. – »Du bist feiner, nicht?«

Sie wippte weit mit dem Stuhl nach hinten. Er fing sie auf; ihr Gesicht war scharlachfarben. – »Wirklich?!«

»Man sieht es an deinen Beinen«, sagte er pedantisch. »Du bist eine Dame

In der Sachlichkeit dieser Bemerkung lag etwas Entwaffnendes, und sie erholte sich. Sie tat das um so schneller, als sie sowohl Papa als Mama im Vergleich mit ihrer eigenen Person kritisch betrachtet hatte, und die Herrschaften Ziehlke schnitten ungünstig ab, besonders wenn Magda gerade vor dem Spiegel oder im Bad Momente fünfzehnjährigen Eigenlebens durchkostete. – Sie zögerte darum jetzt nicht und küßte Max, was er schier erstaunt zur Kenntnis nahm –; er quittierte es mit zwei Grübchen in den farblosen Wangen, gleichsam nur dem Versuch eines Lächelns. – Dies verwirrte sie, und sie fuhr ihn an: »Warum sind meine Eltern nicht fein? – Du verdankst ihnen doch alles, du – schwarzer Duckmäuser.«

Er spie den Stengel in den Hof. – »Kann ich dafür?!«

»Du dummer Junge! Du wärst wohl lieber bei den Fürsorgeleuten?«

»Es wäre mir gleich, wo ich bin.« Seine Augen verengten sich; er zischte. Sie erschrak, beseligt von diesem Temperament. Aber es war grob von ihm, und sie beschloß, beleidigt zu sein. »Man kann dich wirklich manchmal nicht ernst nehmen«, sagte sie mit vorgeschobener Unterlippe und schlenderte in ihr Zimmer zurück. – Immerhin: die Bemerkung über ihre Feinheit saß, und sie nahm sie zum Anlaß, sich nach einer halben Stunde wieder zu versöhnen. Diesmal besorgte er das Küssen, und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, die man fast mit Sachkenntnis verwechseln konnte; aber den südlichen Naturen, dachte Magda (während sie nach Atem rang), wird ja die Liebe schon an der Wiege gesungen . . .

So äußerte sie:

»Du hast ja recht. Papa ist ein bißchen derb, wenn er sich geschäftlich aufregt; aber Muttern – die laß mal so. – Sie haben eben beide nicht das Glück gehabt, unsere Erziehung zu genießen . . .«

 

In der Nacht, die gewittrig war, hatte Max einen seltsamen Traum.

Er war in einer ihm gut bekannten Gegend, die recht bunt war – woher freilich diese Buntheit kam, untersuchte er nicht. Was ihn sofort anheimelte, war der schon früher einmal (durch Zauberei Herrn Borinskys) vorhandene Balkon. – Von diesem Balkon, das wußte Max, ging diesmal ein äußerst reger Zigarrenexport aus. Eigentlich handelte sein Vater mit Edelhölzern, aber die große Ähnlichkeit von Baumstämmen mit Zigarren ließ es ja gleichgültig erscheinen, welche Branche es war – kurz, man exportierte Riesenzigarren und fuhr gut damit. Max billigte es und fand es interessant. Als Oberinspektoren bei dieser unhandlichen Tätigkeit traten zwei liebenswürdige Persönlichkeiten farbiger Rasse in Erscheinung.

Trotz ihrer verantwortlichen Stellung lümmelten sie sich in der Nähe, und als er kam, lüftete der Indianer eine türkisblaue Federnkrone mit dem Zeigefinger, und der Neger blies seinen Topfhut hoch. Beide nahmen die Pfeifen aus den Zähnen und sangen zart:

»Buenos dies, Señor Juan no Sol«

– – – Hier erwachte Max. – Hinter dem offenen Fenster brummelte es . . . Murrten die Wolken, oder wurde irgendwo ein Auto in die Garage getrieben wie ein unmutiger Hund? Max starrte auf einen wandernden Lichtschein an der Zimmerdecke. »Juan in der Sonne«, dachte er sehr erschrocken, und sein Herz pochte wild. Nach einer halben Stunde schlief er wieder. Alsbald stellten die beiden Farbigen sich wieder ein, grüßten scherzhaft und fügten wie zu abgebrochener Strophe das Ende hinzu, in Deutsch:

». . . und Kleinhuhn im Monde!«

Flugs war da statt der Plaza ein Hof, und ein Mädchen kam, das eine Hühnerschar vor sich hertrieb, darunter den Hahn Juan, der in die Sonne gehörte. Also war mit »Juan« der Hahn gemeint, und nicht Max. – Über diese Tatsache amüsierten die beiden Farbigen sich ganz gewaltig. Max ärgerte sich; dann tröstete ihn das Mädchen, das Magda glich. Auf einmal war sie aber seine Schwester, hatte einen rotblonden Zopf und küßte ihn schwesterlich. Merkwürdigerweise ging sie auf den Zehenspitzen und deutete nach dem Balkon. Dort, unerreichbar hoch, saß seine Mutter unter der rotweißen Markise . . . Max hörte seine Schwester flüstern: »Ich würde sie ja warnen, daß das Wasser kommt; – aber wir dürfen sie ja nicht stören!« Dann kam ein Rauschen; doch die Mutter saß so unbeteiligt wie auf einem Thron. Das Rauschen wurde stärker und zugleich seine Sehnsucht, zur Mutter zu gelangen. – Schon mußte er waten, und auch die Schwester stand bis zur Brust im Wasser. »Mama!!« schrie er und mühte sich ab, am Balkon in die Höhe zu klettern . . . »Das Wasser! – Das Wasser!!«

– – – Mit diesem jammernden Schrei wachte Max wieder auf. Er lag, in einer Atmosphäre von Lavendelessenz, am uferlosen Busen Frau Ziehlkes, die ihn murmelnd zu beruhigen trachtete. Sie saß neben ihrem Bett auf dem Stuhl. In der Tür erblickte er eine Gestalt in fußlangem Nachthemd, die er zunächst noch mit seiner »Schwester« verwechselte . . .

