Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen
Heinrich Seidel

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Dieser Aufforderung kamen natürlich alle mit ganz besonderer Freude nach. Sodann nahm in dieser redelustigen Gesellschaft die endlose Reihe der Trinksprüche ihren Lauf, denn an diesem Nachmittag wurde alles leben gelassen, was nur leben zu lassen war, sogar der Rabe Hoppdiquax zu Nebendahls großer Entrüstung. Auch dieser brave Onkel hielt seine Rede und zwar eine solche, daß ihr wegen ihrer merkwürdigen Kürze und Schlagkraft allgemein der Preis zuerkannt wurde. Er klopfte mächtig an sein Glas und erhob sich dann feierlich. Sein weißes Vorgebirge strahlte über den Tisch hin, sein rotes Antlitz glänzte. Er hob langsam sein Glas in Augenhöhe, daß der bejahrte Hochzeitsfrack in allen Fugen krachte, und beschrieb damit unter verbindlichem Lächeln einen Bogen über den ganzen Tisch hin, wobei er mit jeder Dame gleichsam mit den Augen anstieß. Dann, indem er sein Glas schnell senkte und hob, wie man mit einer Flagge salutiert, donnerte er die einzigen zwei Wörter hervor: »Die Damen!!«

Gewaltiger Beifall und endloses Gläserklingen folgten dieser Rede. Hühnchen nannte sie »lapidar« und Bornemann »monumental«. Ja selbst auf Herrn Erwin Klövekorns Antlitz zeigte sich ein schwaches Lächeln, etwa wie wenn der Geist eines Nachtschmetterlings um eine welke Blume schwebt.

Onkel Nebendahl hatte diesen jungen Mann, der ihm gegenüber saß und seine Tischnachbarin mit lauter unverständlichen Dingen unterhielt, schon öfter prüfend ins Auge gefaßt. Nun redete er ihn endlich an: »Sagen Sie mal, Herr Klövekorn, was haben Sie eigentlich für ein Geschäft?«

Der junge Mann sah die Nase entlang und zog die Mundwinkel ein wenig nach unten, denn der Ausdruck »Geschäft« sagte ihm nicht zu. Dann antwortete er: »Ich habe mich dem Studium der Kunstwissenschaft ergeben.«

»Du meine Zeit«, sagte Nebendahl, »was heutzutag' auch alles studiert wird. Früher, da studierten die Leute Pastor oder Advokat, oder Schulmeister, oder Doktor, un damit war's aus. Nu aber wird alles mögliche studiert, schließlich wohl noch gar Nachtwächter. Der eine studiert Maschinenbauer, so als wie Hans Hühnchen zum Beispiel, der andere Zahnbrecher, der dritte sogar Landmann. Na, was bei so 'n ökonomisches Studium 'rauskommt, das seh' ich bei meinem Nachbar Schmeckpeper. Das führt immer erhabene Redensarten in 'n Munde von Agrikulturchemie un Superphosphat un Stickstoff un so was, wenn das aber seine Leute anstellen soll, denn laufen sie ihm durcheinander wie die Ameisen, wenn einer mit 'n Stock in ihren Haufen purrt. Un wenn das nach seinen Weizen einfährt, so is es ein Jammer. Also Kunstwisenschaft studieren Sie, Herr Klövekorn? Da kann ich mir gar nichts bei denken.«

»O Herr Nebendahl«, sagte der junge Mann, »das ist in neuerer Zeit eine Wissenschaft von so großer Ausdehnung geworden, daß einer sie nicht mehr beherrschen kann und eine Menge von Spezialisten entstanden ist. Da gibt es welche, die sich nur mit Raffael abgeben und mit dem, was diesen angeht. Ein anderer ist wieder der große Dürerkenner, ein dritter beschäftigt sich nur mit Rembrandt, ein vierter hat sich wieder auf einen bisher ganz unbeachteten Maler geworfen und macht ihn noch dreihundert Jahre nach seinem Tode berühmt, was er bei Lebzeiten gar nicht einmal gewesen ist. Ja denken Sie sich, vor einigen Jahren ist einer auf die Idee gekommen, hauptsächlich die Ohren und die Hände zu beachten auf den Bildern der alten Meister. Darüber hat er ein dickes Buch geschrieben voll von den wichtigsten Entdeckungen.«

