Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen
Heinrich Seidel

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Ich hatte Mühe, mir das Lachen zu verbeißen, nahm aber gewaltsam all meine Würde zusammen und hielt Lotten eine schöne Standrede. Dann kehrte ich mit Tante Lieschen in die vorderen Zimmer zurück und hier sagte diese mit finsterer Entschlossenheit: »Du, wann geht der nächste Zug nach Schwerin?«

»Das weiß ich nicht, liebe Tante!« antwortete ich.

»Aber ich muß es wissen!« sagte sie, »denn du kannst nicht verlangen, daß ich noch eine Stunde in diesem fürchterlichen Ort bleibe. Muß ich noch einmal so etwas erleben, so ist es mein Tod. Ich fühle schon so ein Ziehen im Rücken, ich glaub', ich krieg' meine Zustände.«

Ich wandte alle Mittel der Beredsamkeit an, doch anfangs wollte es mir gar nicht gelingen, sie zu beruhigen. Dann kam Frieda nach Hause und half mir Öl auf die aufgeregten Wogen der Tantengefühle zu gießen, und als dann endlich Wolfgang erschien und ihr rosig freundlich und zutraulich entgegenlief, da sah man, wie sie schwankend ward. Nachdem wir sie endlich glücklich am Eßtisch hatten und es uns gelungen war, ihre zerrütteten Nerven mit Beefsteak und Bratkartoffeln zu kräftigen und ihren gesunkenen Lebensmut durch ein Gläschen süßen Weines wieder aufzurichten, da entschloß sie sich wenigstens, einen Versuch zu machen, wie es sich in dieser Mördergrube leben ließe. Als dann am Abend Hühnchen und Frau Lore erschienen, und ihr mit sonniger Gutherzigkeit freundlich entgegen kamen, da schien das Spiel gewonnen, denn sie mußte sich doch wohl im stillen sagen, daß ein Ort, wo so harmlose und gute Leute friedlich und fröhlich lebten, doch nicht ganz von Gott verlassen sein könnte.

Trotzdem war die Nacht, die diesem Tage folgte, für sie und uns nicht ruhevoll. Ich hatte ihr kleines Zimmer am Abend sorgfältig abgeleuchtet, um festzustellen, daß nirgendwo ein Mörder sich verborgen halte, ja sogar die Waschtischschiebelade hatte ich scherzweise aufgezogen und untersucht, ob sie nicht etwa einen einbrecherischen Däumling berge, doch trotzdem ließ ihre rege Phantasie die arme Tante nicht ruhen, und ein jedes unbekannte Geräusch schreckte sie aus kurzem Schlaf wieder empor. Das erstemal klopfte sie leise, aber eindringlich etwa um Mitternacht. Ich sprang aus dem Bett, und sie flüsterte durch das Schlüsselloch: »Hörst du denn nicht, da draußen bohrt immer was.« Ich beruhigte sie, so gut ich konnte. Nach einer Stunde etwa erschreckte sie das Stampfen der Pferde, die ihren Stall auf dem Hofe hatten, und ich mußte wieder hinaus und sie durch das Schlüsselloch aufklären. Dann gab's eine Weile Ruhe, bis endlich gegen fünf Uhr ein neues Entsetzen sie erfaßte.

»Hörst du denn nicht«, flüsterte sie durch das schon mehrfach benutzte Sprachrohr, »wie es arbeitet im Keller? Dort brechen sie durch die Decke.« Und ich merkte, wie ihre Stimme vor Angst zitterte.

»Ach, teuerste Tante, so schlafe doch«, sagte ich fast ein wenig unmutig, »das ist ja nur die Wasserpumpe.« Das Haus war nämlich noch nicht an die Leitung angeschlossen und wurde durch eine im Keller stehende Pumpe versorgt, die einen Behälter auf dem Boden füllte und frühmorgens in Betrieb gesetzt wurde. Das allergrößte Entsetzen aber erfaßte sie, als kurz vor sechs Uhr Lotte vorne in der Wohnung die Rolljalousien der Fenster nach der Straße zu aufzog. Dieses fürchterliche und unbekannte Geräusch brachte sie mit einem Satz aus dem Bett und an das Schlüsselloch.

