Willy Seidel
Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
Willy Seidel

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Fünftes Bild

Die Krawatte

Es klingelte schon zum drittenmal, als die alte Frau endlich den Mut fand, zur Tür zu schleichen und sich zu erkundigen, wer da sei. Es wurde eine lange Unterhaltung daraus, bis sie sich von der Identität des Neffen überzeugt. Endlich sagte sie: »Ah . . . du scheinst es wirklich zu sein . . .« Sie rasselte mit einem riesigen Schlüsselbund und schloß die drei Schlösser tastend auf. Dann zog sie die Kette von der Tür (groß wie eine zentnerschwere Ankerkette) und öffnete mit scharf spähendem Raubvogelprofil. Ihr spitzer Kiefer kaute; ihre Blicke schossen argwöhnisch ins Treppenhaus. Grotesk sah sie aus in ihrem buntbestickten, wattierten Schlafrock. Der Arzt trat ein und sagte herzlich: »Na, Tantchen? Was machst du? Ich komme gerade vorbei, von einem Patienten, der auch in dieser Gegend wohnt . . . Da wollte ich mich mal nach dir umsehen . . .«

Er kam tatsächlich von einem Patienten. Dieser Patient war sein einziger, er mußte wie ein Juwel verhätschelt werden. Da der Doktor gut gekleidet war und sicher auftrat, sah man ihm die Not nicht an, die er litt. Die argwöhnische Alte durfte um keinen Preis der Welt merken, wie dringend er der Hilfe bedurfte. – Sie war schon hoch über die achtzig, schon jenseits der biblischen Erlaubnis. Es war beim Himmel endlich an der Zeit, daß . . .

Er folgte ihr ins Wohnzimmer. Dort hatte sie das Sofa zum Bett umgemodelt. – »Es schläft sich zwar nicht besser hier«, nörgelte sie und schob sich wieder unter die Daunendecke, »aber man kann wenigstens plötzlichen Besuch empfangen, wenn es durchaus sein muß.« Ihre trüben Augen belauerten ihn, wie die Pupillen eines reglosen Uhus aus seiner Nische.

Der Arzt – ein Dreißiger mit abgezehrtem Gesicht, in dem eine goldene Brille blitzte, setzte sich auf eines der Sammetfauteuils und sah sich um. Ziemlich lang hatte er diese Pracht nicht mehr gesehen. Die gedrechselten Sessellehnen, die verschnörkelten Aufsätze, die gewundenen Säulen; und da war ja noch, hurra, der »betende Knabe« aus galvanischer Bronze . . . Außerdem ertrank alles in Plüschquasten. Aller Orten blühten diese unzähligen Plüschquasten hervor, von den Vorhängen bis zum kleinsten Schemel hinunter. In diesem giftgrünen Meer von Plüschquasten hatte er schon immer zu ersticken vermeint. Durch diese verwitterte Mode geisterte der muffige Duft von Baldrian. Neben dem Sofa hatte die Greisin ein Tischchen mit drei Gläsern, einer kristallenen Wasserkaraffe und zwölf Fläschchen jeden Formates. Auch ein Türmchen von runden Pillenschachteln.

»Nanu?« sagte er lächelnd und rieb sich das Kinn – »was sehe ich denn da? Wer will dich denn so vorzeitig ins Jenseits befördern, Tantchen?«

Der Uhu knappte mit dem Schnabel. »Es könnte dir so passen, wenn das jemand wollte«, gab sie mit scharfer Schelmerei zurück.

»Worum handelt sich's denn?« fragte er gleichmäßig aufgeräumt. »Und wer hat dir denn all das Zeug verschrieben?« (Toll, daß sie nicht einmal ihn zu Rate gezogen . . .)

»Schlaflosigkeit –«, erwiderte sie und verlor auf einmal das kritisch Lauernde. »In–som–nia« . . . Sie sang die einzelnen Silben wie eine Liederstrophe. Schließlich ging das Wort in ein Jammern über. Ihre Augen blickten in ein Loch hinein: in Monate voll fruchtlosen, verzehrenden Grauens vor der Einsamkeit; in Monate voll bettelnder Sucht um den Balsam. »Doktor Ortmann tut eben, was er kann.«

Er nahm die Medizinen in Augenschein. »Das ist ja alles labbriges Zeug, Tante. Das ist gut für kleine Kinder, nützt aber bei dir nicht mehr viel. Tja . . . Natürlich geht man zu einem Kollegen und vergißt ganz, daß man einen Neffen hat, der ebenso kompetent wäre . . .«

Ihr Gesicht hatte sich in blitzschneller Umgruppierung aller Runzeln verwandelt. Sie lächelte, und es sah bei ihrem zahnarmen Mund unsagbar tückisch aus.

»Nichts hab' ich vergessen. Aber bei lebendigem Leib, mein Lieber, laß ich mir noch nicht von dir das Fell über die Ohren ziehen.«

Sein Kopf wurde heiß, aber er bezwang sich. Er saß im Schatten und seine Brille war vor seinen grauen Augen – sie konnte sie nicht sehen, diese Augen.

»Nanu? Bin ich so teuer?«

»Billig bist du bestimmt nicht.«

»Schließlich muß ich mir meinen Namen bezahlen lassen. Das hat Kollege Ortmann noch nicht nötig. Also entweder – (er sagte es sehr gemütlich) – ich schröpfe dich ganz besonders kräftig – du kannst es ja gut vertragen – oder ich behandle dich umsonst.«

Es kämpfte mächtig in ihren Zügen.

»Umsonst!« hatte er gesagt.

Ihr Lächeln verlor das Tückische; sie dachte; kalkulierte. Sie kniff den Mund zusammen und bemühte sich, seinen Ausdruck zu erhaschen. Dort saß er trostreich und Vertrauen erweckend – die Kapazität. Er verdiente offenbar gut. Er brauchte nichts von ihr.

