Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen
Heinrich Seidel

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»So«, sagte er dann, als Hans ihm die letzte Flasche aus dem Eiskühler hingereicht hatte und nur noch zwei übrig waren, die abgesondert standen, »so«, sagte Bornemann, »Champagner ist nicht nötig, er ist nur für die Illusion und verfliegt bald, aber hier habe ich zwei Flaschen ganz alten Rauenthaler. Zu trinken ist er nicht mehr, weil er viel zu firn ist, aber er ist durch und durch Blume. Der wird diesem Getränk wohl tun.« Es war ein weihevoller Moment, als er den Inhalt dieser Flaschen dazu goß, und der Duft des edlen Weines sich mit dem gewürzigen Hauch des Waldmeisters mischte.

»So«, sagte Bornemann, »Zucker ist schon dran, nun kommt die letzte Weihe.« Er nahm aus einem Briefumschlag mit großer Feierlichkeit ein einziges Blatt der schwarzen Johannisbeere und hielt es am Stiel etwa dreißig Sekunden in die Flüssigkeit. »Es ist vielleicht ein Aberglaube«, sagte er, »aber so habe ich es von meinem Meister gelernt. Er schrieb diesem einen Blatt eine wahre Zauberkraft zu. Zwei würden alles verderben, sagte er. Ich kann diesen Glauben nicht ganz teilen, aber aus Pietät versäume ich es nie, denn ich habe gefunden, daß es nichts schadet.«

Nun war das große Werk beendet, Bornemann füllte ein Glas, hielt es mit nachdenklicher Miene gegen das Licht und probierte dann sorgfältig. Er stand eine Weile mit gerunzelter Stirn und sah, wie in tiefste geistige Arbeit versunken, starr vor sich hin, während er die Lippen langsam kostend bewegte. Sodann nickte er befriedigt und schlurfte langsam den Rest des Getränkes. Seine Züge erhellten sich auf sein glattes rotes Gesicht leuchtete in verklärtem Schimmer. »Es stimmt!« sagte er, indem er Hühnchen das aufs neue gefüllte Glas darreichte. Als dann die beiden jungen Leute unter der Anleitung ihres Chefs das mächtige Gefäß keuchend in den Festsaal schleppten, kehrten wir beiden zu der Gesellschaft zurück. Unterwegs sagte Hühnchen geheimnisvoll zu mir: »Du, ich fürchte, diese Bowle wird ein schauderhaftes Loch in den Gemeindesäckel reißen. Aber es schadet nichts, wir wandeln ja auf Gold.« Und damit machte er wieder ein paar von seinen komisch vorsichtigen Storchschritten und strahlte vor Vergnügen.

Allgemeines Behagen herrschte dann bald an der mit allerlei Salaten und kalten Schüsseln besetzten Tafel und großes Lob ward auch hier Bornemann und seinem mit Blumen bekränzten Werk gespendet. »Ne feine Bool«, sagte Nebendahl, »den Rezept möcht' ich woll haben.« Bornemann verbeugte sich darauf, etwa wie Goethe, wenn man seinen Faust lobte.

Allmählich ward die Stimmung der Gesellschaft lebhafter, die Wogen der verschiedenartigsten durcheinandergehenden Gespräche erzeugten eine Art Brandung, über der wie Schaum das helle Gelächter der jungen Mädchen schwebte. Hans Hühnchen hatte glücklich einen Platz neben dem »Feuer« erwischt und war von einer hinsterbenden Zuvorkommenheit gegen das junge Mädchen. Herr Erwin Klövekorn entäußerte sich seiner jungen Kunstweisheit gegen das »Wasser« mit großer Zungengeläufigkeit. Er hatte das »Cinquecento« vor, war eben bei den »Eklektikern« angelangt und belehrte seine junge Nachbarin über die verschiedenen Carraccis und wodurch sich Lodovico Carracci von Agostino Carracci und dieser wieder von Annibale Carracci unterscheide und daß mit Antonio Marziale Carracci und Francesco Carracci nicht viel los sei, und daß diese Künstlerfamilie in moderner Zeit nur mit den Meyerheims verglichen werden könne, die in ähnlich unheimlicher Weise sich vermehrt hätten und mit demselben Erfolg, ewig miteinander verwechselt zu werden. Der jungen Dame waren die Carraccis zwar so gleichgültig wie die Spektralanalyse oder wie die Philosophie des Unbewußten, allein sie hörte aufmerksam zu, denn nichts geht über die Bildung.

