Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen
Heinrich Seidel

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3. In der neuen Wohnung

Als am Nachmittag des folgenden Tages zu der bestimmten Zeit unser Wagen in die Frobenstraße einbog, sahen wir Hühnchen und Frau Lore am offenen Seitenfenster des Erkervorbaues unserer Wohnung stehen, und alsbald erhob sich dort ein heftiges Winken mit weißen Taschentüchern. »Heil! Heil! Heil!« rief Hühnchen mit so gewaltiger Kraft, daß die Leute auf der Straße stehenblieben, und ein vorübergehender Schutzmann aus dem Auge des Gesetzes einen finsteren Blick auf ihn warf. Aus der bekränzten Tür kamen sie uns entgegen, und eine Begrüßung fand statt, als kämen wir nicht nach vierzehntägiger Abwesenheit von einem nahe gelegenen Nachbarort, sondern nach langjähriger Reise aus dem Innern von Afrika, wo es uns gelungen war, unter fürchterlichen Gefahren den letzten weißen Fleck auf der Karte zu beseitigen. Frau Lore schluchzte, als sie ihren Liebling, von dem sie sich bisher in ihrem Leben noch keinen Tag getrennt hatte, wieder in den Armen hielt, und Hühnchen suchte wie gewöhnlich seine Rührung durch allerlei ausschweifende Redensarten zu verdecken.

»Kinder«, rief er, »eure Wohnung ist ein Paradies. Alles glänzt von Sauberkeit und Ordnung, Neuigkeit und Frische. Es ist ordentlich schade, darin zu wohnen. Und die letzten Blumen und das letzte entbehrliche Grün hat sie heute meinem Garten gekostet. Er sieht jetzt aus wie die Pfauen des Advokaten Wulf, als ihnen der berühmte Affe die sämtlichen Schwanzfedern ausgerupft hatte. Aber es schadet nichts. Und wie meine Frau und Lotte hier in den letzten Tagen gearbeitet, gescheuert, geklopft, gewischt und gewütet haben, das entzieht sich jeder Vorstellung. ›Das Unbeschreibliche hier ist's getan‹ und ›das ewig Weibliche‹ hat sich hier ausgetobt nach jeder Richtung. Apropos Lotte. Ihr habt ja Lotte noch gar nicht begrüßt.«

Jetzt erst wurden wir auf etwas frisch gewaschenes Weibliches aufmerksam, das im Hintergrund stand und über das ganze rosige stumpfnasige Gesicht hin aus Leibeskräften lächelte. Es war Lotte, unser Dienstmädchen, das uns meine Mutter aus Mecklenburg besorgt hatte. Sie war eine rundliche und saubere Person und hatte in ihrem gutmütigen Gesicht nur einen Fehler, der mich störte, solange sie unsere Wohnung durch ihre Gegenwart verschönte. Sie trug nämlich einen ganz kleinen zierlichen Leberfleck auf der Nasenspitze, doch dieser saß nicht in der Mitte, sondern etwas seitwärts. Das hatte etwas durchaus Peinigendes für mich, denn da ich in meinem Fach als Ingenieur gewöhnt war, überall auf Symmetrie und Gesetzmäßigkeit zu sehen, so konnte ich nie von diesem Leberfleck abkommen, wenn ich mit ihr sprach, und mußte ihn stets mit den Augen in die Mitte rücken, welches aussichtslose Unternehmen auf die Dauer etwas Nervenangreifendes hatte. Sonst gefiel sie uns wohl, zumal der Drache noch in ihr schlief und die Genien des Wohlwollens und dienstwilliger Freundlichkeit ihre stattlichen Lippen umschwebten.