 

Frau Ziehlkes Herz hatte stillgestanden, als sie einen Schatten in ihrem Schlafzimmer sah. Dann aber erkannte sie die schlanke Silhouette des Knaben. Er polterte in der Dunkelheit und murmelte in einer Sprache, die unter die vielen gehörte, die Frau Ziehlke nicht kannte. Dann war der schlafwandelnde Max sozusagen von selbst auf sie zugestürzt und hatte sie »Mama« genannt. Und wegen des »Wassers« . . . Sie hatten sicher Sintflut in der Schule, bei Religion oder Geographie, und nun träumt er bös und flüchtet zu ihr, der kleine Heimatlose . . . Sie schneuzte sich.

»Magdachen,« sagte sie, »führ' Max in sein Bett. Laß deine Tür offen, damit daß du ihn wecken kannst, wenn er wieder losgeht. – Es ist ein bißchen schwül heut.«

»Komm, Max«, sagte Magda und nahm den Benommenen an der Hand, »komm schön . . .« An seinem Bett angelangt, legte sie ihn hinein und strich ihm die Kissen glatt; – sehr gründlich, und unter Empfindungen, die zwar nicht unbedingt zu diesem Samariterdienst gehörten, ihm aber nichts von seiner Opferfreudigkeit nahmen. Als sie (des sehr weit geöffneten Ohrentrichters wegen) endlich zögernd Abschied nahm, war sie fürs Leben entschlossen, ihre Eroberung zu verteidigen.

Leider wurden die Alpträume Maxens bei kühlerer Witterung seltener, was jedoch nicht hinderte, daß Magda bei den leisesten Anzeichen flugs zur Stelle war. – In Frau Ziehlke jedoch nahm ein Plan, den sie schon längere Zeit bebrütet, greif- und diskutierbare Form an. Sie wußte zwar, daß an Herrn Ziehlke verglichen (wenn man ihn in Kenntnis setze) ein gegen den Strich gekämmtes Stachelschwein noch ein Schoßtier darstellen würde . . .

Immerhin verließ sich die Frau auf die Mithilfe des sprichwörtlichen »Zahns der Zeit« und dessen augenblicklich so wirksame und rücksichtslose Nagetätigkeit. Er beknabberte sie alle mit beschleunigter Gier, und zunächst war es überschüssiger Speck, der ihm zum Opfer fiel. Herrn Ziehlkes Westen wurden etwas runzlig und sein Nacken sah aus wie ein lebensmüder Kinderballon. Frau Ziehlke schmolz, und ihr Antlitz zeigte, in patriotischer Angleichung, ein Schützengrabennetz aus mannigfachen Ritzen, die der Puder mehr hob als verwischte. – In solcher Erkenntnis opferte sie auch den Puder. Seltsamerweise bekam das Durchhalten – an dem jenes hehre Beispiel in bronziertem Gips sich so tönend beteiligte – der ganzen Familie körperlich ausgezeichnet. Zwar waren ihre Menüs noch Völlerei, gemessen an den Tafelfreuden der farblosen Masse, aber immerhin schon »Diät« im Ziehlkeschen Sinn, ohne Doktorrechnung dazu.

So breitete sich, neben der Entsagung, deren Schwestertugend, die christliche Demut, bei ihnen aus mit leiser Penetranz als neues, sehr seltenes Parfüm. Sie zermürbte die Seelen und machte sie weich, wo sie es noch nicht waren, und das traf ganz besonders auf den Hausherrn zu. Hätte ihm jetzt ein kleiner Jesusknabe mit der Hussapeitsche aus Palmfiedern gewinkt, er hätte willig den Nacken gebeugt, soweit es sein Berlinertum ihm gestattete. Dementsprechend wuchs die Energie seiner besseren Hälfte, die es sich sogar nicht nehmen ließ, als letztes pompöses Schwanzende einer namenlosen Hausfrauenschlange auf Butter anzustehen. Ebenso traf es zusammen mit der entschlossenen Jungfräulichkeit der Tochter, bei der das Weib sich sowohl streckte als rundete. – Sein Protest dauerte zwar einige Tage, doch war es leerer Lärm und verzischte als nasse Rakete. –

Max wurde adoptiert und hieß von nun ab Max Ziehlke.

Magda hatte einen Bruder und Frau Ziehlke einen Sohn.

Was Herrn Ziehlke betraf, so bedeutete Max eine fragwürdige Investierung und war geschäftlich kaum zu verantworten. Er hatte das unbehagliche Gefühl, daß sein neugebackener Sohn wohl »Grütze« besaß; daß diese jedoch da, wo er sie am meisten brauchte, etwas durchsichtig und dünn aufgetragen war – nämlich wo zum Beispiel Seife in Frage kam . . .

