Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen
Heinrich Seidel

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Leberecht Hühnchen als Großvater

1. Es kommt Besuch

Der achtundzwanzigste August des nächsten Jahres war ein bemerkenswerter Tag, denn als ich am Nachmittag von meinem Büro nach Hause kam, war unterdessen ganz plötzlich Besuch angekommen. Frau Lore, die sich schon am Vormittag zufällig eingefunden hatte, um sich nach ihrer Tochter umzusehen, kam mir strahlenden Angesichts mit dieser Nachricht entgegen. Dieser Besuch stellte sich dar als ein höchst sonderbarer kleiner Herr mit mangelhaftem Haarwuchs und einem ältlichen, verdrießlichen Gesicht, das so rot war wie eine Schlackwurst. Sein Benehmen war höchst anspruchsvoll und seine erste Tat bei der Ankunft in unserer Häuslichkeit war gewesen, mit ungemein lauter Stimme und mit grenzenloser Rücksichtslosigkeit sein allerhöchstes Mißfallen mit allem und jedem auszusprechen. Drei Frauenzimmer, meine Schwiegermutter, Lotte und eine fremde weise Frau von behäbigem und freundlichem Aussehen hatten sich bemüht, allen seinen Wünschen gerecht zu werden, sie hatten ihm die schmeichelhaftesten Dinge gesagt, sie hatten ihm ein Bad bereitet, sie hatten ihn in köstliche weiche Leinwand gekleidet, ihn sanft in Kissen gehüllt und ihn in einen schönen funkelnagelneuen Wagen gelegt, der sonderbarerweise schon seit einiger Zeit im Hause bereit stand. Dies hatte ihn endlich so weit beruhigt, daß er in einen tiefen Schlaf gefallen war. Man sagte mir, daß Schlafen und Trinken die einzigen Beschäftigungen des kleinen Herrn wären, die nur unterbrochen würden durch Äußerungen kräftigen Unwillens und andere sehr wichtige Tätigkeiten, die fortwährend Veranlassung zu kleinen Wäschen geben. Trotz aller dieser wenig empfehlenden Eigenschaften des neuen Gastes herrschte Glück und Freude über ihn in der ganzen Wohnung, und auch ich muß gestehen, daß ich über seine Ankunft außerordentlich vergnügt war, und daß ein ungekanntes Gefühl von Würde mich durchströmte wegen der Standeserhöhung, die mir durch diesen Besuch zuteil geworden war. Am glücklichsten aber war wohl Frieda, die zwar etwas blaß, aber mit seligem Lächeln in ihrem Bett lag, den Kopf immer ein wenig nach jener Seite hingewendet, wo der kleine Mann in seinem Wagen ruhte.

Nach einer Weile klingelte es und als ich hinging, um zu öffnen, stand Hühnchen vor der Tür. »Ich weiß alles«, rief er, »Lore hat mir eine Postkarte geschickt. Hurra!« Dann ging er eilig in das große Vorderzimmer und zog mich geheimnisvoll an der Hand nach sich. Er öffnete die Tür des Berliner Zimmers und sah vorsichtig hinein. »Sie sind alle hinten, was?« fragte er dann. Ich bejahte dies.

»Teuerster«, sagte er dann, »du siehst mich jetzt an der Schwelle des Greisenalters stehen. Ich bin zwar erst sechsundvierzig Jahre alt und habe noch kein graues Haar, aber die Tatsache ist nicht zu leugnen: Ich bin Großvater, ein richtiger veritabler, unanfechtbarer Großvater. Das freut mich ganz unmenschlich und ich muß, teuerster Schwiegersohn, ich muß, und wenn es mein Leben kosten sollte, ich muß in diesem feierlichen Augenblick einen Indianertanz loslassen, sonst gehe ich zugrunde. Es soll meine letzte Jugendtorheit sein, und keine Handlung sollen deine Augen ferner von mir sehen, die nicht eines Großvaters würdig wäre, und als solche nicht im Panoptikum ausgestellt werden könnte. Hurra! Hurra! Hurra!«

Und damit tanzte er los ohne Gnade und schwang sein Bein wie ein Jüngling und, ich will es nur gestehen, ich tanzte mit, daß die Möbel zitterten, die Uhren klirrten und die ganze leicht gebaute Mietskaserne ins Wackeln kam, und am anderen Tag in der Zeitung stand, Falbs Theorie der kritischen Tage habe sich wiederum bewährt, denn in dem Haus Frobenstraße Nummer 36 habe Herr Doktor Ramann (der über uns drei Treppen hoch wohnte) am achtundzwanzigsten August nachmittags vier Uhr fünfundfünfzig Minuten die Spuren eines leichten Erdbebens bemerkt.