»Hörst du denn wieder nicht«, rief sie, »das sind Brecheisen!« Ich mußte natürlich wieder hinausklettern, sie zu beruhigen, und so ging es die ganze Nacht bettaus, bettein, Policke, Polacke, und meine gute Tante verfuhr wie Macbeth gegen mich, sie mordete den Schlaf.

Jedoch trotz alledem verlor sie ihre Furcht vor dem entsetzlichen Berlin in einiger Zeit, und als wir, nachdem unsere kleine Helene getauft war, einmal mit ihr ins Panoptikum gingen, war sie merkwürdigerweise nicht davon abzuhalten, sich die Schreckenskammer anzusehen, und schien zwischen all den scheußlichen Puppen mit den starren wächsernen Mördergesichtern ein wundervolles Grausen zu empfinden. Zwar fuhr sie alle Augenblicke entsetzt zusammen, wenn so ein ausgestopftes Scheusal hinter ihr stand und es ihr dann vorkam, als rege es sich, zwar sagte sie bei Betrachtung der Folterinstrumente und der Richtschwerter, auf denen sie noch Spuren von Verbrecherblut zu sehen glaubte: »Igittegittegitt, wie greulich!« zwar huddelte sie sich sehr vor dem Massenmörder Thomas, der trotz seiner schwarzen Seele so friedlich aussieht wie ein Brauereibesitzer, und dennoch war sie nicht eher wegzubringen, bis sie die letzte aller dieser Scheußlichkeiten in sich aufgenommen hatte. Wir sind stark geneigt zu glauben, daß der Besuch dieses Tempels der Greulichkeit den Glanzpunkt ihrer Berliner Erinnerungen bildet.

Wenn Tante Lieschen sich in unserer Wohnung aufhielt, so ging ein bestimmter Prozentsatz des ganzen Tages damit verloren, daß sie ihre Brille suchte, ein Sport, an dem sich das ganze Haus eifrig zu beteiligen pflegte mit Einschluß des kleinen Wolfgang, der mit großem Eifer an den unmöglichsten Orten nach ihr forschte. Mir ist in meinem Leben kein optisches Instrument dieser Art bekannt geworden, das eine so geringe Anhänglichkeit an seine Herrschaft und eine solche Abneigung gegen einen ständigen Wohnsitz gezeigt hätte, wie dieses. Nun hatte unser Kindermädchen Pauline zwei- oder dreimal das verlorengegangene Seheisen mit großer Geschwindigkeit wieder aufgefunden und war deshalb bei Tante Lieschen in den Geruch einer guten Spürnase gekommen, so daß sie gleich bei Beginn der Suche zu rufen pflegte: »Pauline, Pauline, haben Sie meine Brille nicht gesehen? Ach, suchen Sie doch mal, Sie können ja so schön finden!« Und merkwürdigerweise entdeckte mit wenigen Ausnahmen Pauline den Flüchtling an den unglaublichsten und verstecktesten Orten mit großer Schnelligkeit.

Wir waren darüber einigermaßen verwundert, denn auf Pauline paßte sonst treffend der Ausspruch aus Hermann Marggraffs »Fritz Beutel«, der so lautet: »Denn sie war damals noch sehr dumm, fast dümmer noch, als sie aussah, obwohl sie ihrem Aussehen nach doch immer noch dümmer hätte sein können, als sie war.« Dieser Dummheit ward nur von ihrer Unordnung die Waage gehalten, und wie Fritz Reuter mal von einem polnischen Wirtshaus sagt: »Dor streden sick nu Hiring, ollen Kes' un Fuselbramwin, wer am düllsten stinken wull«, so waren auch jene beiden obengenannten Eigenschaften bei Pauline in einem steten Wettstreit begriffen, und noch jetzt, nachdem sie lange schon unser Haus verlassen hat, vermögen wir nicht zu entscheiden, ob sie unordentlicher als dumm oder dümmer als unordentlich war. Heruntergefallene Haarflechten, ausgerissene Rockfalten, Löcher in den Hacken, oder zwei verschiedenfarbige Strümpfe, irgendein solches Kennzeichen, oder auch manchmal alle zugleich, waren immer an ihr bemerklich. Mir ist sie besonders erinnerlich geblieben durch das einzige Lied, das sie kannte und dem kleinen Wolfgang und der noch kleineren Helene unermüdlich vorsang. Aber auch davon weiß ich nur noch den ewig sich wiederholenden Refrain, der lautete:

Grünkohl, Grünkohl!
Ist die beste Pflanze!

