Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen
Heinrich Seidel

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Nachher kam die Gesellschaft aus dem Walde zurück und es ging wieder laut und lärmend her, die Herren tranken Weißbier mit Luft und die Damen mit Himbeer; es wurde gekegelt, geschaukelt und mit Ringen nach dem Ziel geworfen und was solcher Vergnügungen mehr sind. Bei der Nachhausefahrt gelang es mir, den Platz neben ihr zu erhalten, worüber ich sehr glücklich war und mir wünschte, daß die Fahrt recht lange dauern möge. Es war schon dunkel, und da es ein wenig regnete, hatte der Kutscher auch die Außenleder heruntergelassen, so daß es niemand sah, daß ich ihre kleine arbeitsharte Hand in der meinen hielt. Darüber war sie gar nicht böse, nur einmal sagte sie leise: ›Lassen Sie nur die Handschuhe nicht fallen.‹ Denn diese hielt sie in derselben Hand. Nachher hatten wir noch einen weiten Weg, und da wir in derselben Gegend wohnten, brachte ich sie nach Hause. Ich begreife noch heute nicht, woher ich die Kühnheit nahm, aber es war so einsam auf der Straße und vor ihrer Haustür lag so ein tiefer Schatten, und es kam so ganz von selbst, daß wir uns beim Abschied küßten. Nachher konnte ich vor Glück lange nicht einschlafen.

Seit diesem Tage betrachteten wir uns als miteinander verlobt, obwohl es noch niemand wissen durfte, da an eine Heirat noch lange nicht zu denken war. Denn ich hatte damals nur zwanzig Taler monatlich. Aber wir waren beide noch sehr jung und konnten warten. Es war das Beispiel Jakobs, was mich veranlaßte, mir gleich sieben Jahre vorzunehmen. So lange hatte dieser gedient um Rahel und dann noch nicht einmal die Rechte bekommen. So war ich denn fleißig und sparte, soviel es bei dem knappen Gehalt möglich war. Doch dieses stieg allmählich und ich konnte bald mehr zurücklegen. Nach sieben Jahren hatte ich eine Einnahme von fünfhundert Talern jährlich und über tausend hatte ich zurückgelegt. Wie das möglich war bei der knappen Einnahme, werden Sie kaum begreifen, aber ich brachte es fertig, indem ich jede unnütze Ausgabe vermied. Nun dachte ich, dürfte ich es wagen, denn ich konnte nötigenfalls sogar auf eine Aussteuer verzichten. Ich war jetzt neunundzwanzig Jahre alt und meine Braut vierundzwanzig, das war ein gutes Alter zum Heiraten. Wir trafen uns jeden Sonnabend, wenn der Vater regelmäßig seinen Kegelklub besuchte und nicht vor elf Uhr nach Hause kam. Wir gingen dann spazieren, in der guten Jahreszeit vor dem Schönhauser Tor, wo die Windmühlen stehen und noch Kornfelder sind, im Winter aber in der Stadt und unterhielten uns von der Zukunft. Als ich ihr nun bei solcher Gelegenheit sagte, daß ich nächstens kommen und mit ihrem Vater sprechen wolle, da erschrak sie doch sehr. ›Wenn es nur gut abläuft‹, meinte sie, ›er hat solchen Stolz als Hausbesitzer‹. Das war nun eigentlich gar nicht nötig, denn er gehörte damals noch zu der Sorte, denen jede leerstehende Wohnung schlaflose Nächte macht und die von dem geringen Überschuß, der ihnen nach Auszahlung der Hypothekenzinsen bleibt, sich mühsam durchbringen. Er hatte einen einträglichen kleinen Grünkramhandel betrieben und machte es wie viele in Berlin. Als er ebensoviel erworben hatte, daß er die notwendige Anzahlung leisten konnte, kaufte er ein Haus und setzte sich damit zur Ruhe, ging in einem blau flanellenen Schlafrock, einer gestickten Hausmütze und auf Filzparisern mit einer langen Pfeife herum und dachte Tag und Nacht darüber nach, wie er seine Mieten höherschrauben könne.

