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XV.
Die Großmutter

Kraforst III ging von der Oberstadt, in welcher ein kleines Gartenhaus ihm ein Dach und ein Versteck gab, gemächlich nach dem Werk.

Es war einer jener sonderbaren Wintertage, in welchen jede Stunde gleich scheint, in denen man nie weiß, ob es morgens, mittags oder abends ist, so daß die Seele immer gleich und leise geschwungen tönt.

Es schneite. Schneite immer gleichmäßig, und das Licht kam gleichmäßig von allen Seiten.

Dieser Winter hatte schon ein paarmal Schnee geworfen, aber nur den Teufelsschnee, der einem glitzernd in die Hand fällt und dann flüssiger Dreck wird.

Aber dies war ein echter Wotansschnee, dem ein knallender Frost Stärke und Ausdauer dahinter stochte.

Zuerst hatte der Schnee sich über den Staub und Ruß hergemacht, sich 24 Stunden mit ihm in der Luft herumgeschlagen und ihn dann endlich dahin geboxt, wo er hergekommen war und wo er hin gehörte – auf die Erde; der Schnee hatte 24 Stunden die Luft gesiebt und gesiebt, Milliarden Flöckchen hatten sich an Milliarden Stäubchen geheftet, sie eingekapselt wie die weißen Blutkörperchen einen eingedrungenen Bazillus, und sich dann einfach mit ihnen auf die Erde fallen lassen – mochten sie da unten beide zugrunde gehen, ihren Wolkenhimmel sollten die Erdentrüblinge nicht antasten. Nach einer 24stündigen Schlacht war der Himmel befreit und rein.

Dann hatten die himmlischen Heerscharen sich unterfangen, die Erde zu erobern; die ersten Billionen Kämpfer waren noch in dem Dreck verschwunden, aber als der Frost zunahm, hatten sie festen Fuß gefaßt, Millimeter nach Millimeter sich aufgebaut wie weiße Korallen. Erst war der Schneepanzer einen Zoll stark, am andern Tag einen halben Schuh hoch, jetzt wuchs er zu einem Fuß in nochmals 24 Stunden, die Löcher in den Straßen waren eingeebnet, die Gossen abgeglättet, Fahrdämme und Bürgersteige glatt gestrichen; kam ein Wagen oder eine Straßenbahn durch, fielen Kohlenbrocken heraus oder ein Mülleimer um – wie die Heuschrecken stürzten die Flocken drüber her, schäumten alles ein und putzten blank. Der Himmel hatte die Erde erobert.

Nur der Oberbürgermeister kämpfte noch vom Rathause aus und schickte Kolonnen los mit Schaufelwagen; die weißen Eindringlinge kapselten sie ein und setzten sie matt; er erließ telephonisch Befehl, und Plakate wurden angeschlagen: »Die Bürger werden aufgefordert usw.« Die Stürmer pinselten alle Plakate weiß über und jagten die Dienstboten mit erfrorenen Fingern von den Bürgersteigen in die Häuser. Die Metallstadt hatte auch kapituliert und sich in die weiße Besatzung geschickt. Sie war ruhig, ganz ruhig, die Menschen gingen gedämpft, die Wagen klingelten, aber rollten fast lautlos. Sie war ohne Lärm, und friedvoll.

Nur die Häuser standen noch aufrecht, aber sie hatten sich anzupassen: die Kanten und Ecken wurden von den Schneewächten abgerundet, die Erker bekamen sanfte Linien, und den Bogenfenstern und Bogentoren wurden Schneelasten aufgepackt, bald weniger, bald an den Wetterseiten mehr, so daß die Wächten zuweilen abfielen und die Bogen unregelmäßige Formen erhielten; Veranden, Utluchten, kühne Gesimse, Amoretten aus Stuck und Steinfiguren waren ganz zugeschüttet – die ganze verrückte Architektur der Häuser war einheitlich befriedet und ausgeglichen. Himmel, Erde und Häuser waren eine stille Harmonie.