Darf man von diesem Bruchstück auf das Ganze schließen, so kann man wohl annehmen, daß sein Dichter von den vielen Stufen, die zum Gipfel des Parnasses führen, eine der untersten bewohnt hat. Ich für meinen Teil habe Liebigen in Verdacht.

Das war also Pauline, und um so mehr fiel es uns auf, daß sie bei dieser einen besonderen Gelegenheit eine so große Findigkeit und Geschicklichkeit bewies. Wir glaubten schon, es läge hier ein Fall vor, der öfter in der Natur vorkommt, wo ganz besonders bornierten Persönlichkeiten oft einzelne sehr hervorragende Fähigkeiten verliehen sind, zum Beispiel die Geige zu streichen, oder Wortwitze zu machen, oder im Schachspiel sich auszuzeichnen. Ich kannte auch mal einen Mann, der weiter nichts verstand, als auf zehn Schritte durch ein Schlüsselloch zu spucken, aber das auch unfehlbar. So glaubten wir denn, die Natur habe sich bei Pauline erschöpft, indem sie ihr einzig und allein die Fähigkeit erteilt hatte, verlorengegangene Brillen mit unfehlbarer Sicherheit wieder aufzufinden. Jedoch damit ging es uns wie jenem Junggesellen, der seinen seit kurzem verheirateten Freund antraf, wie er sich einen Knopf annähte. »O, was machst du da?« rief er, »ich denke, du bist verheiratet?« »Ja glaubst du«, rief der Ehemann, »daß meine Frau dazu Zeit hat?« »O weh«, sagte der andere ganz betrübt, »nun fällt das auch noch weg!«

Denn angeregt durch ihre ersten wirklichen Erfolge in dem Auffinden dieser Brille, hatte Pauline, wie später herauskam, um dieses Ruhmes noch öfter teilhaftig zu werden, mit der bekannten Dummpfiffigkeit, die manchmal den Beschränkten eigen ist, das der Tante unentbehrliche Instrument an allen möglichen Orten versteckt, um es nachher mit scheinbar wunderbarer Spürkraft wieder aufzufinden. Tante Lieschen aber versank fast in Tiefsinn über ihre zunehmende Zerstreutheit und Vergeßlichkeit, die sie veranlaßten, ihre Brille auf dem Grund von Papierkörben, in Ofenröhren, unter Tischdecken und an anderen wunderlichen Orten zu deponieren, ohne daß ihr nachher eine Erinnerung davon blieb.

An die Greuel von Berlin, die bei näherer Besichtigung in nichts versanken, hatte sich die Tante, wie gesagt, bald gewöhnt, doch wurde sie zuletzt durch ein anderes Schrecknis vertrieben, das ihr in ihrem Heimatort ebensogut drohte wie hier. Tante Lieschen war nämlich mit einer entsetzlichen Gewitterfurcht behaftet, und als es eines Tages zu blitzen und zu donnern begann, zog sie sich in den finstersten Winkel der Wohnung zurück und hörte nicht auf zu lamentieren und zu klagen. Da ich nun nicht wünschte, daß Wolfgang dadurch mit derselben Gewitterfurcht angesteckt würde, die mir die eigene Kindheit verbittert hatte, so hielt ich ihn möglichst von ihr fern und ließ ihn mit Pauline vorne sich aufhalten, während Frieda und ich der Tante Gesellschaft leisteten, denn allein gelassen unter solchen Umständen, wäre sie vor Angst gestorben. »Ach«, sagte Tante Lieschen, »in meiner jetzigen Wohnung in Schwerin, da geht es ja, aber als ich noch aufm Schloß wohnte, da waren die Gewitter viel stärker. – O du mein Schöpfer, das war ein Blitz, das hat eingeschlagen. Hör' doch den Donner!« Es kam aber dennoch eine kleine Pause, und nur der Regen strömte stärker und rauschender herab. Ich suchte sie zu trösten damit, daß es in Berlin eigentlich nie einschlüge und daß sogar des Nachts wegen eines Gewitters niemand aufstände, sondern ruhig weiter schliefe, wenn er es vor dem Lärm könnte. Doch das erregte nur ihren Zorn und sie fand es barbarisch und unchristlich. »Sieh mal, liebe Tante«, sagte ich, »hier sind so viele hohe Häuser und Giebel und Zacken und Eisenspitzen und Fahnenstangen und Telephonleitungen, da weiß das Gewitter vor lauter Auswahl gar nicht, wo es hineinschlagen soll, und läßt es lieber ganz.«