»Also die alten Museumsbilder studieren Sie un was sie für Ohren un Snuten un Poten haben?« sagte Herr Nebendahl unter donnerndem Lachen, »das muß ja hundemäßig langweilig sein. Ich geh' ja ganz gern mal ins Museum, jedesmal, wenn ich nach Berlin komm', aber länger wie 'ne Stund' halt' ich's bei den alten Bildern nich aus. Schon von wegen dem süßlichen Geruch nich. 'n paar Bilder sind da, die mag ich woll leiden. Da is so 'n alter Herr mit 'ner Pelzmütz', der hat 'ne Nelke in der Hand, den seh' ich mir immer so lang an, bis ich graulich vor ihm werd', denn er wird immer lebendiger, je länger man ihn ansieht, un zuletzt denkt man, nu fängt er an zu reden. Dann is da so 'ne alte Hex' mit 'ne Eul' auf der Schulter, über die muß ich jedesmal bannig lachen, un denn sind da auch so 'n paar hübsche Dirns abgemalt, zwarst 'n bißchen kurz im Zeug, aber nüdlich zu sehen. Aber das muß ich sagen, es bleibt doch immer dasselbe, un auf die Dauer muß es doch höllisch langweilig werden. Un da erinner' ich mich besonders an einen nackten Menschen, auf den sie mit Pfeilen schießen, daß er schon ganz gespickt ist – ich weiß nich, wie sie ihn nennen...«

Hier fiel Bornemann plötzlich ein: »Wer stets gespickt und nie gebraten wird, heißt Sebastian, wer dagegen stets gebraten und nie gespickt wird, nennt sich Laurentius.«

»Schön also«, fuhr Nebendahl fort, »dieser Sebastian steht nun Jahr für Jahr in derselbigten Positur, immer wenn ich ihn wiedersah', un tut so, als wenn es ein liebliches Vergnügen wär', mit Pfeilen nach sich schießen zu lassen, un hat immer noch denselbigten Klacks Ölfarbe auf der Nas', über den ich mich schon vor zwanzig Jahren geärgert hab', denn da hat der Maler sich nach meiner Ansicht einfach vermalt. Es bleibt, wie gesagt, immer dasselbe. Da kommen Sie doch mal zu mir 'raus aufs Land. Ich bin nun doch schon Landmann seit fünfunddreißig Jahr', aber das kann ich Ihnen sagen: Ich hab' noch keinen Schlag Weizen gesehen, der ebenso ausgesehen hätt' wie der andere. Un wenn Sie denken, 'n Schaf is 'n Schaf, da sind Sie sehr im Irrtum. Da fragen Sie doch mal meinen Schäfer, der kennt alle seine achthundert Schafe persönlich an ihrer Physiognomie.«

Herr Erwin Klövekorn hatte, während Nebendahl seine schnurrigen Anschauungen über Kunst vorbrachte, nur etwas in seinen zukünftigen Bart gemurmelt, das beinahe klang wie »Idiotischer Banause«, nun aber zog er es vor, sich in erhabenes Schweigen zu hüllen und mit kränklichem Lächeln seinen Kneifer zu putzen. Herr Nebendahl aber war ins Feuer gekommen und fuhr fort: »Na, und überhaupt. Wie man das Leben in solcher großen Stadt wie Berlin auf die Dauer aushalten kann, das begreif' ich nich. Hier draußen geht's ja noch, un Lebrecht hat hier ja sogar seinen sogenannten Garten, worüber ich mich gestern halbtot gelacht hab'. Aber is es nich 'n Jammer, daß solch 'n Finzel Land 'n Garten vorstellen soll. Ich hab' heut schon zu Lebrechten gesagt, an seiner Stell' würd' ich mir nu auch noch 'ne kleine Landwirtschaft anlegen. 'n Stamm Hühner un 'ne Flucht Tauben könnt' er sich ganz gut halten, un an der Stell', wo das alte graugeliche unfruchtbare Rabenvieh in seinem Kasten sitzt, da würd' ich mir 'n kleinen nüdlichen Sweinskoben hinbauen. Da könnt' er sich alle Jahr sein Swein in fett machen und daran sein liebliches un nahrhaftes Vergnügen haben. Aber er will ja nich. Ich glaub', es is ihm nich poesievoll genug. – Na also, wie gesagt, hier draußen geht es ja am Ende noch, aber nu in Berlin selbst. Wenn ich da mitten in der Stadt wohnen sollt' in so 'n großen Häuserkasten, da bleibt mir die Luft weg, wenn ich da bloß an denk'. Un denn, was haben die Menschen auf der Straß' immer zu rennen un zu kribbeln wie die Ameisen. Immer als wenn 'n Theater, oder 'ne Kirch' oder 'ne Volksversammlung aus is, oder als ob's einerwo brennt. Un denn das ewige Gefahr'! Wissen Sie, wie mir das vorkommt, wenn ich da 'ne Zeitlang mitten in bin. Als wenn das all' eigentlich ganz überflüssig wär' un die Leute bloß all 'n Rapps hätten. Na, amüsieren kann man sich ja am End': ins Theater gehn, ins Konzert oder in 'n Tingeltangel oder in 'ne gute Restauratschon. Aber schließlich is es doch auch wieder immer alles dasselbe. Acht oder höchstens vierzehn Tag' halt' ich's woll aus, aber demm krieg' ich ein barbarisches Heimweh. Un denn kommt es mir vor, als wenn mein Konzert bei mir zu Haus dausendmal schöner is als alles, was sie da in Berlin zusammenfiedeln, tuten und streichen. Nämlich wenn ich mit meinem Nachbar Diederichs an so 'n schönen Juniabend vor der Haustür sitz' unter meinem großen alten Lindenbaum bei 'ner Zigarr' un 'ner guten Buddel Rotspon. In meinen Garten singen denn die Nachtigallen un ins Feld schlagen die Wachteln, welche ganz nah un welche ganz weit ab. Un aus der Wies' ruft mannigmal der Snartendart und ganz weit vom Neumühler See her quarren die Frösch'. Sehen Sie, das is mein Konzert.«