Zum ersten Male in Jahren war die Metallstadt eine schöne Einheit, sie lag da still und ganz ergeben. Zum ersten Male war Friede in ihr und über sie.

Und die Menschen in ihr waren still und zufrieden, wenigstens die, welche so einfältigen und eindeutigen Sinnes waren wie Kraforst III. Nach Jahren der Stürme war er heute ruhig.

Die Sonne war irgendwo im Norden, Süden oder Osten, niemand wußte, wo sie eigentlich saß, sie gab nur mittelbares Licht mit Hilfe des beleuchteten Schnees.

Er ging an eines der verschneiten Tore seines Werkes, das Tor hatte wohl Augen, es klappte mechanisch auf, und er trat ein.

Das Werk rasselte und dröhnte inwendig in seinen Bauten, Walzenstraßen, Galerien, Werkstätten, die Arbeit hatte sich in ihre innersten Behausungen verkrochen, da schuftete sie vulkanisch weiter, wie Hammerriesen in ihren Erdhöhlen.

Kraforst ging an der Seite des Werkes entlang bis zu dem Hügel, auf dem das Haus der Großmutter stand.

Das Haus stand auch da wie ein Zuckerbäcker-Prachtstück, weiß eingekleidet, die Fenster und Türen zu einem Drittel von allen Seiten zugedeckt, und lange Eiszapfen hingen vom Dach und allen Ecken herunter.

Doch als er die Türe losdrückte, wehte um ihn gleich das warme Leben – es schien ihm, als strahle es aus von der Großmutter, welche auf der Diele stand und ihn mit den tief eingegrabenen, aber feurigen stahlblauen Augen ansah: »Ich dachte schon, du würdest heute nicht zum Kaffee kommen und gleich wieder ins Büro gehen!«

»Keine Sorgen« – er küßte der Großmutter die Hand – »der Kaffee ist nirgends so billig und so gut.«

Sie gingen herauf in den Wachtturm, wie Kraforst III das Wohnzimmer seit den Kindertagen getauft hatte. Der Tisch war fertig, und das Fernrohr lag immer noch neben der Tasse der Hausfrau.

»Ein schöner Winter.«

»Ja tatsächlich, Großmutter, ein Winter von der guten alten Art.«

»Danke schön. Der ganze Transport auf dem Werk geht faul, und seit heute morgen stockt er sozusagen ganz.«

»Her mit dem Trank.«

»Bist du nicht erfroren?«

»Nein, ich nicht, aber meine Mitbewohner. Einmal im Jahr muß es so kalt sein, daß einem die Mitesser in der Haut erfrieren wie die Engerlinge in der Erde.«

»Mir ist noch mehr erfroren als das«, sagte die alte Frau bekümmert.

»Aber dein Herz schlägt noch«, tröstete der Enkel und streckte die Beine aus. »Sieh mal, wir waren in einem nicht mehr modernen Schiff mitten im Sturm, Windstärke 12, da sind die Masten abgeschlagen, aber das Schiff schwimmt. Sei zufrieden, in hundert und in tausend Industrien ist die ganze Mannschaft mit erschlagen oder über Bord gespült.«

»Aber der Kapitän ist erschlagen. Ich will es tragen. Warum mußte dein Vater das erleben, ehe er starb? He, hast du auch darauf eine Antwort?«

»Ja, der Vater mußte. Er mußte es erleben, weil er während seines ganzen Lebens gegen die Flut segelte.«

»Was soll das heißen, Junge?«

»Das soll heißen, er segelte mit der Bark Arbeit gegen das Kapital. Sei zufrieden, daß die Arbeit noch arbeitet. Höre doch!«

Die beiden schwiegen eine lange Minute. Das ganze Riesenwerk mit seinen 16 000 Arbeitern war in vollem Tageskampf, durch die geschlossenen Fenster drängten sich Signale und Pfiffe, welche auf einem gleichmäßigen Brausen schwammen, wie Blitzkrachen über einem zu einem Akkord zusammenschlagenden Waldbrüllen. In regelmäßigen Abständen schütterte ein Stoß das Familienhaus. Die Großmutter horchte, als wenn sie Stimmen hörte und sie deuten mußte.