Ich faßte aber dennoch Mut, ging mit großem Herzklopfen zu ihm und trug ihm mein Anliegen vor, was mir nicht leicht wurde, denn er betrachtete mich die ganze Zeit über mit schrecklichen Blicken und wurde immer röter vor Wut und paffte fürchterlich aus seiner langen Pfeife. Dann brach er los und gab es mir: Wenn er seine Töchter jemandem geben wolle, dann wäre die Aussteuer seine Sache. Mit meinen sechs Dreiern die einzige Tochter von einem Hausbesitzer zu angeln, das könnte mir wohl passen. Was ich denn weiter wäre als so 'n studierter Schlossergesell, der sich Wunder was einbilde, wenn er sich Ingenieur schimpfen ließe. Und brauchte viele harte Worte, worauf ich nicht antworten konnte, wodurch seine Wut noch immer größer wurde. Vielleicht, wenn ich ihm in derselben Weise hätte antworten können, wäre die Sache noch zurechtgekommen, da mir das aber versagt ist, so redete er sich schließlich so in Zorn, daß er mich sozusagen hinauswarf. Das gute Mädchen hatte im Nebenzimmer alles gehört; sie drückte mir auf dem Korridor im Vorübergehen schnell die Hand und sagte: ›Ich warte, ich warte auf dich und wenn es zwanzig Jahre dauert.‹

Den Mut, noch einmal um sie anzuhalten, habe ich seitdem nicht wieder gefunden und wir warten noch immer. Am Sonnabend werden es nun fünfundzwanzig Jahre, seit wir uns an der alten Fischerhütte getroffen haben. Wir kommen noch immer jeden Sonnabend zusammen und gehen miteinander die alten Wege. Zu sagen haben wir uns nicht viel mehr, aber wir freuen uns doch, daß wir beieinander sind. Da mein Gehalt in dieser Zeit immer ein wenig stieg, so habe ich mir jetzt über zehntausend Taler erspart und die Aussteuer steht fix und fertig da, so daß wir jeden Augenblick heiraten könnten.«

Der alte Gram schwieg, rührte wieder in seinem Glas und trank den Rest des kalt gewordenen Grogs aus. Der Regen prickelte einförmig auf dem Fensterblech, es war ganz dunkel geworden und nur die kleine Spiritusflamme unter dem leise singenden Kessel verbreitete einen matten Schein.

Ich dachte ihn zu ermutigen, wenn ich sagte: »Aber lieber Herr Gram, jetzt steht denn doch die Sache ganz anders. Sie haben ein sehr nettes kleines Vermögen und wenn Sie jetzt kommen würden... Ihre Braut ist doch auch schon ziemlich alt – zweiundvierzig Jahre – da wird es doch am Ende hohe Zeit, wenn...«

Obwohl ich es wegen der Dunkelheit nicht sehen konnte, so fühlte ich doch sozusagen das unbeschreibliche Grinsen, das ihm um die Lippen spielte.

»O ne, ne, ne!« sagte er, während er die Hand abwehrend in der Nähe seines Ohres schwenkte, »O ne, ne, ne! Bei dem Alten haben sich die Zeiten auch verändert. Sein Haus ist mächtig im Preise gestiegen, er hat es mit großem Vorteil verkauft und hat nun ein neues, sehr schönes Haus in guter Gegend und ist ein gemachter Mann mit 'ner dicken, goldenen Uhrkette und trinkt jeden Mittag seine Flasche Rotspon. Wir sind noch ebensoweit auseinander wie früher. Ne, ne, ne, wir warten, wir sind daran gewöhnt. Der Alte kann ja auch nicht ewig... doch sowas soll man ja nicht einmal denken.«

 

Diese bemerkenswerten Geständnisse machte mir der alte Gram gerade um die Zeit, als ich meinen alten Freund Leberecht Hühnchen, der damals ebenfalls in der Gartenstraße wohnte, zum erstenmal wieder aufgesucht hatte. Als ich am folgenden Tage zufällig mit ihm zusammentraf, konnte ich nicht umhin, ihm die Geschichte dieser fünfundzwanzigjährigen Verlobung zu erzählen, da ich wußte, daß sie seiner Teilnahme gewiß sei.

