Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen
Heinrich Seidel

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Ich war unterdes auf den Balkon hinausgetreten, auf dessen winzigem Raum Hühnchen seine Blumenzucht betrieb. An den Gitterstäben rankten Winden empor und rechts und links stand ein blühender Oleander. An der Handleiste des Geländers waren durch Drähte eine Reihe von Töpfen mit Linaria cymbalaria angebracht, deren blühende Ranken weit herniederhingen. Daß diese genügsame Felsenpflanze Hühnchens Liebling war, konnte man sich wohl erklären; sie, die aus der kümmerlichsten Mauerritze mit einer Fülle von zierlichen Ranken und niedlichen Blüten hervorquillt, war ein Bild seines eigensten Wesens. Jedoch dies alles war mir bekannt und fiel mir nicht auf, aber neu waren mir zwei kleine, bunte Papierlaternen, die an den Oleandern hingen. Hühnchen stand plötzlich hinter mir: »Vorbereitungen zur italienischen Nacht!« sagte er. Er wollte noch mehr Erklärungen geben, wurde aber unterbrochen, da Frau Lore mit einer mächtigen Schüssel aus der Küche kam, auf der eine gewaltige Kuppel der verschiedenartigsten Butterbrote prangte, während zugleich die Türglocke ging und den alten Gram mit seiner Jubelbraut ankündigte. Mit rührender Herzlichkeit wurden sie von den beiden guten Leuten empfangen, so daß die erste Befangenheit sich bald verlor. Der alte Gram war in einen etwas fadenscheinigen, aber wohlgebürsteten, schwarzen Anzug gekleidet, der schon vor zehn Jahren nicht mehr modern war, und grinste ungemein; seine Braut, ein schüchternes, ältliches, unscheinbares Wesen, trug ihr »Schwarzseidenes«, dem man ansah, daß es schon wer weiß wie oft durch irgendeine kleine, geschickte Änderung in bescheidener Weise den Ansprüchen der Mode gefolgt war. Mit großer Mühe wurde das Brautpaar auf den Ehrenplatz genötigt; Hühnchen war unterdes verschwunden. Nach kurzer Zeit kam er zurück und ließ die Tür zum Nebenzimmer hinter sich auf. Frau Lore hatte sich ans Klavier gesetzt und spielte etwas Feierliches, das Brautpaar sah ängstlich und erwartungsvoll aus. Dann traten Hühnchens Kinder ein. Hans und Frieda, im Alter von sechs und fünf Jahren. Sie trugen lange, weiße Gewänder und goldene Flügel, die der erfindungsreiche Hühnchen sehr kunstvoll aus Pappe und Goldbronze angefertigt hatte, und stellten, wie sie nachher selbst verkündigten, die Liebe und die Treue dar. Die Liebe trug einen roten Gürtel und einen Rosenkranz, die Treue einen blauen und einen Kranz von Vergißmeinnicht. Sie sprachen mit ihren frischen Kinderstimmen einige wohlgemeinte Verse von Liebe und Treue, die immer beieinander sein müßten und die sich hier bewährt hätten durch fünfundzwanzig Jahre. Sie wären gekommen auf goldenen Flügeln von ihren himmlischen Höhen, um diesen guten Menschen selber zu danken und ihnen den baldigen Lohn zu wünschen für geduldiges Ausharren in Liebe und Treue, und brächten als ein Zeichen ihrer höchsten Gunst der Braut den Kranz und dem Bräutigam den Strauß von Immergrün. Möge er sich bald in zartblühende Myrten verwandeln und dereinst nach weiteren fünfundzwanzig Jahren in echtem Silberglanze schimmern.

So zählten die beiden Kinder ihre Verse gewissenhaft ab und blieben nicht einmal stecken, was Hühnchen sichtlich mit großem Stolze erfüllte. Der alte Gram aber bot einen wunderlichen Anblick dar, denn diese kleine Huldigung hatte ihn überrumpelt und er war ihr sichtlich nicht gewachsen. Während er die Hand seiner Braut unausgesetzt streichelte, starrte er krampfhaft vor sich hin, und unter seiner Brille hervor rannen wie kleine, runde Perlen, eine hinter der anderen, die Tränen über seine Wangen, und dazu lächelte er so fürchterlich ironisch, wie noch nie in seinem ganzen Leben.

 

Nachher war es hübsch zu sehen, wie die beiden verkümmerten, ältlichen Leute jeder eins der hübschen Engelskinder auf den Schoß nahmen und mit welken Lippen die festen Rosenmündchen küßten und lieb mit ihnen waren, so gut sie es vermochten.