Die Großmutter (etwas froher): »Ja, das Werk arbeitet (niedergeschlagen), aber für wen? – Für das Kapital.«

Der Enkel: »Richtig, aber noch sitzt unsre Arbeit an dem Kapital und in dem Kapital.«

Die Großmutter: »Beides ist nicht mehr eins.«

Der Enkel: »Nicht mehr oder noch nicht. Die alte persönliche Industrie ist im Zerfall, es geht dem Untergang entgegen. Sie wird angegriffen von unten durch die Arbeiter und von oben durch das Kapital. Gegen beide, die unbewußt zusammenarbeiten, ist die Industrie zu schwach, sie muß sich einem von beiden in die Arme werfen.«

Die Großmutter: »Da war dein Großvater doch ein anderer Kerl, er fing mit nichts an, setzte sich durch.«

Der Enkel: »Damals war der Feind noch nicht im Lande – das mobile Kapital war schwach und schloß sich als Diener an; heute ist es ein gewaltiger selbstherrlicher Götze.«

Die Großmutter: »Ja, ein Götze. Und sieh mal, was der Götze uns für ein Gebetbuch beschert hat.«

Die alte Frau ging zu einem stählernen Wandschrank, schloß ihn auf, nahm eine große Tasche heraus und warf sie auf den Tisch: »Das ist das neue Gebetbuch, in dem Zehntausende täglich beten: Papier, Papierlappen, 50 000 Aktien liegen da – das ist unser Werk; das nennt man Industrie. (Sie hielt ihm das Paket hin.) Halt da mal das Ohr dran! Hörst du nichts? Das sind Maschinen, Häuser. Hörst du nicht die Drehbänke? Hörst du nicht das Walzwerk – haha – dieser Lappen ist ein Preßwerk!«

Der Enkel: »Da hast du sehr schön und richtig gehört, Großmutter. Da liegt die große Erfindung des Kapitals. Mit diesen Papierchen zerbläst das Kapital die Industrie in Atome, zerstäubt sie in die Luft. Eine Erfindung würdig des Mephisto oder des Ewigen Juden. Die Aktie verwandelte die grundfeste Industrie in mobiles Kapital. Jeder Mensch kann jetzt mit 1000 Mark ein Quentchen von einem Industriellen werden. Das sollte die große Demokratisierung der Neuzeit sein. Der Philosoph Aristoteles aber sagte, eine Nußschale ist kein Schiff, und ich sage: ein Aktionär ist kein Industrieller. Er ist nichts mehr als ein Spekulant, ein Hoffender, ein Jäger nach dem Glück des Reichtums, ein halsbrecherischer Wetter, der nichts mehr liest als den Börsenbericht, um zu sehen, ob er ein Los gezogen hat. Anders hat er nichts zu tun, er hat nichts zu denken, nichts von der Industrie zu wissen, nichts zu sorgen für Werk und Arbeiter und vor allem er hat nichts, gar nichts zu sagen und zu melden; zu befehlen haben nur die Banken, welche auf dem freien Kapital sitzen mit ihren Hintersassen, den spekulierenden Aktionären das Werk beherrschen, aber es beherrschen, nicht um das Werk hochzubringen, sondern es auszupressen und rechtzeitig ihre papiernen Rechte an andre, dümmere abzustoßen. So ist aus dieser Demokratie die Aristokratie oder Kakokratie, jedenfalls Oligarchie geworden. Am Ende dieser Volkswirtschaft stehen zehn Großbankiers.«

Die Stimme des Enkels war lauter und grober geworden als sonst.