Dann besahen wir die Wohnung. Wir waren ihre ersten Mieter in diesem neuerbauten Hause und dies kam dazu, den Eindruck des Funkelnagelneuen noch zu erhöhen. Die Fußböden glänzten, die Decken schimmerten in unberührtem Weiß, die Gardinen glichen dem frischgefallenen Schnee, die Öfen leuchteten und die Möbel blitzten. Im Berliner Zimmer war mit nie gebrauchtem weißem Leinenzeug der Tisch gedeckt, und darauf befand sich Geschirr, das noch niemand je benutzt hatte, Messer, mit denen noch niemals geschnitten worden war, und Gabeln, die keiner je zum Munde geführt hatte. Die Schlafzimmer machten den gleichen Eindruck und in der Küche nun gar hatte Lotte ihr Übrigstes getan. Die Messingkessel glänzten wie die Sonne, der Mörser blitzte wie der Helm des Mambrinus und die Bunzlauer Töpfe, Papa und Mama und sieben Kinder, trugen alle an derselben Stelle auf ihrem satten Braun ein sanftes Glanzlicht zur Schau. Es herrschte dort geradezu ein unnatürlicher Schimmer und Glanz. In der Speisekammer kam Überraschendes zum Vorschein, denn Frau Lore hatte sie ein wenig für uns eingerichtet. Hühnchen versenkte sich bewundernd in ihren Anblick und nannte sie ein Füllhorn der Üppigkeit. Dort war die Eierbrettpyramide angefüllt mit schimmernden Eiern, denen man es ansah, daß Lotte sie alle einzeln mit der Bürste schneeweiß gescheuert hatte, dort waren alle Porzellantonnen gefüllt und trugen ihre stattlichen Aufschriften nicht mehr umsonst, dort stand Eingemachtes in Büchsen und Gläsern und wer weiß was sonst noch für gute und nützliche Dinge. Zudem hatte Onkel Nebendahl seine Frau veranlaßt, in die Schätze ihrer Rauch- und ihrer Vorratskammer zu greifen und am Tage vorher war ein mächtiger Korb aus Mecklenburg für uns angelangt, mit einem Inhalt, als gelte es, eine Schwadron ausgehungerter Pommerscher Kürassiere zu versorgen. Aus ihm war ein Megaterium von Buttertopf hervorgekommen und ein Leberkäse, dessen riesenhafter Anblick uns fast mit Entsetzen erfüllte. Dazu hingen dort in einem Florbeutel ein ganzer Schinken sowie zwei Mettwürste, so groß wie die Schlachtkeulen der Eingeborenen von Nukahiwa, nebst einer halben Speckseite, die wir mit ehrfurchtsvollem Schauer betrachteten, denn es dünkte uns, sie stamme von einem Schweine-Goliath. Wir dachten fast mit Zittern daran, daß wir uns durch dieses Schlaraffenland durchessen sollten. Doch das sind Schrecknisse, die sich ertragen lassen.

Wir streckten sodann zum erstenmal in unserem Leben die Beine unter den eigenen Tisch und bewirteten unsere ersten Gäste, wobei große Fröhlichkeit herrschte. Doch diese wurde ein wenig gedämpft durch eine Mitteilung von Hühnchen, die eigentlich hätte geeignet sein sollen, das Gegenteil zu bewirken. Aber wir hingen alle so sehr an dem kleinen Häuschen in Steglitz, mit dem so viele frohe und freundliche Erinnerungen verknüpft waren, daß der Gedanke, wir sollten uns von ihm trennen, uns wehmütig stimmte.

»Der Mann mit den drei Unterkinnen und dem Austernbegräbnisplatz«, sagte Hühnchen, »hat die Axt an meine Wurzeln gelegt und so mächtige Hiebe darauf geführt, daß ich meinen Wipfel wanken fühle. Er hat sein Gebot für Haus und Garten noch erhöht und ich bin nun einmal nicht reich genug, um auf Gold wandeln zu dürfen. Bis morgen habe ich Bedenkzeit und ich bin gesonnen, das Gebot anzunehmen, obwohl es mir außerordentlich schwer wird. Ich sage, der Mammon stiftet doch nichts als Unheil in der Welt. Wenn man bedenkt, unser kleines freundliches Häuschen mit seinem niedlichen Garten soll diesem Götzen zuliebe vom Erdboden verschwinden, um von so einem modernen Mammutsungetüm von Mietskaserne übergeschluckt zu werden wie ein unschuldiges Kaninchen von einer Boakonstriktor, da möchte man weinen. Sieh mal, Freund und Schwiegersohn, um das Haus tut es mir so leid, als ob es ein Mensch wäre. Und wenn man bedenkt, daß unser braver Gravensteiner Apfelbaum im vorigen Jahr nahezu einen ganzen Scheffel und der Napoleonsbutterbirnbaum über einen Scheffel getragen hat, in freudiger Vergeltung liebevoller Pflege, erscheint es nicht da wie himmelschreiender Undank, wenn man sie in die Hand der Mörder verkauft und sie der todbringenden Axt ausliefert. Denke nur, im Spätsommer soll der Bau schon beginnen und wenn dann im nächsten Frühjahr unser Fliegenschnäpperpärchen zurückkehrt, um dort nach gewohnter Weise sein Nest in das Weinspalier zu bauen, dann wird es dort weiter nichts finden, als Greuel der Verwüstung, Sand und Mauersteine, und durch die kleinen Vogelseelen wird ein Schwert gehen.«

»Aber, Papa, warum tust du es denn«, sagte Frieda fast ein wenig weinerlich, »warum verkaufst du denn unser liebes Haus?«