Licht in der Finsternis

Im Jahr des Unheils 1915, im Frühling, erfuhr man, ein Torpedobootzerstörer sei zwischen Helgoland und Cuxhaven auf eine Treibmine aufgefahren. Die Hälfte der Besatzung fiel der Explosion selbst zum Opfer, die andere Hälfte wurde zum Teil noch schwimmend geborgen, und zwar durch ein zufällig vorbeikreuzendes Schulschiff.

Unter diesen in letzter Minute Geretteten befand sich auch ein gewisser Leichtmatrose namens Max Ziehlke, der, kaum ins Trockene gebracht, einer tiefen Bewußtlosigkeit verfiel. Diese vollständige Apathie und Schockwirkung war so kräftig, daß er noch im Lazarett in Berlin eine Woche nachher in tiefem Schlafe lag. Man hatte seine Eltern noch nicht verständigt, da deren Besuch zunächst völlig zwecklos schien. – Wohl aber erhielt eines Tages Fräulein Magda Ziehlke, Volontärin am städtischen Krankenhaus (nach Absolvierung eines einjährigen Kurses in Verwundetenpflege), folgenden Brief der Oberschwester:

»Geehrtes Fräulein Ziehlke!

Der mir zugewiesene Patient Leichtmatrose Max Ziehlke, Ihr Bruder, der mit Schock und Apathie unlängst eingeliefert wurde, deliriert chronisch. Der Gegenstand seiner Delirien ist unter anderem der Wunsch nach Ihrer Pflege. Ich bin geneigt, seinem Wunsch zu willfahren, da man sich günstige Rückwirkung davon auf sein Befinden verspricht. Ich ersuche Sie daher, zu kommen und in die Tätigkeit von Schwester Griseldis auf Nummer dreizehn einzutreten. Womit ich verbleibe

Ihre wohlgeneigte                        
Euphemia von Stöckeritz.«

Magdas Herz stand still. Sie hatte noch keine Einzelheit von Maxens Katastrophe gehört; sie wußte nur, daß er gerettet war. Sie nahm sich nicht einmal Zeit, zum Mittagessen nach Hause zu fahren, sondern stürzte in die Richtung, die der aristokratische Zeigefinger der Oberschwester wies – an das Bett von Max, in das Unglückszimmer dreizehn. – Die kleine Schwester Griseldis, die in diesem Raum neun andere Leute betreute, erklärte ihr flüsternd, man habe soeben einen neuen Anfall mit Morphium abgedrosselt, und er werde wohl kaum vor Abend erwachen. – Worauf Magda ihn kurz entschlossen in ein Einzelzimmer überführen ließ; – man werde dafür zahlen.

Sie aß ein wenig; dann prüfte sie auf eigene Faust seinen Puls und seinen Status generalis. Beides war nicht unbefriedigend, und ihre anfängliche Blässe verwandelte sich allmählich in die Rosenfarbe des Eifers. Sie trank Tee und stellte dabei bei sich selbst leichte Pulsbeschleunigung fest – was unfehlbar auf die Diagnose »Verliebtheit« deutete.

Es war schon dämmerig. Die dunkelgrün gedämpfte Lampe warf ihren Schein auf Maxens unschön geschorenen Kopf, auf seine schmale, edle Stirn, auf seine schwarzen Brauen, deren finstere Verschwisterung selbst der Stupor nicht löste. – Er atmete lautlos. Sie starrte ihn an und kleidete ihn in Gedanken in allerlei Kostüme; am besten erschien ihr das knappe, silberbestickte eines jugendlichen Toreros, einen namenlos-nebelhaften Stier attackierend, der aus der glatten Ölfarbenfläche der Zimmerwand hervordrohte. Überrannte ihn der Stier? Oder wurde er gefällt? – Dies bösartige Gespenst, das das Rätsel seines Lebens zwischen den quälenden Hörnern trug?

Plötzlich wechselte die Art seines Atmens; es wurde schneller, ohne daß er sich sonst rührte. Schließlich zischte es rhythmisch über die trockenen, halboffenen Lippen wie das eines träumenden Jagdhundes. Ganz schnell zuletzt; unwahrscheinlich schnell. Magda legte ihre Hand auf seine Stirn, es half nichts. Trockene kleine Laute kamen aus seiner Kehle. –

Es war ein Symptom des Erwachens; aber dies Erwachen war nicht in diese ruhige Lampen- und Schwesternwelt hinein, sondern in eine andere grauenvollere hinter der Schwelle. Seine Augen öffneten sich weit und immer weiter. »Max!« sagte sie; er hörte nichts.. Er hatte nur Augen und Ohren für das Geschehnis hinter der Schwelle.

Nun gurgelte er, nun fuhr er mit den Händen nach der Kehle, als wolle er eine würgende Faust abwehren. Das war, erkannte Magda, die üble salzige, auslöschende Klammer des Wassers.

Wieder und wieder schwankte es in seinen Träumen auf ihn zu. Zuerst kam die breiig-splitternde Explosion der Mine mit einer schmutzig-silbernen Schaumgarbe von Himmelshöhe – – dann kam Blut – – und dann kam Angst. Vielleicht entglitt ihm gerade ein Stück einer Deckplanke, und er sah einen faulig-grünen Wellenberg . . . Er sah den brodelnden Tod.