Die Frau Majorin belehrte meine Mutter über Hofgeschichten mit jener innigen Kammerzofenfreude kleinlich angelegter Naturen an den Schwächen hochgestellter Leute, der Major erzählte dem geduldig lächelnden Bornemann endlose Geschichten ohne Pointe, und Hühnchen ward vom Onkel Nebendahl über den großen Nutzen der Stallfütterung und die unglaubliche Wirkung des Guanos unterrichtet, während Doktor Havelmüller Frau Lore etwas vorschwärmte von seinem neuerworbenen Waldgrundstück in Tegel mit den einundvierzig numerierten Bäumen, und andere wieder andere Gespräche führten. Es war sonderbar, wie die Bruchstücke aus allen diesen Unterhaltungen durcheinanderwirbelten:

»O ich kann sehr boshaft sein«, sagte das »Feuer« mit einer übermütigen Miene.

»Unmöglich!« flötete Hans Hühnchen.

»Die Eklektiker«, dozierte Klövekorn, »wollten die Vorzüge der großen Maler, ihrer Vorgänger, miteinander verbinden, es gelang ihnen aber nicht«. – »Aber was das für 'n feinen Dung gibt, Lebrecht«, donnerte Nebendahl, »das glaubst du gar nich, nichts geht verloren.« – »Denken Sie sich«, tönte nun die scharfe Stimme der Majorin, »sie legt Schminke auf – so dick!« – »Guano wirkt aber noch dausendmal besser, Lebrecht.« rief Nebendahl wieder. – »Da sagte der Kerl Puschel zu mir«, krähte der Major, »einfach Puschel und kannte meinen Titel doch ganz gut. Einfach unverschämt! Was?« –

So rauschte die Brandung des Gespräches weiter, bis endlich Bornemann die ewigen pointelosen Geschichten des Majors sattkriegte und verkündete, er wolle nun auch einmal etwas erzählen, und zwar die schöne Geschichte von der Peitsche.

