Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen
Heinrich Seidel

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Auf dem Heimweg zu der jetzigen Wohnung meines Freundes hatte ich mir diese und ähnliche harmlose Erlebnisse aus jener fröhlichen Zeit wieder ins Gedächtnis gerufen, und eine Sehnsucht hatte mich befallen nach jenen Tagen, die nicht wiederkehren. Wohin war er entschwunden, der goldene Schimmer, der damals die Welt verklärte? Und wie würde ich meinen Freund wiederfinden? Vielleicht hatte die rauhe Welt auch von seinem Gemüt den sonnigen Duft abgestreift, und es war nichts übriggeblieben als eine spekulierende, rechnende Maschine, wie ich das schon an so manchen erlebt hatte.

Er sollte in der Gartenstraße wohnen, allein über die Hausnummer war ich nicht im klaren. Schon wollte ich in ein Haus gehen, das ich für das richtige hielt, und mich erkundigen, als ich auf zwei nette, reinliche Kinder von etwa fünf und sechs Jahren aufmerksam wurde, die sich vor der benachbarten Haustür auf eine für sie scheinbar köstliche Art vergnügten. Es war ein trüber Sommertag gewesen und nun gegen Abend fing es ganz sanft an zu regnen. Da hatte der Knabe als der ältere den herrlichen Spaß entdeckt, das Gesicht gegen den Himmel zu richten und es sich in den offenen Mund regnen zu lassen. Mit jener Begeisterung, die Kinder solchen neuen Erfindungen entgegenbringen, hatte das Mädchen dies sofort nachgeahmt, und nun standen sie beide dort, von Zeit zu Zeit mit ihren fröhlichen Kinderstimmen in hellen Jubel ausbrechend über dieses unbekannte und kostenlose Vergnügen. Mich durchzuckte es wie ein Blitz: »Das sind Hühnchens Kinder!« Dies war ganz in seinem Geiste gehandelt.

Ich fragte den Jungen: »Wie heißt dein Vater?«

»Unser Vater heißt Hühnchen«, war die Antwort.

»Wo wohnt er?«

»Er wohnt in diesem Haus drei Treppen hoch.« –

»Ich möchte ihn besuchen«, sagte ich, indem ich dem Knaben den reinlichen Blondkopf streichelte.

»Ja, er ist zu Hause«, war die Antwort, und nun liefen beide Kinder eilfertig mir voran und klasperten mit ihren kleinen Beinchen hastig die Treppen hinauf, um meine Ankunft zu vermelden. Ich folgte langsam, und als ich oben ankam, fand ich die Tür bereits geöffnet und Hühnchen meiner wartend. Es war dunkel auf dem Flur und er erkannte mich nicht. »Bitte, treten Sie ein«, sagte er, indem er eine zweite Tür aufstieß, »mit wem habe ich die Ehre?«

Ich antwortete nicht, sondern trat in das Zimmer und sah ihn an. Er war noch ganz derselbe, nur der Bart war größer geworden und die Haare etwas von der Stirn zurückgewichen. In den Augen lag noch der alte unverwüstliche Sonnenschein. Im helleren Licht erkannte er mich sofort. Seine Freude war unbeschreiblich. Wir umarmten uns und dann schob er mich zurück und betrachtete mich.

»Weißt du, was ich tun möchte?« sagte er dann, »was wir früher taten, wenn unsere Freude anderweitig nicht zu bändigen war; einen Indianertanz möchte ich tanzen, weißt du wohl noch wie damals, als deine Schwester sich mit deinem Lieblingslehrer verlobt hatte, und du vor lauter Wonne diesen Tanz erfandest und ich immer mithopste, aus Mitgefühl.« Und er schwenkte seine Beine und machte einige Sprünge, deren er sich in seinen jüngsten Jahren nicht hätte zu schämen brauchen. Dann umarmte er mich noch einmal und wurde plötzlich ernsthaft.

»Meine Frau wird sich freuen«, sagte er, »sie kennt dich und liebt dich durch meine Erzählungen, aber eins muß ich dir sagen; ich glaube, du weißt es nicht: Meine Frau ist nämlich« – hierbei klopfte er sich mit der rechten Hand auf die linke Schulter – »sie ist nämlich nicht ganz gerade. Ich sehe das nicht mehr und habe es eigentlich nie gesehen, denn ich habe mich in ihre Augen verliebt – und in ihr Herz – und in ihre Güte – und in ihre Sanftmut – kurz, ich liebe sie, weil sie ein Engel ist. Und warum ich dir das jetzt sage? Sieh mal, wenn du es nicht weißt, so möchtest du befremdet sein, wenn du meine Frau siehst, und sie möchte das in deinen Augen lesen. Nicht wahr, du wirst nichts sehen?«

Ich drückte ihm gerührt die Hand und er lief an eine andere Tür, öffnete sie und rief: »Lore, hier ist ein lieber Besuch, mein alter Freund aus Hannover, du kennst ihn schon!«

Sie trat ein und hinter ihr wieder die beiden freundlichen Kinder mit den rosigen Apfelgesichtern. Meines Freundes Warnung war nicht umsonst gewesen, und ich weiß nicht, ob ich in der Überraschung des ersten Augenblicks mein Befremden hätte verbergen können. Allein in den dunklen Augen dieser Frau schimmerte es wie ein unversieglicher Born von Liebe und Sanftmut, und schweres gewelltes Haar von seltener Fülle umgab das blasse Antlitz, das nicht schön, aber von dem Widerschein innerer Güte anmutig durchleuchtet war.