Seine Arme wurden schwer wie vollgesogene Schwämme, und die Ameisen der Vernichtung wimmelten in seinen Adern und zupften an seinem Magen, an seinem Herzen, das ihnen nachzugeben drohte wie fallendes Blei . . . Er mußte unsagbar leiden. –

»Max!« schrie sie laut in sein Ohr und rüttelte ihn. Er verdrehte die Augen wie ein Sterbender, so daß der Perlmutterglanz des Apfels weiß hervortrat. Dann sanken die Lider herab, um sich gleich darauf wieder zu öffnen. Er war wach.

Er schlang die Arme um sie und riß sie zu sich herab. »Dolores«, jammerte er. Und dann kam eine Flut von spanischen Worten. Dieser flüsternde, heisere, hastige Erguß dauerte vielleicht eine Viertelstunde. Sie rückte am Schirm der Lampe; er schien sie plötzlich zu erkennen. Er fand deutsche Worte. – »Magda!« sagte er auf einmal langsam. »Du bist da. – Das ist gut.«

Sie trocknete ihm den Schweiß ab; er setzte sich auf.

»Na, mein Lieber,« meinte sie und küßte ihn, »du mußt jetzt nicht mehr daran denken. Es war wohl kein schönes Erlebnis da auf dem Zerstörer, aber deine Rolle in der Marine ist vorläufig ausgespielt. Wir behalten dich jetzt bei uns. Lange kann das ganze Unglück ja nicht mehr dauern. Es wird zuviel . . .« Sie saß perlblaß, und ihr siebzehnjähriger Mund stand offen, als sei sie plötzlich überrumpelt von einem (scheinbar lange verstummten) Entsetzen; dem Entsetzen über vier Jahre Mordens und sinnlosen Vergeudens unwiederbringlicher Werte . . . Das aschblonde Haar trug sie, immer noch als Zopf, um den Kopf gewickelt, es war fast zu schwer und schimmerte metallen. Es hatte sich halb gelöst, und eine Strähne bebte auf der knapp umkleideten jungen Brust. Sie wischte mit dem Zeigefinger das Naß an ihrer Nase herab, doch auf diesem vorgezeichneten Weg, in die blutarme Lippe hinein, sickerte es neu und feucht herab – – das große, große Bedauern über all dies unmeßbar Törichte und Trübe.

»Was hast du da alles gesagt, Max? – War es nicht Spanisch?«

»Wie komisch, daß du mich Max nennst. Ich heiße doch eigentlich gar nicht Max.«

Ihr Profil wurde scharf und gespannt, wie ehedem auf dem Balkon. – »Nun? – Wie heißt du?«

»Juan«, sagte er müde. »Juan Garcia . . . Garcia de la Huerta.«

»Hast du das geträumt?«

»Nein, das ist wahr. Ich weiß jetzt alles. – Denke dir, Magda – – ich weiß alles!!« –

Sie schnellte empor. »Wie!?« keuchte sie . . . »Dein ganzes früheres Leben?!«

Er nickte ältlich. – »Alles«, wiederholte er still. –

Sie lief, ihre verschränkten Finger schier aus den Gelenken dehnend, vor Erregung im Zimmer ziellos hin und her. –

»Was soll ich tun?« stammelte sie. »Was soll ich tun . . . Juan?!«

»Das ist doch klar«, sagte er fast pedantisch. »Geh' zum Telephon und laß dich mit dem Konsulat von Chile verbinden!«

»So, so . . . also Chile . . . Gleich, Max, gleich . . . O Gott, o Du großer Gott . . . Ich lauf' ja schon . . . also Chile . . .«

Sie stürzte hinaus.

Der letzte Alarm

Don Fernando Alamos, derzeit Gesandter seiner neutralen Regierung in Berlin, ehemaliger Präsident von Chile, war recht erstaunt, als eine zitternde weibliche Stimme ihn am Telephon beschwor, unverzüglich ins Lazarett zu kommen. Dort liege, so hieß es, ein junger Landsmann von ihm, der ihm äußerst wichtige und unaufschiebbare Mitteilungen zu machen habe.

Alamos war ein großer, beleibter, prunkvoller Mann mit einem seidigschwarzen, mit Silber gesprenkelten Vollbart, den er pflegte wie einen kostbaren Blaufuchspelz. Er trug einen Gehrock, prall an massive Hüften geschmiegt, einen Elfenbeinstock und Lackstiefel, die etwas länger und spitzer waren als sein zierlicher iberischer Fuß. Diese Lackspitzen zeigten sich unter den weiten, breitgestreiften Hosen vom Schnitt französischen Diplomatentums – diskret schlotternden Hosen von vertrauenerweckender Stoffvergeudung. Er ging – oder besser: er »verfügte sich« – mit leicht auswärts gesetzten Füßen, den steifen Hut als Andeutung munterer Bonhommie zurückgeschoben und den keulenförmigen gelben Stock quer in der Ellbogenhöhle, – nach ausgiebigem Kopfschütteln ans gewünschte Ziel. Er brachte viel exotischen Duft in dies kriegsverarmte, verödete, hoffnungslose Lazarett – den Duft unantastbarer Devisen aus einer anderen, ganz anderen Ecke der Welt.