Da zufällig eine Pause in all den vielen Gesprächen eingetreten war, so begann Bornemann unter allgemeiner Aufmerksamkeit: »Der Bauer Stövesand fuhr in die Stadt, um ein paar Säcke Kartoffeln abzuliefern, und führte dabei zum erstenmal seine wunderschöne neue Peitsche. Es war eine herrliche Peitsche, den Stiel hatte er selber aus Knirk geflochten und die beste Schnur dazu gekauft, die zu haben war. Sie lag so schön und leicht in der Hand, und knallen konnte man damit wie mit einer Pistole. Eine bessere Peitsche, meinte der Bauer, könne auch des Großherzogs Kutscher nicht haben. Als er nun in der Stadt seine Kartoffeln abgeliefert hatte, regte sich der Hunger, und er fuhr zum Bäcker und kaufte sich eine schöne große Semmel. Er holte die weiche Krume mit dem Finger hervor und verzehrte sie, und als er dann bei dem Kaufmann angelangt war, wo er gewöhnlich einkehrte, ließ er sich die Semmel mit Sirup füllen, kaufte sich einen gesalzenen Hering dazu und hielt eine leckerhafte Mahlzeit. Dazu trank er ein Gläschen ›Mulderjahn‹, eine Sorte von Malaga, die der Kaufmann selber aus Schnaps, Wasser, Sirup und Rosinenstengeln kunstreich herstellte und für ein Billiges an seine Kunden abließ. Nachdem er sich so köstlich erquickt hatte, begann er an die Besorgung seiner Geschäfte zu denken. Er fuhr zum Posamentier Spieseke und kaufte für seine Frau zwei Dutzend Haken und Ösen und drei Ellen Schnur, dann zum Schnittwarenhändler Abraham, woselbst er fünf Ellen roten Flanell einhandelte, darauf zum Zigarrenfabrikanten Michelsen und erstand sich dort drei Pfund Schiffertabak von dem besten, das Pfund zu dreißig Pfennigen, denn in dieser Hinsicht war er ein Leckermaul. Hierauf hielt sein Gefährt vor dem Hause des Böttchers Maaß, weil ein neuer Milcheimer nötig war, und zuletzt fuhr er zur Apotheke, woselbst er für einen Groschen Mückenfett verlangte, das gut ist gegen das Reißen, und ganz ungemein wenig Schweineschmalz in einem winzigen Döschen erhielt. Da er nun aber nach dem ungewässerten Hering einigen Durst verspürte, so kehrte er noch einmal bei dem Gastwirt Kaping am Ziegenmarkt ein, trank einen Krug ›Lüttjedünn‹ nebst einem Gläschen ›blauen Zwirn‹ dazu und machte sich dann vergnügt auf den Rückweg. Er war schon längst aus dem Tor und bei der nächsten Ortschaft angelangt, als ein infamer Dorfkläffer den Pferden zwischen die Beine fuhr und die Tiere fast scheu machte. Der Bauer Stövesand wollte nach seiner Peitsche greifen, aber siehe da, seine schöne neue Peitsche war fort. Er mußte sie in der Stadt irgendwo haben stehen lassen. Auf der Stelle wendete er um und fuhr zurück, denn seine schöne Peitsche wollte er nicht im Stich lassen. An dem Ort, wo er die Kartoffeln abgeliefert hatte, fand er sie nicht vor, auch der Bäcker wußte nichts von ihr. Beim Kaufmann suchte man sie vergebens und auch bei dem Posamentier war sie nicht zu finden. Der Schnittwarenhändler Abraham bedauerte sehr, und der Zigarrenhändler Michelsen desgleichen. Die Hoffnung des Bauern ward immer geringer, denn auch der Böttcher Maaß wußte nichts von der Peitsche. Endlich kam er zur Apotheke, und kaum war er in den Laden getreten, da – wie merkwürdig – da stand die Peitsche. In der Ecke am Fenster bei dem Rezeptiertisch. Er sah sie gleich auf den ersten Blick. Ja!«

Als nun Bornemann schwieg und sich mit einer Miene, die deutlich sagte, daß seine Geschichte zu Ende sei und er den Tribut des Beifalls erwarte, in den Stuhl zurücklehnte, da erhob sich ein halb unterdrücktes Murmeln und Gekicher, denn alle, die den Major und seine Geschichten ohne Pointe kannten, verstanden die kleine Satire. Dieser aber selbst sah den Erzähler groß an und fragte verwundert: »Aus?«

»Jawohl«, sagte Bornemann, »ganz aus.«

»So, so?« sagte der Major, »aber da muß ich offen gestehen, die Pointe dieser Geschichte ist mir entgangen... Vollständig entgangen. Ja!«

Dem vulkanischen Heiterkeitsausbruch, der nun folgte, saß der Major ratlos gegenüber und ebenso Nebendahl. »Ich weiß gar nich«, sagte dieser, »was die so furchtbar lachen über die alte dumme Geschicht'. Sie hat ja gar kein' Sinn nich. Un wenn man denkt, nu kommt's, denn is sie aus.«