Die Großmutter: »Dann solltest du eigentlich ein Bankier geworden sein, aber du bist ein Schriftgelehrter oder ein Philosoph.«

Der Enkel stand auf: »Dann müßte ich unsichtbar geworden sein, aber das liegt den Kraforst nicht. Wir sind zu leibhaftig.« Er konnte wieder lachen.

Die Großmutter: »Der Neveling ist auch nicht unsichtbar, aber er hat doch Kraft. Überall fühlt man ihn, überall stößt man auf ihn.«

Der Enkel: »Neveling war klug genug, nicht gegen den Strom zu schwimmen, wie der Vater, er schwamm mit ihm. Er war von Geburt technischer Industrieller und bemächtigte sich des Aktiengedankens. Er verbrüderte sich zuerst mit den Großbanken, die er mitverdienen ließ, und er stürzte ganz unbekümmert sich so in Schulden, daß sie ihn so wenig fallen lassen konnten, wie die Leipziger Bank die faule Trebertrocknung, trotzdem sie sah, daß sie ein Schwindel war. Und dann begann er ebenso unbekümmert und folgerichtig seinen Trick zu einem riesigen Gespinst auszufeilen, das allen wie ein großartiges System erscheint: Mit Büdingen, das er mit eigenem und befreundeten Kapital hält, schuf er durch Pump Rhein-Lothringen, Rhein-Lothringen schuf die Seegesellschaft; diese schluckte den Kalikonzern und der die Zellulosefabriken; die zogen Wälder an sich und alle zusammen die österreichische Montan-Gesellschaft und so immer weiter. Ein Krokodil frißt ein zweites, das schluckt einen Haifisch, der Hai einen Wal, der Wal verleibt sich einen Hecht ein, der Hecht eine Forelle, die Forelle eine andere, die kleine Forelle den Weißfisch und so fort; wenn man die Forelle haben will, so muß man den Hecht packen, packt man den Hecht, stößt man auf den Wal – und kommt man an das Ende, d. h. an das Krokodil, so sitzt Er, der Neveling selber mit seinen Handelsgesellschaften und Banken und weiß fremde Fischer und Jäger wegzujagen.«

Die Großmutter: »Das ist zwar eine ganz neue Art der Industrie, aber es scheint mir, sie führt rascher zum Ziel.

Der Enkel: »Das ist nichts Neues. Strausberg hat vor 40 Jahren genau dasselbe gemacht. Beobachte: der Neveling gründet keine Werke, er kauft sie, allerdings weiß er sie auszubauen, denn er hat das Ingenieurblut der Vorfahren in sich – in Nordamerika laufen Nevelings genug herum. Neveling hat uns amerikanisiert, oder er ist dabei, uns zu amerikanisieren. Das ist sein ganzer Ruhm.«

Die Großmutter (düster): »Dann seh ich den Tag kommen, wo der Hecht oder das kleine Krokodil unser Werk fressen.«

Der Enkel: »Mag sein. Aber ich hoffe, es kommt der Tag, wo sie es wieder herausbrechen.«

Die Großmutter: »Den letzten Tag erlebe ich nicht mehr. Möchte ich drum den ersten auch nicht erleben.«

Der Enkel: »Siehst du, das ist der Gewinn, den wir aus der Gründung gerettet haben: Vorläufig frißt uns der Hai nicht. Ich drohte Grilecher, mit unserem Kapital herauszugehen und ein neues Werk zu gründen; der Vater war für solche Pressungen zu anständig. Ich setzte mich auf den Stuhl des Generaldirektors. Du mußt noch lange leben, Großmutter; ich hoffe, daß die Zeit kommt, die Eindringlinge herauszuwerfen.«

Die Großmutter: »Ich verstehe die Männer nicht. Wir Frauen lieben nur die Kinder, die wir ausgetragen und selbst geboren haben.«

Der Enkel (lachend): »Großmutter, dann ist dein Enkel – ein Weib.«

Die Großmutter: »Aber alle Männer sollten das Krokodil hassen.