Nach der ersten Begrüßung meinte Hühnchen: »Heute abend bleibst du hier, das ist selbstverständlich. Lore, du wirst für eine fürstliche Bewirtung sorgen müssen. Tische auf, was das Haus vermag. Das Haus vermag freilich gar nichts!« sagte er dann zu mir gewendet, »Berliner Wirtschaft kennt keine Vorräte. Aber es ist doch eine wunderbare Einrichtung. Die Frau nimmt sich ein Tuch um und ein Körbchen in die Hand und läuft quer über die Straße. Dort wohnt ein Mann hinter Spiegelscheiben, ein rosiger, behäbiger Mann, der in einer weißen Schürze hinter einem Marmortisch steht. Und neben ihm befindet sich eine rosige, behäbige Frau und ein rosiges, behäbiges Ladenmädchen, ebenfalls mit weißen Schürzen angetan. Meine kleine Frau tritt nun in den Laden und in der Hand trägt sie ein Zaubertäschchen – gewöhnliche Menschen nennen es Portemonnaie. Auf den Zauber dieses Täschchens setzen sich nun die fleißigen Messer in Bewegung und säbeln von den köstlichen Vorräten, die der Marmortisch beherbergt, herab, was das Herz begehrt und der Säckel bezahlen kann. Meine kleine Frau läuft wieder über die Straße, und nach zehn Minuten ist der Tisch fertig und bedeckt mit allem, was man nur verlangen kann – wie durch Zauber.«

Seine Frau war unterdes mit den Kindern lächelnd hinausgegangen, und da Hühnchen bemerkte, daß ich die ärmliche, aber freundliche Einrichtung des Zimmers gemustert hatte, so fuhr er fort: »Purpur und köstliche Leinwand findest du nicht bei mir, und die Schätze Indiens sind mir noch immer fern geblieben, aber das sage ich dir, wer gesund ist« – hierbei reckte er seine Arme in der Manier eines Zirkusathleten, »wer gesund ist und eine so herrliche Frau hat, wie ich, und zwei so prächtige Kinder – ich bin stolz darauf, dies sagen zu dürfen, obgleich ich der Vater bin – wer alles dieses besitzt und doch nicht glücklich ist, dem wäre es besser, daß ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er versenkt würde in das Meer, da es am tiefsten ist!« Er schwieg eine Weile, schaute mich mit glücklichen Augen an und fuhr dann fort: »In der Zeit, da der Knabe erwartet wurde, ward meine Frau oft von bösen Gedanken gequält, denn die Furcht verließ sie nicht, ihr – nun daß sie nicht ganz gerade ist – möchte sich auf das Kind vererben und des Nachts, wenn sie dachte, ich schliefe, hörte ich sie manchmal leise weinen. Als dann aber der große Augenblick gekommen war und die weise Frau ihr das Kind zum erstenmal in die Arme geben wollte, da glitten ihre Augen mit einer ängstlichen Hast darüber hin und ein plötzlicher Freudenblitz zuckte über ihr Gesicht und sie rief: ›Er ist gerade! Nicht wahr, er ist gerade! O Gott, ich danke dir – ich bin so glücklich!‹ Damit sank sie zurück in die Kissen und schloß die Augen, aber auf ihren Zügen lag es wie stiller Sonnenschein. Ja, und was habe ich gemacht? Ich bin leise hinausgegangen in das andere Zimmer und habe die Tür abgeriegelt und habe mir die Stiefel ausgezogen, daß es keinen Lärm machen sollte und habe einen Indianertanz losgelassen, wie noch nie. Ein besonderes Glück ist, daß es niemand gesehen hat, man hätte mich ohne Zweifel direkt ins Irrenhaus gesperrt.«