Hühnchen, in der Furcht, es könne hierdurch eine Mißstimmung in die Gesellschaft kommen, legte sich ins Mittel und sagte: »Hör mal, Bornemann, ich habe auch schon bessere Geschichten von dir gehört.« Dieser schien durch solch hartes Urteil gar nicht geknickt, sondern schmunzelte im Gegenteil sehr geschmeichelt. »Aber«, fuhr Hühnchen fort, indem er sich an Doktor Havelmüller wendete, »da wir nun mal beim Erzählen sind, lieber Emil, da mußt du mir heute abend einen großen Gefallen tun. Ich bitte dich um die Geschichte von der Wanze.«

Doktor Havelmüller sträubte sich, es sei eigentlich keine Geschichte für Damen, was diese natürlich erst recht neugierig machte, auch habe er sie lange nicht erzählt und fürchte, die kleine Geschichte, die auf das Wort gestellt sei, zu verderben. Allein alles half ihm nichts und obwohl die Frau Majorin bedenklich ihre lange Nase kräuste und ungemein steif aussah, begann er endlich:

»Am Ende meiner Studienzeit war ich einmal genötigt, mir eine neue Wohnung zu suchen. Ich hatte schon viele Zimmer vergeblich besichtigt, da kam ich endlich zu einer freundlichen sauberen Witwe, wo es mir ausnehmend gefiel. Ich ward bald mit ihr einig und tat zum Schluß eigentlich nur der Form wegen noch die Frage: ›Es sind doch keine Wanzen in der Wohnung?‹ – ›O, wie werden hier Wanzen sein!‹ sagte die alte Dame fast beleidigt. Das hat nun allerdings nicht viel zu sagen, denn wenn eine Wohnung auch so viel Wanzen hätte, als es Chinesen in China gibt, so würde eine Zimmervermieterin dies doch niemals zugeben, selbst wenn man sie auf die Folter spannte. Ich sagte also: ›Nun, das ist gut, denn in dem Augenblick, wo ich diese verhaßten Tiere spüre, ziehe ich sofort aus.‹ Dann gab ich meinen Mietstaler und die Sache war abgemacht.

Am ersten Abend, als ich eingezogen war, konnte ich nicht einschlafen. Ein fieberhafter Zustand überkam mich, und noch andere Symptome, die ich hier nicht näher schildern will, machten einen furchtbaren Verdacht in mir rege. Ich steckte Licht an, konnte aber nichts finden, und nachdem ich einen gewaltigen Schwur getan hatte, am nächsten Tag sofort wieder auszuziehen, schlief ich endlich spät nach Mitternacht ein. Am anderen Morgen, als ich finster brütend auf dem Sofa saß, brachte meine Wirtin den Kaffee und es schien mir, als ob sie mich mit sorgenvollen Blicken betrachte. ›Frau Mohnicke‹, rief ich, ›noch heute zieh' ich aus, hier sind Wanzen‹.

›O du mein Schöpfer‹, sagte die Frau, ›sein Sie doch nur nicht so hitzig, es ist ja nur eine!‹

Ich lachte höhnisch. ›Ja, Sie lachen‹, rief sie, ›aber es ist doch wahr. Lassen Sie sich nur erzählen. Ihr Vorgänger hatte in seiner letzten Wohnung so viel von diesen ekligen Tieren zu leiden, daß er eine kannibalische Wut auf sie kriegte. Er fing, so viel er konnte, lebendig und sperrte sie in eine Schachtel mit Insektenpulver, um sich an ihren Qualen zu weiden, wie er sagte. Aber was hatten diese Tiere zu tun? Sie fühlten sich ganz wohl in dem Insektenpulver und lebten vergnügt weiter. Als nun Ihr Vorgänger dort auszog, setzte er alle Wanzen wieder sauber in das Zimmer zurück, denn er hatte 'n rachsüchtiges Gemüt, und nur eine nahm er mit als Merkwürdigkeit und weil er sehen wollte, wie lange sie es in dem Insektenpulver wohl aushielten. Gleich den zweiten Tag zeigte er sie mir, und da sagte ich: ›Das hat nichts zu sagen‹, sagte er, ›es ist ein Bock‹. Dabei beruhigte ich mich denn, er aber trug seine Schachtel immer bei sich und zeigte das greuliche Tier allen Leuten, er hatte es ordentlich lieb gewonnen. Am letzten Tag, als er ausziehen wollte, war ein Freund bei ihm, der ihm packen half, und dem zeigte er auch gerade seinen Liebling, da zieht plötzlich draußen das zweite Garderegiment mit voller Musik vorbei. Die beiden jungen Leute liefen natürlich sofort ans Fenster, und als sie wieder zurückkamen, war die Wanze aus der offenen Schachtel ausgerutscht. Ich bin nun seitdem hinter ihr her gewesen mit Scheuern und Petroleum alle Tage, aber das muß eine von den ganz Geriebenen sein, denn wie Sie ja bemerkt haben, noch hat es nichts geholfen.‹