Der Enkel: »Das tun sie auch. Aber sie fürchten es und gehen dem Biest aus dem Wege.«

Die Großmutter: »Sie hoffen noch, es stirbt am Platzen des Bauches.«

Der Enkel: »Ja. Zwei Fehler liegen in der Rechnung Nevelings. Der Handel frißt die Produktion, aber die Banken fressen schließlich auch den Handel. Daher bemächtigt sich Neveling auch schon einiger Banken – aber er kann nicht alle Banken schlucken –. Läßt man ihm Zeit, daß seine Banken stark genug werden, so ist er unbesieglich. Aber es ist abzuwarten, ob nicht vorher ein Tag kommt, wo die Banken ihn noch besiegen. Die zweite Gefahrquelle liegt darin, daß einmal in der Kette der sich überschluckenden Betriebe etwas reißt; dann purzelt alles haltlos auseinander.«

Die Großmutter (wütend): »Wäre ich ein Mann, ich machte mich daran, irgendwo durch den Panzer zu beißen.«

Der Enkel: »Das ist nicht meine Sache. Ich bin durch mein Blut verdammt, Schaffer und Schöpfer zu sein.«

Die Großmutter: »Du siehst mir ähnlich, das sagen alle. Aber wenn ich dich so fabulieren höre, so höre ich deine Mutter. Du bist kein Kraforst und kein Steinkamp. Bei uns hat keiner fabuliert. Meine Eltern haben geschuftet, und dein Großvater und Vater haben geschuftet. Ein Kaufmann soll nicht nachdenken, sondern Geld verdienen.

Der Enkel stand auf und ging laut für sich sprechend herum: »Seht euch diesen Neveling an: tiefe, dunkle Augen, pechschwarze Haare. Die Schwarzen sind Herrscher, aber keine Schöpfer. So der Hannibal. So der Napoleon. Sie wollen nicht die Sache, nicht das Ding an sich. Sie wollen sich. Sich selbst. Aber mit dem Sich räumt der Tod auf. Und mit dem Sich zerfällt ihr Werk.«

Kraforst sah erregt auf die Stadt.

Die Großmutter: »Setz dich hin und trinke deine Tasse aus. Mir wird Angst, wenn ich dich so reden höre. Alle Familien, in denen man anfängt Bücher zu schreiben, sind bald am Ende. Die Leute können nichts mehr. Sie können nicht mal mehr Kinder kriegen. Dein Großvater hätte am liebsten zehn Kinder gehabt. Du sollst nicht von Napoleon reden – du sollst ein Napoleon sein, mein Junge.«

Die Großmutter stand auf, ging zu ihrem Ebenbild am Fenster und legte den Arm um ihn.

Beide sahen auf das Werk und die Stadt.

Dieses Riesengebilde lag da ganz in einer selten gesehenen glitzernden ruhigen Pracht.

Es klopfte wie ein Puls im Menschen, der anzeigt, daß alles atmet und lebt, aber es war doch Friedvolles über alles gestrichen.

Mensch und Natur waren nicht mehr zwei wütende Kräfte gegeneinander.

Die Metallstadt war zum ersten Male in die Natur gekuschelt und mit ihr eins.

Die Metallstadt war an diesem sinkenden Nachmittage – ein Märchen.

»Ist denn das möglich,« sagte der Enkel mehr zu sich, »kein Dreck? Kein Trug und kein Spuk? Ist das die Metallstadt, versöhnt mit dem All?«

Der Enkel zeigte auf das schier unglaubhafte Märchen: »Im tiefsten Grunde«, sagte er traurig, »ist das alles das schreckliche Schicksal der Stadt – aller Städte.«

Die Großmutter sah ihn fast ängstlich an.