In dem bezeichneten Krankenzimmer angelangt, zögerte er in der Tür. Er sah einen bleichen jungen Mann im Bett liegen; unverkennbar einen Landsmann. Zunächst jedoch wandte er sich der blonden Pflegerin zu und forschte: »Sie waren es, mein Fräulein, die mich rief?« –

Sein Organ klang wie ein Cello.

»Ja«, sagte Magda. »Bitte . . .« und sie präsentierte ihm mit einer rührend hilflosen Handbewegung ihren Patienten. – Dann stürzte sie wiederum hinaus. Sie mußte Ruhe haben; Stille. – Die Exzellenz, nach einer höchst formellen Verbeugung, schloß hinter ihr die Tür, und dann trat sie näher.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte der junge Mann in ausgesucht schönem Spanisch. (Diese Sprache beherrschte die nächsten zwei Stunden in allen Schmelz-, Ruf- und Beteuerungslauten, deren sie fähig ist.) Und als der schöne Gesandte sich niedergelassen, hörte er ohne weitere Einleitung den erstickten Aufschrei: »Sind Sie das, Don Fernando?!«

»Ja – bitte – ganz richtig, Señor – aber habe ich schon einmal das Vergnügen gehabt . . .?«

»Don Fernando!« jubelte es. Zwei Hände tasteten ihm entgegen. »Sie sind da!! – Kennen Sie mich nicht mehr? Ich bin Juan Garcia!«

»Juan –?!« stotterte der Vollbart . . . »Doch nicht Juan, der Sohn meines armen Enrique?!«

»Derselbe, Don Fernando! – Derselbe!!«

»Aber wie ist das möglich! Wie ist das möglich!«

Ungläubig-fassungsloses Staunen auf der einen Seite und schluchzende Beteuerung auf der anderen . . .

»Fassen Sie sich, Señor. – Erzählen Sie.« –

Und er zog sein goldenes Zigarettenetui hervor und bot es dem Jüngling. –

»Erzählen Sie . . . Vorläufig sind Sie ja längst tot, Señor, wie Ihre ganze arme Familie im Schoß der Muttergottes vom Meere . . . Wie ist das! Was sagen Sie! – Sollte die Gnadenreiche gerade Sie . . . Oh, dies ist viel! Dies ist zuviel!« –

Er spreizte die beringte Hand; er sank zusammen – – denn nun kam es wie ein Strom, ein ungehemmter Strom. Und was da in Bildern vor ihm aufstieg, in herzrüttelnden, eindringlichen Bildern, – die er kannte, die er wiedererkannte als Stück eigenen Miterlebens und eigener Trauer, war das Folgende:

 

Ein Heim! – Was ist ein »Heim«? Der kleine Knabe kennt es nur für Monate. Meistens ist es eine Hotelzimmerflucht mit fremden Stimmen und dem Kommen und Gehen von Kellnern; – Kellnern aller Völker.

Die Eltern sind beständig unterwegs; und das gehört sich so.

Sechsmal macht Juan mit seiner Schwester Dolores die Reise von Chile nach London, das bedeutet: länger als ein Jahr hält er das Parkett des Promenadendecks für die Welt, und die buntesten Leute werden intim mit ihm. Auch außer den Hotels gibt es soviel, was man nebenher erlebt unter Buchen oder Palmen . . .

Dann aber kommt die stille Zeit auf dem Landgut in Placilla bei Santiago. »Ich weiß noch gut, Don Alamos, daß wir Sie zum Vertrauten machten. Sie durften es nicht weitersagen: wir hatten eine kleine Wissenschaft untereinander. Der große schwarze Hahn hieß Juan, nach mir – wissen Sie noch? – und lebte in der Sonne; und die schwarze Henne, die Freundin von Dolores, war Kleinhuhn.– Sie war im Mond zu Hause. – Nachts durften sie zusammenkommen.«

Die Zigarette im silbernen Schwarz glühte auf; der Gesandte schloß bestätigend die zerknitterten Lider über den gewölbten Augen. Er wußte dies nicht mehr. Doch verschlug es nichts.

»Fahren Sie fort, Juan. – Erzählen Sie von Ihrem Vater, meinem Freunde.«

»Mein Papa . . . ach, lachen Sie mich nicht aus, – ich weiß nicht, wo ich beginnen soll . . . Er hatte grüne Augen, wie? Er konnte mit den Rottos lachen, die ihre Esel nach der Plaza trieben, und dann, wenn er mit Ihnen sprach, war es feines Castilianisch . . . Er trug den Bart kürzer als Sie, und spitzer . . . Ich war dabei, wenn man ihn schnitt. Ich freute mich über die Angst des Friseurs. Seine Wäsche, seine Schuhe, seine Hüte . . . er bezog sie nie vom Laden, sondern ließ sie anfertigen für sich. Er war einer der schönsten Männer, Don Alamos, und nicht schwach oder eitel, sondern er trotzte drei Operationen und verschaffte sich Respekt. Einmal erschoß er einen Pfau, der vor seinem Zimmer schrie, durch die Fensterscheibe. Er hatte das schnelle Blut; – dabei war er stark wie Stahl.«

»Gott weiß es, Juan. – Und wie war es? Wann sah ich euch zum erstenmal? Wie lernte ich ihn kennen, Ihren Vater Enrique?«