Diese verrückte Geschichte erheiterte und beruhigte mich soweit, daß ich beschloß, die Sache noch eine Weile mitanzusehen. Da die Blutgier dieses Geschöpfes nun einstweilen gestillt worden war, so ließ es mich eine Zeitlang in Ruhe, nur nach acht Tagen etwa machte es mir wieder eine böse Nacht, so daß ich am Morgen sehr verdrießlich aufwachte und mich mit finsteren Plänen trug. Da ich aber eine wichtige Arbeit vorhatte, die mich sehr ernstlich beschäftigte, so vergaß ich schnell diese kleine Unannehmlichkeit und stand bald in meine Berechnungen vertieft vor meinem Pult. Als ich dann in tiefes Nachdenken versunken durch das Zimmer schritt, blieb ich zufällig vor meiner großen Wandkarte von Europa stehen, auf der auch ein Stück von Afrika und Asien mit dargestellt war. Während ich nun in grübelndem Brüten auf die Karte hinstarrte, fiel es mir allmählich auf, daß in der Gegend von Palästina was krabbelte. Zuerst beachtete ich es nicht sehr, aber endlich kam doch der Gedanke bei mir zum Durchbruch: ›Was krabbelt denn da in der Gegend von Palästina?‹ Ich trat näher und sah mit Jauchzen, es war die Wanze. Sie saß ganz nahe beim Toten Meer. Ich nahm meine Feder hinter dem Ohr hervor und zielte mit der Spitze sorgfältig auf das stattliche Tier. Da aber erkannte es die Gefahr, stürzte sich eilends in das Jordantal und floh mit großer Geschwindigkeit gen Norden. Ich mit der Feder immer hinterher. Beim See Genezareth schien es, sie wolle auf Damaskus zu und in Syrien und Mesopotamien ihr Heil versuchen, allein sie änderte ihren Plan, rannte um den See herum und zwischen Libanon und Antilibanon hindurch bis zur Küste des Mittelländischen Meeres und an dieser entlang, bis sich ihr das Taurusgebirge in den Weg stellte. Aber das findige Tier nahm den Kurs wieder nach Norden zwischen Taurus und Antitaurus hindurch, gewann dann in westlicher Richtung die große Salzwüste und holte nun so mächtig aus, daß ich ihr mit meiner Feder kaum zu folgen vermochte. So rannte sie in einer Tour immer westwärts, bis sie in der Gegend von Hissalyk wieder die See erreichte. Hier irrte sie verzweiflungsvoll am Rand des Hellespontes hin und her. Allein sie wagte den Sprung über diese Meerenge nicht, wandte sich nun östlich, bürstete mit außerordentlicher Geschwindigkeit um das Marmarameer herum und erreichte auch glücklich etwas nördlich von Skutari den Bosporus. Die Verzweiflung gab ihr Riesenkräfte, sie setzte an und in gewaltigem Sprung erreichte sie glücklich das europäische Ufer. Von diesem Erfolg scheinbar frisch gestärkt, rannte sie in genau westlicher Richtung quer durch ganz Rumelien, und ihre Züge schienen mir von neuer Hoffnung frisch belebt. Doch meine Geduld war nun zu Ende, ich setzte ihr schärfer nach und endlich in Mazedonien, sieben geographische Meilen nördlich von Saloniki, kriegte ich sie gefaßt. Ich sage Ihnen, meine Herrschaften, ihr Blut – es war eigentlich mein Blut – spritzte über den Balkan hinweg bis nach Bukarest!«