»Die armen einsamen Menschen«, sagte er, »sie haben alles in sich verschlossen und niemanden gefunden, der sich ihrer angenommen hätte. Solche Menschen müssen einen Freund haben, der für sie handelt. Ich will nicht Hühnchen heißen, wenn dieser Freund nicht jetzt gefunden ist. Aber was nun zunächst zu geschehen hat, das ist dir hoffentlich ebenso klar als mir, Teuerster! Was?« Dabei sah er mich an und leuchtete mit den Augen, wie nur er es konnte.

Da ich nicht ahnte, welchen kühnen Sprung sein findiger Geist wieder gemacht hatte und wo er hinaus wollte, so sagte ich gar nichts und blickte ihn nur verwundert an.

»Du weißt, was auf der Hülse meines Bürobleistiftes eingegraben ist«, sagte er dann, »mein Wahlspruch: ›Man muß die Feste feiern, wie sie fallen!‹ Denkst du denn, ich werde mir die Feier einer silbernen Verlobung entgehen lassen? Ein Fest von ganz unbeschreiblicher Seltenheit, gegen das eine diamantene Hochzeit einfach verschwindet. Denke nur, welche Treue und Ausdauer dazu gehört – Gummielastikum ist ja gar nichts dagegen. Soll dieser seltene Tag unbeachtet in den Orkus sinken? Nein, das sei ferne von mir.«

»Ja«, sagte ich sehr zweifelhaft, »aber wie und wo? Und wenn der alte Gram und seine Braut nicht wollen?«

»Das Wie laß meine Sorge sein«, rief Leberecht Hühnchen, »und wo? Natürlich bei mir. Mir schwebt schon so was vor wie Engel mit goldenen Flügeln, italienische Nacht und Erdbeerbowle. Großartige Pläne durchkreuzen mein Gehirn. Und wenn sie nicht wollen, da müssen sie breitgeschlagen werden. Du mußt dem alten Gram mit Sirenengesang so lange in den Ohren liegen, bis er mürbe ist. Denke doch nur, wie günstig die Sache liegt. Der bemerkenswerte Tag fällt gerade auf einen Sonnabend, wo das väterliche Ungetüm dem Gambrinus und dem Gott des Spieles (wie heißt er doch eigentlich?) opfert. Sollen die beide guten Leute an diesem seltenen Festtag etwa wieder vor dem Schönhauser Tore zwischen prosaischen Kornfeldern und herzlosen Windmühlen herumspazieren? Nein, sie sollen diesen Abend verbringen unter freundlicher Teilnahme mitfühlender Seelen, sie sollen an diesem Abend wissen, daß sie nicht allein sind, und daß die innigsten Wünsche ihrer neuen Freunde gerichtet sind auf eine nahe Erfüllung ihres späten Glücks. Siehst du, so denk' ich mir das.«

Obwohl ich sehr wohl die Schwierigkeit erkannte, den alten Einsiedler zu diesem Besuch bei völlig unbekannten Leuten zu bewegen, so wußte ich doch, daß Hühnchen, wie man in Süddeutschland sagt, mich nicht auslassen würde, und machte mich, allerdings mit wenig Hoffnung, an die Arbeit. Ich fing die Sache mit der möglichsten Vorsicht an und umkroch das feste Lager seiner Vorurteile mit diplomatischer Schlauheit, wie ein Indianer auf dem Kriegspfade. Als ich ihn so weit hatte, daß er in der Theorie zugab, eine Feier dieser fünfundzwanzigjährigen Verlobung in befreundetem Kreise würde keine üble Sache sein, da änderte ich meine Taktik, als er meinte, dieser befreundete Kreis fehle leider, denn seine Braut und ich seien die einzigen Menschen, die nicht über ihn lachten. Da begann ich listig das Lob meines Freundes Hühnchen zu singen, von dem ich ihm schon vorher manches erzählt hatte. Ich schilderte ihm den Abend in Hannover, wo wir auf dem gebirgigen Sofa Tee tranken und uns für dreißig Pfennig einen vergnügten Abend machten, und weckte mit der Darstellung dieser freudigen Genügsamkeit einen Widerhall in seiner eigenen, bedürfnislosen Seele. Ich sprach von dem menschenfreundlichen Sinn der Familie Hühnchen und von dem ständigen Sonnenschein, der in ihr herrschte, ich schlug die Harfe zu ihrem Ruhm, so gut ich konnte, und schließlich rückte ich mit meinen Vorschlag heraus. Da fing aber der alte Gram an, sich mächtig zu wehren. Drei Tage lang kämpften wir miteinander und wohl hundertmal hörte ich in dieser Zeit sein abwehrendes: »O ne, ne, ne!«