Dann aber, nachdem der innere Mensch sein Teil erhalten hatte, kam der äußere an die Reihe, und dem Inhalt des Goldfischglases und den von Frau Lore köstlich »gedichteten« Butterbroten ward alle Ehre angetan. Als es dunkelte, zündete Hühnchen heimlich seine beiden Papierlaternen an, und wir genossen die Reize der italienischen Nacht. Dabei kam noch ein von Hühnchen gemaltes Transparent zum Vorschein, zwei Herzen an einen höchst dauerhaften Pfeil gespießt, darüber eine große 25 und darunter das mathematische Zeichen der Unendlichkeit ~. »Sehr sinnreich! Was?« meinte Hühnchen zu mir.

Der alte Gram wurde ganz ausgelassen und gesprächig. Zum erstenmal in seinem Leben war er mit seiner alten Liebe unter freundlichen, teilnehmenden Menschen, und sein einsames, verschüchtertes Gemüt schwelgte in der für ihn so seltenen Empfindung, die durch das Goethesche Wort ausgedrückt wird: »Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein.« Unausgesetzt rieb er leise seine knochigen Hände umeinander, und sein ständiges ironisches Lächeln bekam einen deutlichen Stich ins Liebenswürdige. Als Hühnchen eine kleine komische Rede hielt, lachte er sich fast um Verstand und Besinnung und in der Freude seines Herzens trank er, um doch etwas zu tun, vielleicht öfter, als er es gewohnt war, sein Glas leer. Er brachte sogar eine ganz manierliche kleine Rede auf die Familie Hühnchen zustande, wobei er sich zum Schluß allerdings ein wenig verhedderte, sich aber durch einen kühnen Sprung in ein plötzliches dreimaliges Hoch glücklich rettete.

Zuletzt, als der Pegelstand in dem Goldfischglas sich sehr bedenklich dem Nullpunkt näherte, wurde er gerührt, und dann übermannte es ihn. Plötzlich legte er den Kopf auf den Tisch und fing an, ganz erbärmlich zu schluchzen. Die erschrockene Braut fragte verwundert: »Johannes, was ist dir?« Hühnchen sprach zu ihm und versuchte ihn zu begütigen, allein anfangs war nichts aus ihm herauszubringen. Endlich schluchzte er mühsam hervor: »Daß es – daß es – so gute – so gute – Menschen gibt.«

Es gelang uns, ihn allmählich zu beruhigen, doch fand er seine Heiterkeit nicht wieder, er blieb ein Gemisch aus Wehmut und Scham, und selbst das stereotype Lächeln, das ihn, wie ich glaube, sonst auch im Schlaf nicht verließ, war verschwunden.

Jedoch die Zeit war abgelaufen, die der Jubelbraut zur Verfügung stand, und unter gerührtem Dank und vielen Händedrücken entfernte sie sich mit ihrem leidlich getrösteten, aber noch sehr weich gestimmten Johannes.

»So, das war der erste Streich und der zweite folgt sogleich!« sagte Hühnchen und rieb sich befriedigt die Hände. »Ich denke, ehe acht Tage vergehen, werden wir schon ein Stück weiter sein. Ich plane große Dinge und kühne Taten. Doch das ist einstweilen noch Geheimnis. Zunächst wollen wir den Goldfischen wieder zu ihrem Rechte verhelfen.«

Somit tranken wir unter heiteren Gesprächen und in behaglicher Wiederholung der Hauptmomente dieses seltenen Festes den Rest der Bowle aus, und nachdem wir den freudig plätschernden Goldfischen ihre rechtmäßige Wohnung wieder eingeräumt hatten, begab ich mich sehr befriedigt von diesem Abend durch die warme Sommernacht nach Hause.

 