»Sie boten ihm einen Extrazug an nach Iquique zur ›Ema Luisa‹ – zur Salpetermine; – er übernahm sie dann und machte Geld daraus. Und später holten Sie uns wieder ab mit Ihrer Privatjacht, ›der Abwechslung halber‹, sagten Sie; wir kamen bis Valparaiso; es war amüsant. Dies alles geschah, weil mein Vater die Banco de Santiago rettete . . . Die Direktoren wollten sich zu den Einlagen der Teilnehmer verhelfen, also auch zu Ihrem Geld; aber mein Vater warf sie als einzelner Aktionär alle hinaus . . . sie hatten Namen wie Balladenstrophen, aber es half ihnen nichts . . . Da waren Sie voll Freude, Don Alamos, und schlossen mit meinem Vater unverbrüchliche Freundschaft. Sie schickten auch den Priester, der ihn warnte, als die gekauften Rottos mit den Revolvern hinter den Kakteen hockten . . .«

»Es ist alles wahr, Juan. – Niemand kann es wissen außer Ihnen und mir. Ich staune; ich bin erschüttert. – Sehen Sie mich nicht an. – Berichten Sie weiter. Ersparen Sie sich nichts; es sei für dieses eine Mal. – Wie stand es mit Ihrer Mutter?«

Juans Gesicht weitet sich bis in frühe Kindheit. Wovor warnt sein Vater, vor jeder Operation? – »Sagt es ihr nicht, Kinder; stört sie nicht; sie leidet an Kopfweh . . .« Wo ist sie, und wann sieht man sie überhaupt? Und doch ist sie auf unerklärliche Weise mit des Vaters aktivem Leben verkettet, schiebt sich stets hinter ihn wie eine Rollkulisse in Grau, hinter der es nach Medikamenten duftet. Sie ist immer zugegen, aber man ahnt sie nur – wie den Ahnenschrein eines reisenden Japaners . . .

Ein Hotel oder ein dunkles Privathaus. Wir müssen zwei leere Zimmer durchschreiten, Dolores und ich. Ganz hinten sind Kissen, und daraus spricht es mit uns: sanftes Deutsch mit spanischen Kosenamen. Die Mutter ist deutsch, blond und hat immer Migräne. Stets legt sie Patience. Sie treibt ihre Krankheit als schweigsamen Aufwand; sie sitzt schallsicher in dreifachen Kissenschichten – die Mutter. Was bedeutet das: »Mutter«?

Sie ist menschlich nicht faßbar. Ihre Tyrannei schlägt keine Beulen; sie bedrückt nur aus der Ferne. Ihr Egoismus ist naiv; er hat etwas ungeheuerlich Zwingendes, wohin er auch seine sanften Finger legt . . . auf die Erziehung der Kinder, auf den Geist des Mannes, auf eine zum Stummsein gedrillte Dienerschaft . . . Man will sie lieben, aber sie wehrt ab; immer wehrt sie ab.

Sie sieht ihre Kinder wie Schemen durch den Schleier ihres »Kopfwehs« tasten; sie hört ihre Rufe, doch in ihren Ohren braust das sanfte Fieber; sie kränkelt dahin; sie verträgt die Sonne nicht. Und so hört sie ihre Kinder nicht. Die Jalousien öffnen sich nicht mehr; will man sie retten, so muß man in ein deutsches Bad.

Und so schifft man sich ein im Juni – auf der »Etruria«.

 

Auf der »Etruria‹«, flüstert Don Alamos. »Ja; das ist schauerlich. Es strengt Sie an, Juan; ersparen Sie sich die Schilderung.«

»Nein, Don Alamos; ich will Ihnen erzählen . . . ich muß es erzählen, verstehen Sie, sonst gehe ich wieder von neuem unter, Nacht für Nacht . . . Es ist ohnedies nicht viel, was ich weiß. – Stellen Sie sich vor: das gewaltige Passagierschiff . . . Ich bin schon im Bett. Man musiziert, aber das hört man kaum. Es herrscht ein immerwährendes Dröhnen. Ich weiß, mein Vater ist nicht bei den Leuten; und auf einmal stehe ich auf und sehe Dolores an. Sie ist so hübsch in ihren Pyjamas; sie liegt in ihren rotgoldenen Haaren. ›Dolores,‹ sage ich, ›ich muß zu Papa.‹ – ›Wir müssen schlafen, Juan.‹ – ›Kommst du nicht mit?‹ – ›Nein,‹ sagt sie (und das war das letzte, was sie sagte) – ›ich versinke gerade so schön in den Schlaf.‹

Und so gehe ich die Korridore hinunter; langgestreckte grüne Läufer, die sich in Dunkelheit verlieren. Kein Steward zeigt sich; keine Menschenseele nimmt sich meiner an. Denn ich habe die Kabinennummer des Vaters vergessen. Ich fühle, mein Vater sitzt hinter einer dieser vielen Türen, mischt seinen Scotch und erwartet mich . . . Auf einmal ist mir, als höre ich ein leises Pochen . . . Klopft er nicht, ganz nahe mir, seine Pfeife aus? Ich rufe . . . ich rufe . . . Ich finde ihn nicht . . .«