Hühnchen versuchte etwas wie einen erhabenen Ernst in seine Züge zu legen, was ihm nur mäßig gelang, und antwortete: »Erstens, weil ich, wie gesagt, nicht reich genug bin, um auf Gold wandeln zu dürfen; zweitens, weil ich ein schwacher Mensch bin und auf die Dauer den Verlockungen des Mammons nicht zu widerstehen vermag; drittens, weil ich Kinder habe, um derentwillen ich dies vorteilhafte Gebot nicht ausschlagen darf; und viertens, weil sie mich sonst einbauen werden. Seht, liebe Kinder, dies gibt den Ausschlag. Nehme ich das Gebot nicht an, dann wird um mich herumgebaut. Ein Jahr lang werde ich leben in einer Atmosphäre von Kalkstaub und Maurerflüchen, und dann werden um mich herum nach Süden, Osten und Westen himmelhohe Wände entstanden sein und nur nach Norden, nach der Straße zu, wird es offen sein. Ich werde dann wohnen auf dem Grund eines feuchten Loches, das weder Licht noch Luft, noch Sonne hat, und wenn meine Bäume und Pflanzen es noch nicht während des Bauens getan haben, so werden sie es jetzt tun, sie werden Feierabend machen und ausgehen. Und ich werde dasitzen wie der berühmte Lohgerber, als ihm die Felle weggeschwommen waren, und werde keinen Mammon haben, aber auch keine Gravensteiner und keine Napoleonsbutterbirnen, und das Hohngelächter des Mannes mit den drei Unterkinnen und dem Erbbegräbnis für Austern und Fasanen wird schallen vom Aufgang bis zum Niedergang. – Ja, Kinder«, fügte er dann ganz bedrückt hinzu, »es ist mir manchmal, als sei ich gar nicht der Alte mehr. Die Sorgen des beginnenden Wohlstandes lasten auf mir und meine stille Sympathie für Johann den munteren Seifensieder wächst täglich.«

Am Abend verließen uns meine guten Schwiegereltern, um vergnügt wieder nach Steglitz zu fahren, und am nächsten Tag ward ich wie ein Rad, das man zur Reparatur gegeben hat, wieder in die Maschine der täglichen Arbeit eingefügt und der gewohnte tägliche Kreislauf begann aufs neue. Aber als ich jetzt zum erstenmal heimging, kam ich in mein eigenes Nest, und das war wunderbar behaglich. Frieda wehte zart mit einem kleinen weißen Tüchlein, als sie mich um die Ecke kommen sah, und gestand mir nachher, sie hätte schon seit einer Stunde am Erkerfenster gestanden und auf mich gewartet. Zu Mittag gab es Koteletts. Ich habe mir sagen lassen, daß es in jedem jungen Ehestand der zivilisierten Welt zum ersten Mittagessen Koteletts gibt. Sie waren ein wenig angebrannt und an der Suppe war das Salz vergessen, trotzdem fand ich alles herrlich. Nach Tisch, als Lotte das Geschirr abnahm, bemerkte ich ein starkes Mitteilungsbedürfnis an ihr und die Neigung, einem Landsmann gegenüber sich auszusprechen. Ich entfesselte deshalb den Strom ihrer Rede, der nun eine Weile unaufhaltsam floß, während meine Augen mit seltsamem Bann immer wieder zu dem kleinen Leberflecken auf ihrer Nase gezogen wurden: »Ich kann das hier noch gar nich an werden«, sagte sie, »das is hier all so anders. Un denn, daß sie hier alle hochdeutsch sprechen, die Straßenjungs un die Arbeitsleut' un die Leut' in'n Keller, das is mich szu schnurrig. Ich fang' noch immer auf platt mit sie an un denn verstehn sie mir nich un lachen sich. Un die Leut' mit ihr Hoch versteh' ich auch nich ümmer. Denn hier haben sie ümmer für allens ganz andre dwatsche Nams. Szu grüne Erbsen sagen sie Schoten un szu gelbe Wurzeln Mohrrüben, un Senf heißt hier Mostrich, un Zwiebeln da sagen sie Bollen szu. Un denn mit das Geld. Das is ja nu sonst grad wie bei uns, aber fünf Fennig das is hier'n Sechser un fünfunzwanzig Fennig da sagen sie zwee Jute szu un szu fufzig Fennig vier Jute. Da soll nu einer aus klug werden. Un so kommt ümmerszu was Neus, ich glaub', ich werd' das hier gar nich an.« Und sie schüttelte melancholisch den Kopf.

Es erschien mir angemessen, diesen niedergedrückten Geist wieder ein wenig aufzurichten, und so sagte ich denn: »Aber, Lotte, das kommt Ihnen nur zuerst so vor. So 'n kluges Mädchen wie Sie, die lernt das in acht Tagen.«

Lotte war so geschmeichelt, daß sie fast die Teller hätte fallen lassen, aber einstweilen rutschten nur die Messer und Gabeln zu Boden, und als sie sich danach gebückt hatte und sich wieder erhob, da war sie hochrot im Gesicht, strahlte wie ein blankgeputzter Kupferkessel und lächelte sehr.

»Na, ich will mal sehn«, sagte sie. »Wenn ich mir Müh' geb'.«


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