Frau Lore war unterdes von ihrem Ausgang zurückgekehrt und bereitete nun in hausmütterlicher Geschäftigkeit den Tisch, während die beiden Kinder mit großer Wichtigkeit ihr dabei zur Hand gingen. Plötzlich sah Hühnchen seine Frau leuchtend an, hob den Finger empor und sagte: »Lore, ich glaube, heute abend ist es Zeit!« Die kleine Frau lächelte veständnisinnig und brachte dann eine Weinflasche herein und Gläser, die sie auf dem Tische ordnete. Hühnchen nickte mir zu: »Es ist Tokaier«, sagte er, »kürzlich, als ich das Geld für eine Privatarbeit erhalten hatte und es so wohlhabend in meiner Tasche klimperte, da bekam ich opulente Gelüste und ging hin und kaufte mir eine Flasche Tokaier, aber vom besten. Abends jedoch, als ich sie öffnen wollte, da tat es mir leid und ich sagte: ›Lore, stelle sie weg, vielleicht kommt bald eine bessere Gelegenheit.‹ Ich glaube, es gibt Ahnungen, denn eine plötzliche Erinnerung an dich ging mir dabei durch den Sinn.«

Wie heiter und fröhlich verlief dies kleine Abendessen. Es war, als sei der Sonnenschein, der einst in Ungarns Bergen diesen feurigen Wein gereift hatte, wieder lebendig geworden und fülle das ganze Zimmer mit seinem heiteren Schimmer. Die beiden Kinder bekamen von dem ungewohnten Getränk einen kleinen Spitz und konnten, als sie zu Bett gebracht waren, vor Lachen nicht einschlafen, bis sie plötzlich mit einem Ruck weg waren. Auf die blassen Wangen der kleinen Frau zauberte der ungarische Sonnenschein einen sanften Rosenschimmer. Sie setzte sich nachher an ein kleines dünnstimmiges, heiseres Klavier und sang mit anmutigem Ausdruck Volkslieder, wie zum Beispiel: »Verstohlen geht der Mond auf...« oder »Wär' ich ein wilder Falke...« Nachher saßen wir behaglich um den Tisch und plauderten bei einer Zigarre. Ich fragte Hühnchen nach seinen geschäftlichen Verhältnissen. Ich erfuhr, daß sein Gehalt bewunderungswürdig klein war, und daß er dafür ebenso bewunderungswürdig viel zu tun hatte. »Ja, früher, in der sogenannten Gründerzeit«, sagte er, »da war's besser, da gab's auch mancherlei Nebenverdienst. Wir gehen alle Jahre zweimal ins Opernhaus in eine recht schöne Oper, und damals haben wir uns gar bis in den zweiten Rang verstiegen, wo wir ganz stolz und preislich saßen und vornehme Gesichter machten und dachten, es käme wohl noch mal eine Zeit, da wir noch tiefer sinken würden, bis unten ins Parkett, von wo die glänzenden Vollmonde wohlsituierter, behäbiger Rentiers zu uns emporleuchteten. Es kamen aber die sogenannten schlechten Zeiten und endlich ereignete es sich, daß unser Chef einen Teil seiner Beamten entlassen und das Gehalt der anderen sehr bedeutend reduzieren mußte. Ja, da sind wir wieder ins Amphitheater emporgestiegen. Im Grunde ist es ja auch ganz gleich, ich finde sogar, die Illusion wird gefördert durch die weitere Entfernung von der Bühne. Und glaube nur nicht, daß dort oben keine gute Gesellschaft vorhanden ist. Dort habe ich schon Professoren und tüchtige Künstler gesehen. Dort sitzen oft Leute, die mehr von Musik verstehen, als die ganze übrige Zuhörerschaft zusammengenommen, dort sitzen Leute mit Partituren in der Hand, die dem Kapellmeister Note für Note auf die Finger gucken und ihm nichts schenken.«

Es war elf Uhr, als ich mich verabschiedete. Zuvor wurde ich in die Schlafkammer geführt, um die Kinder zu sehen, die in einem Bettchen lagen in gesundem, rosigem Kinderschlaf. Hühnchen strich leise mit der Hand über den Rand der Bettstelle: »Dies ist meine Schatzkiste«, sagte er mit leuchtenden Augen, »hier bewahre ich meine Kostbarkeiten – alle Reichtümer Indiens können das nicht erkaufen!«

Als ich einsam durch die warme Sommernacht nach Hause zurückkehrte, war mein Herz gerührt, und in meinem Gemüt bewegte ich mancherlei herzliche Wünsche für die Zukunft dieser guten und glücklichen Menschen. Aber was sollte ich ihnen wünschen? Würde Reichtum ihr Glück befördern? Würde Ruhm und Ehre ihnen gedeihlich sein, wonach sie gar nicht trachteten? »Gütige Vorsehung«, dachte ich zuletzt, »gib ihnen Brot und gib ihnen Gesundheit bis ans Ende – für das übrige werden sie schon selber sorgen. Denn wer das Glück in sich trägt in still zufriedener Brust, der wandelt sonnigen Herzens dahin durch die Welt, und der goldige Schimmer verlockt ihn nicht, dem die anderen gierig nachjagen, denn das Köstlichste nennt er bereits sein eigen.«


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