Das wollte ihr aber nicht einleuchten und sie fand meine Rede sehr frivol. Als dann die Blitze sich wieder mehrten und der Donner stärker rollte, rief sie mit einemmal:

»O du hast ja wohl Stiefel an?«

»Ja, warum nicht liebe Tante?«

»Da sind doch Nägel drin!« rief sie, »und Eisen zieht doch den Blitz an. Das wissen ja sogar die drei Realschüler, die bei dem Schuster in Pension sind, wo ich meine Wohnung gemietet habe. Sie sind sonst Bambusen, wie alle Jungs in diesem Alter, aber wenn ein Gewitter ist, dann leisten sie mir Gesellschaft und ich geb' ihnen 'n bißchen Kuchen und 'n klein' Glas Wein, denn solche Jungs können ja essen und trinken, wenn auch Pech und Schwefel vom Himmel fällt. Aber als sie in der Schule gehabt haben, daß Eisen den Blitz anzieht, da haben sie sich immer draußen die Stiefel ausgezogen und sind auf Socken zu mir gekommen.«

Ich konnte ihr nun nicht wohl sagen, daß dies ein alberner Schülerstreich gewesen sei, und daß die Bengels sie sicher zum besten gehabt hätten, und mußte wahrhaftig hinaus, um mir die Stiefel auszuziehen, damit mir der Blitz nicht in die Beine führe.

Das Gewitter nahm aber mehr und mehr an Stärke zu, und Pauline graute sich in dem Vorderzimmer, mit dem kleinen Wolfgang allein zu sein. Ich ließ sie deshalb nach hinten gehen, nahm den Jungen auf den Arm, blieb dort, damit er das angstvolle Lamentieren der Tante nicht hören sollte, und zeigte ihm, am Erkerfenster stehend, die Blitze als ein schönes Schauspiel. Wenn dann so ein recht starkes Himmelsfeuer sein verzweigtes Flußnetz über den regengrauen Himmel schoß, so sah der kleine Wolfgang mich an und sagte: »Vater, der war doch schön!«

Das Gewitter nahm jedoch fortwährend an Stärke zu, die Blitze häuften sich und wurden rasch von einem kurzen Donner gefolgt, der klang, als wenn ein ungeheures Eisengerüst plötzlich zusammenstürze. Dann plötzlich ein blendend heller Schein, als ob die Luft in Feuer stände, und damit zugleich: »Rack!« ein furchtbarer Knall. Das war dem kleinen Wolfgang denn doch ein wenig zu viel. Er schlug beide Händchen vor die Augen und sagte mit etwas schüchternem Ton: »Vater, das war wohl sehr schön?« »Ja, mein Kind«, sagte ich, »das war sehr schön!« obgleich mir doch ein wenig blümerant zumute war. Jedoch nun schien sich die Macht des Gewitters erschöpft zu haben, allmählich vergrollten die Donner in der Ferne, der Regen verrauschte und bald schien die Sonne durch die letzten funkelnden Tropfen, während die überschwemmte Straße sich mit unternehmenden Jünglingen füllte, die mit nackten Beinen in den trüben Wasserlachen jauchzend herumwateten.

Tante Lieschens Verfassung kann man sich denken. Bei dem entsetzlichen Schlag war sie emporgefahren und hatte sich einige Male um sich selbst gedreht. Da sie sich aber nicht entscheiden konnte, aus welcher der drei Türen des Zimmers sie fliehen sollte, so war sie kraftlos wieder auf den Stuhl zurückgesunken, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und stöhnte. Nach einer Weile ließ sich das Bimmeln der Feuerwehr vernehmen. »Was ist das, was ist das?« rief Tante Lieschen.

»Das ist die Feuerwehr!« sagte Frieda ganz ruhig.