Es war an einem Sonntagnachmittag, acht Tage später, als Hühnchen plötzlich in meine Wohnung gestürmt kam, ganz rot vor freudiger Aufregung. »Weißt du, wie mir zumute ist?« sagte er. »Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt! Ja, wenn ich nicht wüßte, daß solches dir entsetzlich ist, würde ich dir einen furchtbaren Kuß geben. Sie haben sich! Sie kriegen sich! Und ich allein habe es gemacht. Ich komme soeben her. In den Armen liegen sich beide, und weinen vor Schmerzen und Freude. Und selbst das alte Ungetüm von Vater schnuckte ganz gerührt. Er ist übrigens gar nicht so schlimm, wie der alte Hasenfuß ihn sich immer gedacht hat. Ich glaube, wäre er ihm nur früher ordentlich zuleibe gegangen, so säße er längst im warmen Nest und hätte sieben Kinder oder mehr. Doch ich will nach der Reihe erzählen. Ich kenne nämlich einen von den alten Hechten aus dem bewußten Kegelklub. Von dem ließ ich mich für gestern abend einschmuggeln mit der Absicht, mich an den widerborstigen Hausbesitzer und Brautvater heranzuschlängeln. Das gelang mir auch. Ich hatte mich auf eine Anzahl von meinen besten und lustigsten Geschichten eingeübt, die gab ich ihm so nach und nach zum besten und gewann seine Gunst dadurch. Er lachte darüber, daß er beinah den Schlag kriegte, und hatte die Gnade, zu bemerken, ich sei die ›putzigste Kruke‹, die ihm jemals vorgekommen sei. Ja, ich zog meine gemeinsten Saiten auf und bewunderte den Verstand und die Umsicht, mit der er es zum Hausbesitzer in einer so vornehmen Gegend gebracht habe. Ich ließ zart durchblicken, daß Hausbesitzer in meinen Augen ungefähr so etwas wie Halbgott bedeute. Er fing an, mich für einen sehr verständigen Menschen zu halten und schenkte mir immer mehr sein Vertrauen. Ich mußte mit von seiner Weißen trinken, und er bestellte mir eine Strippe dazu. Zuletzt hatten wir uns so angefreundet, daß ich ihn nach Hause begleitete. Das war es, was ich erreichen wollte, denn ich wußte, er hatte einen ziemlich weiten Weg, auf dem sich manches sagen ließ. Er stützte sich auf meinen Arm und schurrte langsam auf seinen Zeugschuhen neben mir her. ›Sie haben noch junge Beene‹, sagte er, ›mit meine ollen Stelzen will et ooch nich mehr recht‹. Dies brachte mich auf körperliche Pflege, und ich fragte nach seiner Familie: ›Meine Olle is schon seit neinundzwanzig Jahre dot – ick habe bloß eene Dochter, die wart't mir uff.‹ ›Nicht verheiratet?‹ fragte ich. ›Nee‹, sagte er, ›se is wohl nich for de Mannsleute. Anträge hat se ja gehatt, aber se wollte ja nich. Vor lange Jahre war mal eener bei mir, so'n Inschenjör, den mochte se, aber er hatte nischt. Schien mir 'ne olle Nulpe zu sind, denn als ick 'n bißken Deutsch mit ihn redete, da tat er 't Maul nich mehr uff und lief weg und kam nich mehr wieder. Und nu is meine Dochter schon in 't olle Register.‹ ›Wie hieß der Mann?‹ fragte ich. ›Nu, et war so wat wie Kummer.‹ ›Vielleicht Gram?‹ fragte ich. ›Richtig, Jram!‹ sagte er, ›nu det is ja Hose wie Jacke‹. ›Den Mann kenn' ich‹, erwiderte ich, ›ein sehr ordentlicher und sparsamer Mann, hat sich von seinem Gehalt seit jener Zeit über zehntausend Taler gespart‹. ›Zehndausend Daler is nich ville‹, meinte er, ›aber et is wat.‹ Ich ließ nun einstweilen den alten Gram fallen und sprach mein höchstes Bedauern darüber aus, daß seine Tochter nicht verheiratet sei, verbreitete mich mit wahrhaft glänzender Beredsamkeit über die Bestimmung des Weibes und schilderte Großvaterfreuden in dem glänzendsten Licht. Der Alte knurrte bloß. Endlich sagte er, als ich gar nicht nachließ: ›Ja, det is nu allens janz scheen, aber wat nich is, det is nich.‹ ›Aber es kann noch werden!‹ rief ich begeistert, nahm einen mächtigen Anlauf und ging mit Hurra vor. Mit übernatürlicher Geschicklichkeit, die mich heute noch mit Staunen füllt, brachte ich ihm alles bei und ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, so hageldicht fielen meine Beweisgründe. Ich traf mindestens zwanzig Nägel auf zwanzig Köpfe. Dann merkte ich, wie es bei ihm mit Grundeis ging. Endlich knurrte er: ›Zehndausend Daler sind nich ville, aber et is wat. Un de Betty hat schonst det vierte Mal jenullt. – 'ne olle Nulpe ist er aber doch!‹

Das war die weiße Fahne, und ich zögerte nicht, die Kapitulationsbedingungen festzustellen. Erst wollte er sich noch lange besinnen und Bedenkzeit haben, aber damit kam er nicht durch. ›Fünfundzwanzig Jahre und eine Woche haben die jungen Leute gewartet‹, sagte ich, ›das ist genug‹. Und so haben wir denn heute vormittag alles abgemacht. In vier Wochen ist Hochzeit! Hurra!«

Und in vier Wochen war wirklich Hochzeit, wir sind beide dabei gewesen. Und jetzt, da ich dies schreibe, ist der »alte Gram« wirklich der alte Gram und durch seine Tochter schon Großvater, und sein Sohn besucht das Polytechnikum. Und nächstes Jahr wollen wir seine silberne Hochzeit feiern. Ich denke, wir wollen dann ebenso lustig sein, wie bei der silbernen Verlobung.


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