»So«, sagte Hühnchen, indem er nach Beendigung dieser Orgie doch ein wenig schnaufte, »nun ist mir wieder ganz wohl, sonst wären mir die versetzten Großvaterfreuden am Ende in die Glieder gefahren. Tanzen in solchen Fällen ist furchtbar gesund. Schon in alten Zeiten tat man das. Denk nur an David.«

Dann aber hob er den Zeigefinger auf und sprach mit großer Wichtigkeit: »Nun aber, lieber Schwiegersohn, kommt eine Frage von ungeheurer Bedeutung und diese lautet: Wie soll dieser Sohn heißen?«

»Ja«, sagte ich, »wir schwanken. Ich bin für Werner, Frieda für Konrad und deine Frau für Gottfried.«

Nun hätte man aber das pfiffige Gesicht sehen sollen, das Hühnchen machte, und den Ausdruck erhabenen Triumphes hören, mit dem er sagte: »Ja, hättet ihr Großvatern nicht!«

Dann nahm er mich an den Schultern, schob mich vor sich her in mein Zimmer vor dem Abreißkalender und rief: »Nun, was steht da: August, 28. Donnerstag. W. v. Goethe geb. 1749. Merkst du was? O, du bist doch so ein halber Literaturmensch und mußt dir das von mir erst sagen lassen. Wie also soll dieser Sohn heißen?«

»Wolfgang!« antwortete ich.

»Gut!« rief Hühnchen, »setz dich einen 'rauf.«

In diesem Augenblick ertönte vom Schlafzimmer her ein krähendes Geschrei und Hühnchen spitzte die Ohren. »Ha«, sagte er, »das ist Musik, das ist noch mehr wert als Wachtel sein hohes C, das ist Nachtigallengesang in meinem Ohr. Wolfgang schreit, mein Enkel meldet sich. Die Gelegenheit ist günstig. Auf zur Besichtigung!«

Ich muß hier nun offen gestehen, daß ich, was die Bewunderung neugeborener Kinder betrifft, ein Barbar bin wie die meisten Männer. Es war mein Sohn, es war sogar mein erster Sohn, dieses froschartige rötliche Etwas mit dem merkwürdigen Faltenwurf an den Beinen, und ich liebte ihn und war stolz auf ihn, ganz gewiß. Auch konnte er wundervoll durchdringend schreien, bei welchem Geschäft er mit Leib und Seele war, und beträchtlich zappeln mit seinen kleinen Gliedmaßen, aber schön war er durchaus nicht. Er hatte, wie überhaupt alle Neugeborenen, wenig Menschenähnliches an sich. Die Augen der Frauen sehen darin anders, und als Frau Lore ihn ausgebündelt hatte, sah sie ihn mit schwärmerischem Gesichtsausdruck von der Seite an und sagte mit dem Ausdruck tiefster innerlicher Überzeugung: »Ein schönes Kind, ein wahrer Engel, und ganz der Vater!« »Ganz der Vater!« wiederholte Lotte, die ihn von der anderen Seite ebenso schwärmerisch betrachtete. »Ganz der Vater«, fuhr Hühnchen fort, indem er mich etwas schalkhaft dabei ansah.

Als ich dann einen schüchternen Versuch machte, meine gegenteiligen vorhin geäußerten Ansichten zum Ausdruck zu bringen, kam ich schön an.

»Aber Männchen!« sagte Frieda, und:

»O pfui!« Frau Lore.

»Rabenvater!« rief Hühnchen.

Lotte sagte nichts, aber ich merkte, sie räsonnierte inwendig und unterdrückte Majestätsbeleidigungen.