»Mein Gott«, rief Tante Lieschen nun, »findest du nicht auch, daß es hier so sengerich riecht? Wie kannst du nur so ruhig sein? Wo ist denn das Feuer?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Frieda, »aber es scheint mir, als wenn die Wagen hier ganz in der Nähe halten!«

Das war nun Tante Lieschen außer allem Spaß, und da das Gewitter so plötzlich nachgelassen hatte, wagte sie sich in das Vorderzimmer, wo ich mit Wolfgang stand und den Arbeiten der Feuerwehr, die einige Häuser weiter vor einem Hause hielt, zuschaute.

»Da stehst du so ruhig und guckst!« rief Tante Lieschen, »packt ihr denn nicht eure Wertsachen zusammen?« Und sie fingerte mit zitternden Händen an ihren Ohrringen herum, zog ihre beiden Ringe ab, löste ihre Amethystbrosche vom Halse und steckte in ihrer Verwirrung alles säuberlich in die Tasche.

»Aber liebe Tante«, rief ich lachend, »es ist ja drei Häuser weit ab. Und hier kannst du es, wer weiß wie oft, sehen, daß, wenn ein Dachstuhl brennt, die Leute drei Treppen hoch im Vertrauen auf ihre Feuerwehr ruhig aus dem Fenster sehen!«

»O wie entsetzlich!« sagte Tante Lieschen.

»Und außerdem handelt es sich hier gar nicht um Feuer«, fuhr ich fort. »Bei der Überschwemmung durch den Platzregen ist ein Keller voll Wasser gelaufen und die Feuerwehr pumpt es nun wieder heraus.«

Das wirkte sehr beruhigend auf die Tante und sie bemerkte nun mit einemmal, daß ihre Ringe fehlten. »Du mein Schöpfer«, rief sie, »wo sind meine Ringe? Und meine...« Hier ward sie plötzlich dunkelrot, ging ganz kleinlaut vor den Spiegel und tat sich ihre Schmucksachen wieder an.

Damit war aber die Sache noch nicht abgetan, denn den ganzen Nachmittag über fürchtete sie sich vor der Rückkehr des Gewitters.

»Diese Art Gewitter kenn' ich«, sagte sie, »die kommen immer wieder und, wenn's nicht eher ist, in der Nacht.«

Und obwohl sie damit nicht recht behielt, kamen wir wiederum diese ganze Nacht nicht zur Ruhe. Denn bald hielt sie das Rollen eines Wagens für fernen Donner, bald das Laternenlicht des Kutschers, der über den Hof ging, nach seinen Pferden zu sehen, für einen Blitz, bald schien es ihr sengerich zu riechen, und so spielten wir wiederum bis zum Morgen Policke, Polacke, und die letzte Nacht, die sie in unserem Hause zubrachte, war ebenso unruhig wie die erste.

Denn diese war wirklich ihre letzte Nacht in Berlin, und das entschied sich am nächsten Morgen, als die Zeitung kam. Dort fand sich folgende Notiz: »Ein Gewitter, das in den gestrigen Nachmittagsstunden, begleitet von einem gewaltigen Platzregen, über Berlin niederging, hat mannigfachen Schaden angerichtet und in den verschiedensten Stadtgegenden ward die Feuerwehr zu Hilfe gerufen, um das in die Kellerräume gedrungene Wasser zu entfernen. Auch schlug ein Blitz in das Haus Frobenstraße Nummer 37 und zertrümmerte einen Schornsteinaufsatz, ohne zu zünden oder sonst weiteren Schaden anzurichten.«

»Du meine Zeit«, jammerte Tante Lieschen, »das ist ja das Haus nebenan. Und das kriegen wir erst heut aus der Zeitung zu wissen. O welch eine entsetzliche Stadt! Nun frag' ich aber: Wann geht der nächste Zug nach Schwerin?«

Sie ließ sich durchaus nicht mehr halten und am Nachmittag dampfte sie ab. Den Eindruck, den der vermeintliche Einbrecher auf sie hervorbrachte, hatte sie überwunden, aber dies ging über ihre Kräfte. An einem Ort, wo man erst am anderen Tage aus der Zeitung erfuhr, daß im Nebenhause der Blitz eingeschlagen hatte, da konnte sie nicht länger leben. Es hieß auch ferner bei ihr: »Einmal und nicht wieder!« Berlin hat sie nie wieder gesehen.


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