»Weinen Sie, Juan, das erleichtert . . .«

»Was hilft das, Don Alamos . . . Sie wissen ja; – dann kommt der – Stoß und dann noch ein stärkerer Stoß . . . Zwei Torpedos sind das; – – dann kommt dies Schreien, dies Durcheinander, diese Hölle . . . Der Gang ist voll wahnsinniger Menschen . . . Man drängt mich zum Deck; ich falle übers Geländer, unwiderstehlich hinabgestoßen. Ich schreie nach meinen Eltern, nach Dolores . . . Ich finde einen Rettungsring, ziellos hinabgeschleudert, und packe ihn . . . Boote preschen vorbei; Menschen hängen daran wie Trauben . . . Oben, hoch über mir, glitzert noch die vierfache Lichterschnur des Schiffes – dann erlischt sie, alles ist schwarz, und ich spüre einen furchtbaren Schlag auf den Kopf. Es muß ein Ruder gewesen sein von einem der Rettungsboote. Ich hänge im Korkgürtel; mein Kopf bleibt über Wasser, und so treibe ich in die Nacht hinein. Als ich zu mir komme, liege ich zwischen den Felsblöcken eines Gestades, und mir ist so, als beschäftige sich ein Mann mit mir. Dann weiß ich wieder nichts für lange Zeit.«

»Ah – ein Fischer. Ein irischer Fischer.«

»Vielleicht ein Fischer. Es muß einige Meilen von der Unglücksstelle gewesen sein; er hat allein gelebt, an einer unzugänglichen Stelle der Küste. Dies sind Kombinationen, verstehen Sie, Don Alamos. Andere Leute landen und nehmen mich auf einen Kutter. Ich bin wie betäubt; vielleicht ist es ein Schmuggelboot für Munition, und sie lassen mich arbeiten und aufpassen. Sie merken, daß ich zu nichts zu gebrauchen bin und werfen mich an einer Stelle der englischen Küste an Land. Von dort aus laufe ich ziellos weiter. Der Schlag auf den Kopf schmerzt noch immer – – wer hat mir denn den Schlag auf den Kopf gegeben? – Ich weiß es nicht mehr. Niemand kann es mir sagen. – Alles ist schwarz in meinem Kopf.«

»Und jetzt ist hell, Juan.«

»Ja, aber sie tut weh, diese Helle.«

Tausch der Namen und Happy End

Juan ahnte noch nichts von dem Kampf, der nunmehr um seine Person entbrannte.

Er wußte nur, daß seinetwegen endlose Telegramme und private sowie offizielle Schriftstücke über den Ozean wanderten – (zwischen der chilenischen Gesandtschaft und einer Reihe von Familien, die den Namen Garcia mit Zusätzen trugen – Zusätzen, so alt wie die Gründung ihrer ersten Pfahlbauten im Ebro). Diese Korrespondenzen verschlangen ein kleines Vermögen – doch es verlohnte sich.

Juan benutzte die Zwischenzeit, um sich die Haare wieder wachsen zu lassen. Man sorgte höheren Orts auch für eine englische Garderobe, für eine Ausstattung, die irgendwie an Touristentum mahnte. Es waren Golfhosen darunter und breite Wollkappen; es war seidene Wäsche und vieles mehr von dem, was ein achtzehnjähriges Herz erfreut. Vielleicht wollte man damit auch andeuten, daß sein Besuch in Deutschland unter dem Touristenpseudonym Ziehlke sich bald dem Ende nähere.

Dies alles erfüllte den Rekonvaleszenten mit melancholischem Behagen. Magda war stets um ihn und sehr besorgt, wie es sich von selbst ergibt bei einem heiklen und tragischen Fall . . . Irgendeine Ehrfurcht lag in ihren scheuen Liebkosungen. Dabei ließ ihr Appetit immer mehr nach. Es wurde alles so kompliziert . . .

Was Herrn Ziehlke betraf, so hatte er nunmehr einen handgreiflichen Beweis, daß das Gute sich selbst belohnt – (insofern es so aussah, als sollten tatsächlich himmlische Zinseszinsen herabgeschüttet werden bei Adoptierung von Aschenputteln oder sonstigen streunenden Waisenkindern). Er gab sich aber nicht zufrieden mit der biblischen Zusage, daß das Gute sich »tausendfältig« belohnt, sondern setzte den taktvollen Diplomaten in starke Verlegenheit. Er zog nämlich aus seiner Investierung in Gottes Güte das praktische Fazit und half dem höchsten Wohlwollen noch dadurch kräftig nach, daß er jenes nebelhafte »Tausendfältig« entschlossen in gegenständliche Nullen verwandelte. »Das sei doch nur logisch«, sagte er und glotzte durch seine Intelligenzbrille. – »Jedes Kind könne eine solche Arithmetik augenblicks begreifen.«

Es war nicht gerade, wie man sieht, die Weltanschauung eines spanischen Patriziers, die aus seinem Benehmen sprach. Wiewohl Kenner seiner nicht nur in Berlin weitverbreiteten Klasse ihm nichts verübeln können, so darf doch nicht verschwiegen werden, daß seinem Vorgehen die Anmut fehlte; daß er sich unerwartet habgierig, ja rundheraus ein bißchen ordinär zeigte. Er machte aus seinem Adoptivsohn das Objekt eines regelrechten Kuhhandels und sprach in seiner Erregung, ohne Nötigung, viel schallenden Dialekt.