Als ich nachher mit Hühnchen wieder allein war, sagte er zu mir: »Lieber Schwiegersohn und junger Vater, ein Mann von Erfahrung, ein Großvater spricht zu dir Worte der Weisheit. Merke wohl, was ich dir sage: Neugeborene Söhne sind immer schön, sie mögen aussehen wie sie wollen; sie sind immer ›ganz der Vater‹ und darüber hat dieser glücklich zu sein. Seine Opposition hat er zu unterdrücken, selbst wenn es ihm noch so sauer wird. Denn nützen wird sie ihm niemals etwas, ebensogut könnte er gegen Naturgesetze ankämpfen und die Schwerkraft leugnen, oder die Tatsache, daß zweimal zwei vier ist. Und daß das weibliche Geschlecht so denkt und mit anderen Augen sieht als wir, das mußt du achten, denn das ist ein Ausfluß jener herrlichsten Eigenschaft, die Gott in die Seele des Weibes gelegt hat, jener Kraft, die höher ist als Berge und tiefer als die See, – man nennt sie Mutterliebe.«

Ich schwieg ein wenig beschämt.

Frau Lore ließ es sich nicht nehmen, bei uns zu bleiben und die erste Pflege des Kindes zu übernehmen, und ich siedelte für die nächste Zeit in das kleine dreieckige Fremdenzimmer über. Hühnchen, der nun so lange einsam in Steglitz hauste, aß mittags bei uns, ehe er in sein neues Heim zurückkehrte. Denn im vorigen Jahr bereits hatte er sein kleines Haus verkauft und sich einstweilen ein anderes ebenso kleines mit einem etwas größeren Garten gemietet mit der Absicht, später, wenn er ein passendes Grundstück fände, sich anzukaufen und sich dort ein ganz wunderbares Haus zu bauen.

»Eine Dichtung soll es werden«, sagte er, »zwar ganz einfach und ohne jeglichen ›Schtuck‹, aber sinnig durchgearbeitet wie eine Novelle von Theodor Storm. Zweckmäßigkeit und Behaglichkeit sollen wie ein sanfter Schimmer von ihm ausstrahlen, man soll die Empfindung haben, alles in diesem ganzen Haus könne gar nicht anders sein, als wie es ist. Aber das ist eine ganz besonders schwierige Aufgabe«, schloß er dann mit sorgenvoller Miene und gerunzelter Stirn.

In seiner freien Zeit saß er denn auch regelmäßig am Reißbrett und »dichtete«, wie er es nannte, das heißt er entwarf Grundrisse von Häusern mit dazu gehörigen Gartenplänen. Er hatte schon eine ganze Mappe voll gedichtet. Oder er streifte mit Frau Lore auf Nachmittagsspaziergängen durch Steglitz und Umgegend und besah sich Grundstücke, wodurch er fortwährend wieder zu neuen Plänen angeregt wurde. In solcher Beschäftigung des steten Projektmachens gefiel er sich so wohl, daß eigentlich niemand mehr an den Ernst dieser Sache glaubte.

Frieda erholte sich rasch und blühte bald wieder wie eine Rose, und die kleine Knospe an ihrer Brust nahm ebenfalls zu an Weisheit und Schönheit und ward jeden Tag ein wenig menschenähnlicher. In der letzten Hälfte des Oktobers wollten wir taufen und Hühnchen, Onkel Nebendahl, Bornemann und Doktor Havelmüller sollten Gevatter stehen. Frieda betrieb die Vorbereitungen zu diesem kleinen Fest mit großer Wichtigkeit, denn bis jetzt hatten wir wohl zwei oder drei Freunde des Abends bei uns gesehen, doch noch niemals so viele wie diesmal zu Mittag, und obwohl nur, uns mit eingeschlossen, sieben Personen zu bewirten hatten, so bangte sich ihr kleines Hausfrauenherz doch ein wenig.

Die ersten, die kamen, waren Hühnchen und Frau. Hühnchen zog, als er kaum eingetreten war, eine kleine Schachtel aus der Tasche und holte daraus einen einfachen silbernen Becher hervor. »Mein Angebinde für den Sohn«, sagte er. »Dieser Becher hat Zauberkraft, denn trinkt man daraus hundert Jahre lang jeden Morgen regelmäßig, ganz einerlei welches Getränk, so wird man unfehlbar uralt. Möge er daraus Kraft und Gedeihen saugen und möge ihm wie seinem großen Geburtstagsgenossen ein Leben voller Glück und segensreicher Arbeit zuteil werden.«


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