Wieder sah das Gespenst der Schlaflosigkeit sie an, die wimpernlose Maske, und durch den Raum schwang das Asthma von Monaten. Von Jahren. Und zugleich auch der herzklopfende Schreck, der sie versucht, mit den Fingernägeln an der Tapete hinaufzuklettern.

Dies alles wollte er nun verscheuchen. Und er verlangte nichts dafür!

In ihrer Gespanntheit setzte sie sich halb auf.

»Sagst du das im Ernst?«

»Was denn, Tantchen?«

»Daß du mich umsonst behandeln willst.«

»Freilich will ich das.« Es klang, als verschlucke er sich; er hüstelte. »Das liegt doch auf der Hand.«

Sie fiel ungeheuer erleichtert auf das Kissen zurück. »Die Sachen vom Ortmann«, flüsterte sie nach einer Weile, »helfen nichts mehr.«

»Das glaube ich. Weißt du was? Ich gebe dir ein Spritzchen, hin und wieder. Das schadet nichts und hält für Tage vor.«

»Ernst,« sagte sie langsam, »so ein Spritzchen macht doch – – dumm?«

»Dich nicht.« Er schien zum Scherzen aufgelegt. »Dumm macht es vielleicht Leute, die es von Natur aus schon sind. Dir nimmt es nur die Unruhe weg und bringt dir gesunden Schlaf.«

»Gesunden Schlaf . . .« flüsterte sie. »Und sonst ist es nicht gefährlich?«

Er schnalzte mit der Zunge am Gaumen. »Wenn du glaubst, daß es dir schadet, bekommst du es eben nicht. Aber dieser Kollege mit seinem Baldrian . . . Mir wird übel von dem Gestank! Daß du das aushältst!«

»Also gut,« seufzte sie, »du mußt es ja wissen.«

Schon die bloße Suggestion genügte . . .

»Ich gehe in die Küche«, sagte er, »und mache es zurecht . . .«

 

Er verließ das Zimmer, nahm im Korridor sein Handköfferchen und begab sich in die Küche. Die Türen standen offen. Vom Wohnzimmer kam ihr erlöster Atem herübergeklungen, als schliefe sie schon.

An dem Abwaschbecken spülte er die Morphiumspritze mit destilliertem Wasser und feilte darauf einer Ampulle den Hals ab. Er sog den Inhalt in die Spritze; sie war zu einem Viertel gefüllt. Das war die übliche, die Minimaldosis.

Während er hantierte, traten Schweißtropfen auf seine Stirn. Die Schachtel mit den zurückgelassenen fünf Ampullen lag offen da. Sie waren so hübsch symmetrisch aufgebahrt, jede in ihrem Kartonkäfterchen.

Die Birne an der Decke warf ihr kalkweißes Licht darauf. Er blickte sich mit krauser Nase um; die Türen standen offen! Er drehte den Wasserhahn an, und während des Plätscherns köpfte und leerte er mit mechanischen Bewegungen auch diese übrigen Ampullen. Sie waren so einladend. Sein Gesicht war grau. Einen Moment noch zögerte er; dann drehte er das Plätschern ab und verließ die Küche.

Der nackte Arm, der wie Elfenbein glänzte, lag dort auf der Daunendecke.

»So, Tantchen,« sagte er in sonorem Baß und beugte sich über sie, »nun bringe ich dir eine gute Portion Schlaf . . .«

Sie drehte langsam das Gesicht von der Tapete weg zu ihm hinüber. Offenbar hatte sie halb geträumt, während er draußen beschäftigt war. In der Zerstreutheit des Alters glitten ihre Augen von seinem Gesicht auf seine Brust. Plötzlich sagte sie mit einem naiven, fernen Lächeln: »Na, ich sehe, du hast es immer noch nicht gelernt, Ernst, dir deine Krawatte richtig zu binden.«

Er reckte sich langsam auf. Er starrte sie an.

»Meine Krawatte . . . richtig . . . zu . . . binden?« stammelte er. »Wie kommst du jetzt gerade auf diesen . . . Einfall?«

»Ich sehe dich ganz aus der Nähe. Es fällt mir ein, daß deine Mutter immer an deiner Krawatte gemäkelt hat. Du warst eben ein Jung'. Einmal hast du dich darüber beklagt. Aber gelernt hast du es immer noch nicht. Komm' mal heran. Der Knoten muß fester sitzen, siehst du. So.«

Ihre Hände hatten sich ausgestreckt und an ihm genestelt. Mit einem merkwürdig erstickten Laut fuhr er zurück. Die Spritze entfiel seiner Hand und rollte unter den Stuhl.

»Was hast du denn?« fragte die Alte und wurde flugs wieder kritisch. »Bist du immer noch so nervös in diesem Punkt? Na, sorg' du selbst für deine Toilette, alt genug bist du ja. – – – Nun aber mach' schnell. Ich werde schon nicht viel spüren auf meinem alten Fell.«

Sie streckte ihm einladend den Arm hin.

Er saß wieder halb im Dunkeln auf dem Stuhl. Er atmete schwer, als er sich bückte und das Instrument vom Boden hob. Dann trug er es unter die Lampe und betrachtete es.

»Entschuldige,« sagte er mühsam, »ich bin doch verdammt ungeschickt. Ich muß eine andere Hohlnadel nehmen; diese ist zerbrochen.«

Er ging in die Küche zurück. –

Als er zurückkam, irrten seine Augen beim Eintritt ins Zimmer ab und fanden das Bild seiner Mutter an der Wand: ein Bild mit ganz verschwommenen Zügen.


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