Herr Klövekorn hatte unterdes seinen Kneifer fertig geputzt, setzte ihn wieder auf und sagte mit einem Ton nachlässiger Überlegenheit: »Ich denke mir doch die Beschäftigung mit der Landwirtschaft sehr monoton und geistig außerordentlich wenig anregend.«

Herr Nebendahl zog die Stirn kraus und ward noch röter als gewöhnlich: »Was sagen Sie da, junger Mann«, rief er, »na, hören Sie mal, da muß ich Ihnen zuerst eine kleine Geschicht' erzählen. Ich kam mal mit dem Weinhändler Friebe in ein Gespräch über sein Geschäft, und da nahm er sein Glas un witterte so mit der Nas' darüber hin un sagte: ›Wissen Sie‹, sagte er, ›beim Weinhändler ist die Nase die Hauptsache. Mir können Sie die Augen verbinden und halten Sie mir dann eine Rose vor, so sage ich, es ist eine Rose, und halten Sie mir ein Veilchen vor, so sage ich, es ist ein Veilchen, und halten Sie mir eine Nelke vor, so sage ich, es ist eine Nelke, und halten Sie mir alten Käse vor, so sage ich, es ist alter Käse. Glauben Sie ja nicht, daß das jeder kann mit verbundenen Augen. Nun, wenn ich einen neuen Lehrling bekomme, so prüfe ich ihn zuerst. Finde ich dann, daß der junge Mensch keine Nase hat, so schreibe ich an seine Eltern: Lassen Sie den jungen Mann studieren, zum Weinhändler ist er zu dumm!‹ Sehen Sie, ganz so is es mit der Landwirtschaft, nur daß da noch 'n bißchen mehr zugehört. Studieren hilft da nich, un Nase auch nich, aber ein Schenie muß man sein. Un warum es leider Gotts weniger gute Landmänner gibt, als wir brauchen könnten in dieser Welt, das will ich Ihnen sagen. Das kommt davon, weil die Schenies überhaupt selten sind!«

Hühnchen, der fürchtete, diese Unterhaltung möchte in einen unerquicklichen Streit auslaufen, wollte schon wieder vermittelnd eingreifen, allein er wurde dessen enthoben, denn meine kleine Frau, die sich vor kurzem von meiner Seite geschlichen hatte, kehrte nun in einem zarten grauen Reisekleid zurück. Die Abenddämmerung war hereingebrochen, und vor der Haustür knallte der Kutscher des bestellten Wagens mit seiner Peitsche. Über den Abschied will ich schnell hinweggehen. Er war gerührt und feierlich, obwohl das Ziel unserer Reise nicht in der weiten Welt, sondern in der engen Nachbarschaft lag. Als wir dann endlich im Wagen saßen, waren Hühnchens letzte Worte, während er uns beide an den Händen hielt: »Seid glücklich, glücklich, glücklich!« Frau Lore stand daneben, hatte das andere Paar unserer Hände erfaßt und die Tränen liefen ihr unablässig die Wangen herab.


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