Ohne daß man ihn herausforderte, zeigte er die starke Hand. Er, und niemand anders, stelle den gegebenen Vormund bis zur Großjährigkeit Juans dar. Diese Vormundschaft – lenkte er ein – sei jedoch zu haben. Sie sei ihm feil. Er wolle nunmehr ebenfalls in Holz machen, wie der verewigte Garcia. Nach dem Krieg werde eine große Bautätigkeit beginnen; und bei Holz könne man ihm, Ziehlke, keine Schrauben und Geldsack-Egel ansetzen von Kommandos wegen, wie bei Seife, von der er genug habe. Er brauche eine runde Summe, und er nenne sie hiermit. –

Don Alamos, recht angewidert, versprach ihm, seine »Anregung« wegen der »runden Summe« nicht zu vergessen. –

Mutter Ziehlke, der offene Ohrentrichter des Hauses, erstarrte zur Salzsäule.

Und Magda? – Magda weinte. –

 

»Ich habe« – sagte Don Alamos nach vier Wochen zu Juan, den er zu sich gebeten – »Ihretwegen, mein junger Freund, eine große Bataille gekämpft. – Stellen Sie sich vor: Sie sind totgesagt. Mit Klauen und Zähnen (wenn ich mich etwas undelikat ausdrücken darf?) klammern Ihre geschätzten Verwandten sich an Ihr Erbe. Es ist nicht leicht. Ich appelliere zunächst an das Herz; ich renne gegen Wände. Hierauf schiebe ich mir selbst den Eid zu – per Dios! – und man schmilzt. Nicht wahr? Meine Reputation, mein Charakter, meine Stellung – ich nehme alles; ich werfe es in die Wagschale, ich, der verflossene Präsident . . . Kurz; nun sind Sie, Sohn meines teuren Enrique, wieder lebendig. Man bietet einen Vergleich an. Und Sie müssen jetzt hinüber, zu Donna Carolina und Alfonso La-Rein-Claro; Sie müssen sich in die Arme schließen lassen . . .«

Und er ging auf Einzelheiten ein.

»Ich danke Ihnen heiß, Don Fernando.«

»Es war mir interessant. Danken Sie nicht. – Hier ist Ihr Reisepaß.« – Er zögerte. – »Im übrigen . . . dieser Herr . . . Ziehlke? – ja, diese kleine ›Adoption‹ . . . Ich bringe das in Ordnung und decke es aus Ihrem Guthaben, Juan. Er beansprucht (verstehen Sie: beansprucht!) eine Abfindung. Er ist nicht sehr bescheiden . . . Aber ich glaube, Juan, Sie werden keinen Wert darauf legen, seinen – ehem – Namen zu führen . . .«

Juan stand still. Er wurde rot und blaß. Er verschluckte sich, als habe er etwas sagen wollen. – Dann aber umarmte er die gepflegte Gestalt seines Retters und fühlte dessen duftenden Vollbart sekundenlang auf der Stirn . . .

 

– – – »Willst du mit mir kommen, Magda?«

Sie sah ihn fest an.

»Ich kann nicht. Ich habe dich lieb. Und du bist mein Bruder.«

»Nein; ich bin es nicht mehr. Das Schicksal hatte eine Pfändungsmarke an mich geklebt; Alamos hat sie abgerissen. Ich bin Juan Garcia.«

»Also darf ich dich lieben?!«

»Wenn du auch deinen Namen wechseln willst.«

Sie begann heftig zu weinen.

»Ich habe dir früher einmal gesagt, daß Vater, wenn er aufs Geschäftliche kommt, so geradeheraus und derb wird und Leute wie deinen Alamos gräßlich vor den Kopf stößt. – Sieh' mal, er sieht es eben alles von der praktischen Seite, selbst wenn es sich um dich handelt. Aber es tut weh.«

»Magda! Er ist ja dein Vater; vielleicht hat er recht. Jedenfalls das, was er will, hat er nun. Und schließlich besser noch Herrn Ziehlke zum Vater, als gar keinen. – das solltest du dir sagen.«

Sie leuchtete auf. – »Ach, Juan, – du hast ja keine Eltern mehr . . . Und ich hab' sie wenigstens noch beide . . .«

Er ließ dies letztere Thema auf sich beruhen; – wie er denn überhaupt erstrebte, den gesamten Ziehlkeschen Haushalt, Magda ausgenommen, auf sich beruhen zu lassen.

Dies ganze Milieu von Bronzebüsten, Meerschaummöpsen und Seifenkonjunkturen war ein Bild, das der Krieg in einer Anwandlung von trübem Humor heraufgespült hatte – und dann wieder verschlungen. –

Er beschäftigte sich daher damit, der verdutzten Magda ganze fünf Minuten andächtigster Hingabe zu widmen und ihr Gelegenheit zu geben, ihre Erfahrung mit ›südlichen Naturen‹ ganz bedeutend zu erweitern.

Als ihnen wieder einfiel, wo sie waren, beschloß er:

»Ich würde dich gern auch Dolores nennen – wie meine Schwester. – Aber du bist mir mehr als Dolores. – Du wohnst nicht nur im Mond . . .«

»Ich wohne, wo du willst, Juan. – Nur hier darf es nicht sein. Es gibt jetzt zu wenig Sonne in Deutschland.«


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