Der größere Teil der Gesellschaft saß in einiger Erstarrung da über diese verdrehte Geschichte und wußte nicht, ob er lachen oder »au« sagen sollte, während nur Hühnchen und Bornemann an diesem barocken Humor eine unbändige Freude hatten.

Die Mahlzeit war unterdessen beendet und nun erschienen die vier Elemente wieder, die von Hühnchen mit einer neuen Aufgabe betraut worden waren. Die »Erde« bot die Zigarren herum, während die »Luft« ein Messer zum Abschneiden der Spitzen darreichte. Wenn die Herren sich nun bedient hatten, so ließ sich das »Feuer« zierlich auf ein Knie nieder und bot das auf seinem Kopf neu wieder entzündete Flämmchen zum Gebrauch dar. Da nun für das »Wasser« bei diesem Geschäft kein Posten übrig blieb, so ging es einfach mit und lächelte freundlich zu allem, was geschah. Dies machte Onkel Nebendahl ungeheuren Spaß. »Das is hier ja grad wie bei so 'n türk'schen Pascha!« sagte er. »Du hast auch zu putzige Einfälle, Lebrecht!«

Als nun aber die vier Elemente zu Hans Hühnchen kamen, sah ich, wie er in Verwirrung geriet, und in dem Augenblick, wo das »Feuer« vor ihm niederknien wollte, sprang er schnell empor und rief fast beschämt: »O das kann ich ja gar nicht verlangen!« und zündete sich, sehr rot im Gesicht, unter hastigem Paffen an dem stehenden »Feuer« die Zigarre an, während dieses die braunen Augen niederschlug und auch ein wenig anglomm, indes die übrigen drei Elemente schalkhaft dazu lächelten.

Die ganze Gesellschaft begab sich nun wieder in die anderen Zimmer, da die Tische fortgeräumt werden mußten, weil man im »Saal« tanzen wollte. Doch um mit der Beschreibung dieses lustigen Abends zu Ende zu kommen, will ich nur noch sagen, daß die nun folgende Polonäse alle Räume des Hauses sowie des Gartens ausnutzte, was allerdings nicht viel sagen wollte, daß meine Mutter mit Herrn Nebendahl unter allgemeinem Beifall einen langsamen Walzer prästierte und daß schließlich das Kunststück geübt wurde, in diesem engen Raum zwei Quadrillen auf einmal zur Ausführung zu bringen, die Onkel Nebendahl, der als junger Inspektor ein Hauptvortänzer gewesen war, in einem fabelhaft plattdeutsch angestrichenen Französisch kommandierte mit einer Stimme, daß die Wände zitterten. Diese Quadrillen boten einen Anblick, als hätte man beabsichtigt, die Verwirrung plastisch darzustellen. Ich sehe noch immer Hühnchen, der von der edlen Tanzkunst nur eine sehr geringe Ahnung hatte, wie er strahlend und hüpfend seine Kometenbahnen verfolgte und mit dem freundlichsten Lächeln von der Welt in die Nachbarquadrille geriet und überall zu sehen war, nur nicht dort, wo er sein sollte. Jedoch seine ungemein taktfeste Partnerin, die Frau Majorin, holte ihn mit säuerlichem Lächeln stets an einem Fittich wieder zurück und drehte ihn an seinen Ort, worüber er denn immer sehr dankbar und ungemein vergnügt war.

So ging denn dieser Abend unter allgemeiner Heiterkeit zu Ende.


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