Schließlich mußte ich doch Hühnchen zur Hilfe rufen. Wir spannen ein Komplott. Der alte Gram wurde von mir auf das berühmte Stiefelknechtbeefsteak eingeladen, und als wir gerade im besten Schmausen waren, kam Hühnchen »ganz zufällig« drüber zu und war sehr erfreut, die werte Bekanntschaft zu machen. Ihm persönlich widerstand der alte Einsiedler keine Viertelstunde lang, vor diesem Sonnenschein schmolzen seine Bedenken wie Butter dahin, und nach kurzer Zeit erklärte er sich unter einem Grinsen, um das ihn der alte Luzifer selber hätte beneiden können, zu allem bereit.

 

Ich war der erste, der am Abend des fünfzehnten Juli, etwas vor der festgesetzten Zeit, acht Uhr, in Hühnchens Wohnung eintraf. Ich fand ihn allein, eifrig beschäftigt mit der Herstellung von Erdbeerbowle in einem mächtigen Glaspokal, der mir sonderbar bekannt vorkam, obwohl ich wußte, daß er als Bowlengefäß mir bis dahin noch nicht begegnet war. Er war hergestellt aus rot überfangenem Kristallglas. Nach einem bestimmten Muster waren in diesen roten Überzug Kreise eingeschliffen, die in dem darunterliegenden durchsichtigen Glas konkave Vertiefungen bildeten und alles, was sich ringsum befand, unzähligemal in komischer Verkleinerung widerspiegelten. »Setze dich, Teuerster!« sagte Hühnchen, »du mußt einstweilen mit mir allein vorlieb nehmen. Frau Lore ist in ihrem Atelier und dichtet Butterbrote. Keine derben Berlinischen Schinkenstullen, wofür Mutter Gräbert im Vorstädtischen Theater berühmt ist, nein, zarte mecklenburgische Laubblätter, mit viel drauf und von einer Abwechslung, die nicht ohne Studium erreicht worden ist. Zwölf verschiedene Arten hat sie herausgebracht. Die Kinder sind aus geheimnisvollen Gründen überhaupt nicht sichtbar.«

Ich grübelte immer noch über den sonderbaren Glaspokal nach – das Ding kannte ich doch. Mit einemmal wurde ich auf ein Plätschern aufmerksam, das aus einer dunklen Ecke tönte. Ich trat näher und fand dort eine Waschschüssel, in der zwei Goldfische schwammen, und in demselben Augenblick brach ich in ein schallendes Gelächter aus. Hühnchen erkannte sofort den Grund und machte eines von seinen allerpfiffigsten Gesichtern. »Allzeit erfindungsreich zu sein«, sagte er, »ist die Haupteigenschaft eines guten Ingenieurs. Ein solch opulentes Gerät wie eine Bowle befindet sich nicht bei unserer einfachen Aussteuer. Jedoch besitzen wir dies köstliche Goldfischglas – die gute Tante Julchen vermachte es uns, es dient unseren Goldfischen zur pomphaften Wohnung. Ich denke, die bescheidenen und einfachen Tiere treten es uns für diesen feierlichen Zweck gerne ab. Sie sind zwar stumm, aber könnten sie sprechen, so würden sie, denke ich, sagen: O bitte, Herr Hühnchen, es soll uns eine Ehre und ein Vergnügen sein.«


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