Der Enkel: »Sieh mal Großmutter, die Bauern da hinten, ihr Bauern, ihr lebt nebeneinander und miteinander. Jeder ist ebenbürtig. Ein Rittergut von 3000 Morgen kann nicht mehr leisten, wie 30 Bauern zu je 100 Morgen, eher noch weniger. Die Stadt ist verflucht, gegeneinander zu leben. Der Fabrikant ist in der Ausdehnung unbeschränkt. Eine Fabrik kann alle andern übertreffen, überflügeln, ersticken. Ein Werk kann alles Eisen, allen Stahl, alles Blech schaffen, das man braucht, eine Spinnerei kann so lang werden, daß sie alle Garne herauswirft. Ein Laden kann hundert ersetzen, ein Warenhaus kann alle Ladenbesitzer der Stadt bankerott machen. Daher die ewige Angst vor Überflügelung, hat einer nur zwei Meter Vorsprung, macht er alle Wettbewerber tot. Freut sich hier jemand drei Jahre hindurch seines behaglichen Lebens, und sein Genosse arbeitet, so ist der erstere überholt und nochmals drei Jahre später zermalmt. Der Drang weiterzukommen und die Angst, unterdrückt zu werden, reißt alle her und hin, so lange sie atmen. Noch drohender steht der Handel da: ein einziger Händler kann Stahl hereinschleppen, daß 200 000 Arbeiter brotlos werden, ein Händler mit hundert Schreibern kann soviel Getreide heranschaffen, daß Millionen Bauern verderben und auswandern müssen. Ein Volk, das zu einer Handelsstadt wird, muß untergehen.«

Die Großmutter klopfte ihm statt der Antwort besänftigend auf den Nacken, aber der Enkel wartete auf keine Antwort und brach leidenschaftlich aus:

»Wir Industriellen werden alle lange und bittere Jahre hindurch gepeitscht von der Sorge um Unterdrückung und zerquetscht zwischen dem Arbeiter und dem freien Kapital. Der Arbeiter in seiner Beschränktheit sieht nur höchstens bis zu dem Industriellen, den glaubt er als seinen Feind, der sein Freund ist. Das ist die letzte Absicht dieses Marx, den selbständigen Bürger zwischen diesen zwei Türen zu zerquetschen.«

Die Großmutter: »Und das Werkzeug dieses Juden, die Gewerkschaften! Diese blöden Schufte haben uns niedergestreikt und deinen Vater in Krankheit und Tod getrieben.«

Der Enkel: »Ich habe die Gewerkschaften beobachtet. Sie sind wertvoll als Organisation der Atome, in ihnen fühlt sich die Masse als Mensch, als Mitglieder der Gesellschaft, der einzelne ist in der Stadt verloren, verlassener wie ein Tier im Walde, aber sie sind sinnlos, sie sind falsch, böswillig, verkehrt regiert. Ihr Stoß ist falsch.«

Die Großmutter (sieht ihn verdüstert an): »Ich verstehe manches nicht, aber ich fühle, du sagst da Wahres. Ich sehe klar, daß unsere Familie und unser Werk einmal zugrunde gehen. Ich gehe kummervoll, aber gerne meinem Mann und meinem Sohne nach.«

Der Enkel sah, wie ihre stahlblauen und stahlharten Augen weich wurden.

Er wandte sich zu ihr und drückte sie an sich:

»Sei sicher, Großmutter,« sagte er einfach, »daß ich kämpfen werde mit Ausdauer und Klugheit – soweit ich« (er lachte wieder) »beides nach deiner Ansicht noch habe.«

Die Großmutter drückte ihm beide Hände: »Kämpfe, mein Junge und siege – wenn nicht du – dann dein Enkel. – Denn ich will auch dir ein Geheimnis sagen, das ich gefunden habe in achtzig Jahren: es geht den Sippen so wie den Menschen: wer die meisten Kinder hat und wer am längsten lebt, der siegt.«

Der Enkel küßte der Großmutter beide Wangen und dann die Hand.

Kraforst III ging die Treppe hinunter in die winterliche, herrliche Einheit der Natur zu seiner Arbeit.

Es schneite noch immer, unaufhörlich.

 


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